Jeder hat sie, jeder kennt welche. Manchmal sind sie nur winzig klein, manchmal so groß, dass sie Leben schützen oder gefährden können. Geheimnisse! Wofür sind Geheimnisse gut? Und wo sind sie vollkommen fehl am Platz?
„Ich nuckel immer noch an meinem Daumen, bin 12.”, „Ich habe Angst, dass mich keiner akzeptiert, wie ich in Wirklichkeit bin”, „Ich bin in den Ex meiner besten Freundin verliebt”. Das alles sind Geheimnisse von jungen Menschen. Mila Fitze und Evangeline Flubacher haben sie anonym für ein Abschlussprojekt ihrer Schule in Basel gesammelt. Mit den geteilten Geheimnissen möchten sie zeigen, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist. Auch sehr tiefgreifende und existenzielle Geheimnisse sind auf ihrer Website secretsbasel.ch nachzulesen. Vielleicht hilft es manch einem*einer Betroffenen zu lesen, dass auch andere dieselben Gedanken haben, wie er*sie selbst. Würdet ihr eure Geheimnisse anonym weitergeben? Oder teilt ihr sie lieber mit einem*einer Freund*in oder Vertrauensperson? Gibt es Dinge, die alle endlich mal ent-tabuisieren sollten?
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Neben den Geheimnissen im Privaten gibt es auch Geheimnisse, an denen das Wohlbefinden großer Menschengruppen hängen kann. Den Stempel „Geheim” tragen zig Regierungspapiere. Nur ein ganz kleiner Personenkreis darf von ihrem Inhalt wissen, um die äußere Sicherheit eines Landes nicht zu gefährden. Manchmal sind an solchen Geheimnissen jedoch nicht nur hochrangige Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und weitere Entscheider*innen beteiligt, sondern auch vermeintlich unbeteiligte, unbekannte Personen, die an der Umsetzung oder Geheimhaltung eines solchen Projekts und manchmal gar historischen Ereignisses beteiligt sind. Einer solchen Person widmet sich der Lyriker und Verleger Tillmann Severin in einem Gedicht, das wir euch diesen Monat vorstellen. Er schreibt einen poetischen Fragebrief „an einen der erbauer der dreistufigen interkontinentalrakete 8к713, die auch гр1 genannt wird”. Diese Art Rakete wurde von der Sowjetunion im Kalten Krieg als Attrappe gebaut und öffentlichkeitswirksam als Abschreckung in einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau präsentiert. Die ausführenden Arbeiter*innen, die zum Beispiel Metall genietet oder Stücke zugesägt haben, befanden sich ebenso wie die Ingenieure und hochrangigen Mitglieder des Militärs in der absurden Situation eines doppelten Geheimnisses: Dass sie am Bau einer Rakete arbeiteten – und dass es gar keine Rakete war.
Schreibt uns im Oktober Gedichte über Geheimnisse! Kleine und große, private und öffentliche, lustige und traurige, gehütete und endlich gestandene. Was passiert, wenn ein Geheimnis verraten wird? Und woraus sollte endlich kein Geheimnis mehr gemacht werden? Wir sind gespannt, welche Gedichte ihr uns rund um das Thema „Geheimnisse“ schickt!
an einen der erbauer der dreistufigen interkontinentalrakete 8к713, die auch гр1 genannt wird
Tillmann Severin
hast du erzählt dass du bonbons verpackst auf der arbeit? deinen freund*innen oder großeltern nd dabei geschmunzelt dass sie wussten trugst eines der tausendundeinen staatsgeheimnisse zusammen mit ingenieuren putzkräften lastkraftwagenfahrern offizieren und ministern
trugst kein blech am revers schwärmtest zwinkernd von raschelndem cellophan von stanniol von alu während deine liebsten sich den falschen teil dachten du stolz sein konntest
musstest noch nicht einmal lügen um zu lügen es war schließlich kein geheimnis dass du an einer rakete arbeitest sondern dass du an keiner arbeitest hast du in einer blauen nacht zum großen bären aufgesehen, gesagt du seist »raketeningenieur« ohne anführungszeichen
hast geblinzelt als du 1965 im fernsehen die bilder deiner rakete sahst auf dem roten platz
musstest du dich beherrschen die fassade aufrecht erhalten?
warst du dabei als dein staat die rakete eine dekade später verschrotten ließ
oder warst du froh dass sie nie auffliegen würde nach gefakter aufrüstung die gefakte abrüstung
aus: Tillmann Severin, museum der aussterbenden mittelschicht, Verlagshaus Berlin, 2022
Weiterführende Informationen
Tillmann Severin, Foto: Natalia Reich
Tillmann Severin, lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte Komparatistik an der LMU München und in St. Petersburg sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Severin schreibt Lyrik und Prosa und übersetzt Lyrik aus dem Russischen. Er veröffentlichte in Zeitschriften, Anthologien und Künstlerbüchern. Zuletzt erschienen im Verlagshaus Berlin „museum der aussterbenden mittelschicht“ und, in Zusammenarbeit mit Lea Schneider, das E-Book „O0“. Er wurde zuletzt u. a. ausgezeichnet mit dem VG-Wort Neustart Kultur-Stipendium für die Arbeit an „museum der aussterbenden mittelschicht“ und mit dem Bode-Stipendium für Übersetzungen von Gedichten von Galina Rymbu.
Videos zum Monatsthema
Lesung Monatsgedicht und Schreibimpulse von und mit Tillmann Sevierin