meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen
Die Jury hat entschieden!
Die Gewinner*innen werden bald bekannt gegeben.
Die Jury hat entschieden!
Wettbewerb im April 2020
Im April nimmt uns die Autorin Caren Jeß mit auf eine Wanderung: Turnschuhe „schmatzen im Matsch“, die Sonne war „wie ein Corega Tab im Himmel“, „längst kreisten Puddingteilchen“ um den Kopf – alles ganz normal, doch dann: die Mutter verschwindet in einem Moorloch, “jetzt spielt sie / mit den Schlammmonstern / Memory“. Das Alltägliche kippt ins Fantastische, familiäre Spannungen gipfeln im Grotesken. Tragisch? Komisch? Beides? – lasst euch inspirieren!
Moor
meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen
es hatte sich vor ihr
aufgetan
schwarz schlammig und modrig wie Jauche
der Himmel war grau braun
und karg lag das Land
gebrochene Äste
vereinzelt
knacksten unter den Nikes
können dann auch weg
dachte ich
und hörte sie schmatzen
im Matsch
meine Mutter schritt
wie ein abgeklungenes Gewitter
die Pfade entlang
wir sprachen nichts
atmeten ruhig
durch den Januar
schau mal!, ein Tier
rief ich
und mein Finger
vollzog
einen Phrasenbogen
die Sonne lag
wie ein Corega® Tab im Himmel
ihr Licht wühlte sich fad
durch massiges Grau
und der Mutter
rann
eine Träne
die Wange
herab
doch
ich hatte nur
die Frau mit dem rosa
Brillengestell im Kopf
wir gingen seit Stunden
und länger
längst kreisten mir
Puddingteilchen
um den Kopf
hast du geweint?
nein, es nieselt
ach so
aber trotzdem hier
stimmt doch was nicht
eine Krähe schrie
krah
fuck
das war das Moorloch
und Mutter war weg
Meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen
jetzt spielt sie
mit den Schlammmonstern
Memory
In fast minimalistischen Versen verwebt Caren Jeß Bilder und Gedanken zu einer Alltagsgeschichte, die ein obskures Szenario rahmt. Eigenwillige, kunstvolle Rhythmen vermitteln die Bewegung des Gehens, erzeugen Spannung und Emotionen.
Schweigen und ausweichende Antworten machen die bedrückende Stimmung spürbar, die sich ins Unheilvolle steigert:
Die Mutter verschwindet in einem Moorloch, wo sie „mit den Schlammmonstern Memory“ spielt. Das Abgründige der zwischenmenschlichen Beziehung wandelt sich in den buchstäblichen Abgrund, der sich im Moor auftut. Der Rückgriff aufs Groteske eröffnet einen Raum für das Unsagbare im Alltäglichen.
Die allegorische Anverwandlung der Natur als Ausdruck menschlicher Emotionen hat eine lange Tradition in der Kunst, wie sich auch an unserem diesmonatigen Ausstellungsstück zeigt: Der mythologischen Figur der Daphne, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt – weiter unten findet ihr mehr dazu!
Grotesk, humorvoll, tragisch – wir sind gespannt, zu welchen sprachlichen Metamorphosen euch familiäre Wanderungen, Schlammmonster und mythische Nymphen verleiten. Wir freuen uns auf eure Texte!
Video-Tutorial: Schreibimpulse von und mit Caren Jeß
Caren Jeß, *1985 in Eckernförde, schreibt Dramatik, Prosa, Lyrik und Drehbuch. Mit ihrem Theaterstück „Bookpink“ gewann sie 2018 die Residency des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik, es folgten Einladungen zum Heidelberger Stückemarkt (2019) und zu den Mülheimer Theatertagen (2020). „Der Popper“ wurde mit dem Else-Lasker-Schüler Stückepreis 2020 ausgezeichnet. Für ihre „Ballade von Schloss Blutenburg“ erhielt sie den Publikumspreis des 26. open mike – Wettbewerb für junge Literatur. In Berliner Justizvollzugsanstalten leitete Jeß Schreibworkshops.
Unser Kooperationspartner im April: Das Hygiene-Museum in Dresden
Passend zu unserem Monatsgedicht dient ein Kunstwerk aus der Ausstellung „Von Menschen und Pflanzen. Ein Streifzug über den grünen Planeten“ aus dem Deutschen Hygiene Museum in Dresden: Die Bildhauerin Renée Sintenis (1888-1965) fängt in ihrer Bronzeskulptur Große Daphne, 1930, den Moment der Metamorphose der Nymphe in eine Pflanze ein. Der griechischen Mythologie des Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) zufolge verwandelt der Flussgott Peneios seine Tochter Daphne zum Schutz vor dem liebestollen Apollo in einen Lorbeerbaum. Sintenis zeigt den Moment des Übergangs von Mensch zu Pflanze, von Haut zu Blatt, von Bewegung zu Verwurzelung.
Ausstellungsansicht
Renée Sintenis, Große Daphne,
1930 Bronze, gegossen
Museum Ludwig, Köln
Deutsches Hygiene-Museum Dresden
Im Deutschen Hygiene-Museum öffnet sich die Welt des Menschen, seines Körpers und seiner Kultur. Die Dauerausstellung
„Abenteuer Mensch“ zeigt faszinierende Objekte wie die berühmte Gläserne Frau und lüftet die Geheimnisse des Lebens interaktiv: z.B. auf einer Balancierstrecke oder beim Gehirn-Duell „Mindball“. Unter der Devise „Staunen – Lernen – Ausprobieren“ beschäftigt sich die Ausstellung mit Schönheit, Sexualität, Ernährung, Bewegung oder dem Denkvermögen. Eine Mitmach-Ausstellung nur für die Jüngsten bietet das Dresdner Kinder-Museum „Welt der Sinne“: In Spiegelkabinett, Tasttunnel oder an einem Streichelautomaten können Kinder von 5 bis 12 Jahren ihre Sinnesorgane von Kopf bis Fuß auf die Probe stellen!
Europaweite Beachtung finden die Sonderausstellungen des Museums: Sie beschäftigen sich mit einem breiten Spektrum von aktuellen und historischen Fragestellungen – von Glück und Leidenschaft über Sex, Tod, Sport und Tanz bis hin zu Klima, Sprache oder Scham. Mit ihren kuratorischen Konzepten und neuartigen Szenografien stoßen sie auf Resonanz nicht nur beim allgemeinen Publikum, sondern auch in der Museums- und Medienszene.
Aktuell zu sehen: Future Food. Essen für die Welt von morgen (bis Februar 2021)