Habt ihr schon einmal von der Magie der Rauhnächte gehört? Die Nächte zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag am 6. Januar, zwölf an der Zahl, bezeichnet man als Rauhnächte. Um sie ranken sich viele Bräuche, Rituale und mystische Voraussagungen. Wahrscheinlich gehen sie auf den germanischen Mondkalender zurück, der ein Jahr mit 354 Tagen angibt. Nach unserem Sonnenkalender hat ein Jahr aber 365 Tage – die zwölf fehlenden Nächte existieren nach dem Mondkalender also gar nicht. Und gelten vielleicht auch deshalb als besonders magisch? Heute nutzen viele diese Nächte, um in sich zu kehren, das alte Jahr loszulassen und Wünsche für das neue Jahr festzuhalten. Was sind eure Wünsche für 2024?
Wann „darf“ man sich überhaupt etwas wünschen? Weihnachten steht vor der Tür und wer Weihnachten feiert, hat bestimmt den ein oder anderen (materiellen) Wunsch. Auch zum neuen Jahr wünschen wir uns oft etwas, meist etwas nicht konkret Greifbares, zum Beispiel endlich wieder mehr Frieden auf der Welt oder sich zu verlieben oder vielleicht auch bessere Noten in der Schule zu haben. Nicht nur zu diesen besonderen Anlässen befassen wir uns verstärkt mit unseren Wünschen, auch im Alltag gibt es viele Situationen, in denen es heißt: Du darfst dir was wünschen! Zum Beispiel, wenn wir eine Sternschnuppe sehen, eine Pusteblume finden oder zwischen zwei Leuten mit gleichem Namen sitzen. Jede*r von uns, jede Familie, jedes Land hat ganz eigene Bräuche, Überzeugungen und Rituale rund um das Wünschen. Diesen Monat möchten wir euch einen vermeintlichen Wunscherfüller zeigen, den ihr vielleicht noch nicht kennt: ein Daruma. Wie erfüllt diese traditionelle japanische Puppe der Erzählung nach Wünsche? Wenn man ein Daruma neu kauft, sind seine Augen leer und weiß. Man denkt an einen Wunsch und malt dann ein Auge aus. Ab jetzt „arbeitet“ die Puppe an der Erfüllung des Wunsches, so der Glaube. Wenn sich der Wunsch erfüllt hat, malt man das zweite Auge aus und gibt der Puppe ihr Augenlicht zurück.
Daruma-Puppen, Foto: iStock, Y. Hirosan
Gerade in so unsicheren Zeiten wie wir sie momentan erleben, werden Wünsche vielleicht noch einmal etwas wichtiger. Sie tragen uns und geben uns Orientierung für die Zukunft, nicht nur am Ende eines abgeschlossenen Jahres. Die Notwendigkeit, sich in unsicheren Zeiten an etwas festzuhalten, bringt auch unser Monatslyriker im Dezember, Lucas Rijneveld, zum Ausdruck. Mit seinem Gedicht „Der Clown, in dem wir aufgewachsen sind“ reagiert er auf das Thema einer ungewissen Zukunft, speziell wenn es um das Erwachsenwerden und die vielen Veränderungen geht, die sich damit ergeben. Was wünscht ihr euch für das nächste Jahr, was für eure ganz persönliche Zukunft?
Zum Jahreswechsel bitten wir euch: Schreibt uns euer Wunschgedicht! Was wünscht ihr euch für das neue Jahr und für eure Zukunft? Was wünscht ihr euren Freund*innen, eurer Familie, den Menschen auf dieser Welt? Welche ganz persönlichen Rituale verbindet ihr mit dem Wünschen? Wie geht es euch, wenn ein Herzenswunsch zunächst nicht erfüllt wird oder erfüllt werden kann? Was gibt euch Hoffnung für das neue Jahr oder die Zukunft, dass dieser Wunsch trotzdem noch wahr werden wird? Wir freuen uns sehr auf eure Gedichte zum Thema „wir wispern den Schreck zurück“! Und was wir uns für euch wünschen: eine wundervolle Winter- und Weihnachtszeit und ein frohes neues Jahr!
Der Clown, in dem wir aufgewachsen sind
Lucas Rijneveld
Wir sagen, Reue sei eine Schicht Margarine auf unserem Butterbrot von jetzt an bleibt alles an uns haften, wir wispern den Schreck zurück in sein Körbchen, brav sind die Dinge, die ohne uns keine Identität mehr haben. Zum Beispiel der Stuhl, der ohne Gast ein Stück Holz ist, die Lehne wie Vaters schweigsamer Rücken, dieser Rücken ist, ohne dass Vater es weiß und das Umdrehen vergisst bloß eine Mauer, der Hund ein bisschen Fell, im Verfall verbirgt sich die Autarkie. Wir haben Angst, weil der Clown, in dem wir aufgewachsen sind so langsam bei den Achseln zwickt, die Fröhlichkeit herausgelacht, jetzt wo fieberhaft am Puppenhaus herumgebastelt wird. Was nicht mehr zu kitten ist, parken wir in einem Schuhkarton, bis wir den Schuhkarton wieder für Schuhe brauchen und anderes nicht zu kittendes Zeug: selbst Scherben verlieren mit der Zeit ihre Zerbrechlichkeit. Wir haben schon seit Jahren kein Publikum mehr, sind aber immer noch blass, Bretter in unsere Schädel gezimmert und Vater – bei dem der Applaus fest eingebaut ist wie eine scheppernde Katzenklappe – fragt, wer mit den Cornflakes gekleckert hat. Er sagt, die meisten Mäuse, die in die Falle gehen, würden sich Genick oder Rücken brechen und wenn wir träumen hören wir die kleinen Scharniere quietschen, das Zuschnappen desBügels, wer hier hineintappt, hat kein Haus mehr aufzugeben. Am Abend schneiden wir alten Käse in Würfel, so groß wie unser Selbstbild, legen sie mit der Pinzette auf das Holzbrett, die Bühne desTodes, und fragen uns, die Bettdecke bis ans Kinn hochgezogen: wie soll man einen Engel darstellen, wenn es dauernd bewölkt ist?
Lucas Rijneveld wurde 1991 in Nordbrabant geboren und gilt als wichtige junge literarische Stimme aus den Niederlanden. Im Jahr 2015 veröffentlichte er den preisgekrönten Lyrikband Kalbskummer, 2019 folgte Phantomstute. Für seinen Debütroman Was man sät erhielt Rijneveld 2020 den International Booker Prize, sein zweiter Roman Mein kleines Prachttier stand monatelang auf der Bestsellerliste. Rijneveld lebt in Utrecht.