Unsere Gewinner*innen im Juli 2024
Wettbewerb im Juli 2024
Du Bist Messbar
Julian Fibig
2004
hol dein fernglas raus
und dreh es um
dass alles klein wird
der himmel ist blau von oben bis unten
wie Heidelbeeren
mach deine lupe bereit
und führ sie heran
dass alles unscharf wird
der käfer drunter hat nur vier beine
wie Autos nicht wie das Insekt
nimm das sieb in die hand
und sieb die kleinen von großen steinen
dass einige nur köcherfliegenlarven sind
macht Nichts
schalt das licht an
und durchleuchte die welt
dass lebig und unlebig sichtbar wird
man sieht die schwarze wand auf schwarzem grund
wie den Wald vor lauter Bäumen
nutz den kopf in deiner magengrube
dein gefühl denkt was keine augen sehn
dass alles im tiefen bach (ver-)schwimmt
selbst das sichere Wissen
anders als ??? (denk nach)
stell dich auf die waage
auf dem mond bist du leichter
dass es nur auf die richtige frage ankommt
dann kann man auf alles antworten
denn du bist messbar
wie das Alter der Welt
Homo Sapiens: ungelöste Fragen
Viktoria Ganahl
2006
Wie sollen wir nur jemals Homo Sapiens sein
Ohne zu wissen
Ob der Mohn röter als die Rosen ist
Und an welchem Tag die Sonne schöner scheint
Welche Rose die süßesten Früchte trägt
Und wie lange ein Bäumchen sich biegt, bevor es bricht
Ob ein Vogel im Käfig gleich schön singen kann, wie einer draußen
Ob besser Krokus oder Herbstzeitlose
Welches die schönsten Farben sind
Und wie ein Lied zu klingen hat
Ob die Rosen schärfer stechen, als der Mohn uns betört
Wie man Nasen richtig klassifiziert
Wie man die Süße der Äpfel vermisst
Mit welcher Minute der Abend beginnt
Wie sollen wir nur jemals glücklich sein, wenn wir es wissen
Sonntagsgaben
Anita Henkel
2006
Rot ist, wie ohne Meldung aufzurufen
Blau, wie schlafen mit der Decke überm Kopf
Gelb ist Kuchenkrümel eines anderen zu essen
Grün ist, wie ohne Scheitern aufzugeben
Und Lila ist, wie Kinderlieder auf der Fahrt
Braun ist, wie ohne Stiefel nass zu werden
Orange ist das, was niemand mag
Weiß ist, wie ohne Grund was Böses ahnen
Grau, wie leben mit Routinejob
Schwarz ist Urteilfällen, ohne drüber nachzudenken
Doch bunt wird es, wenn wir uns Farben schenken
Schwarz ist auch, wie ohne Sturm zur Ruhe finden
Grau, wie Ökoblätter ohne Text
Weiß ist Vogelfüttern ohne Nachbars Katz zu kränken
Braun ist, wie ohne Kummer Wurzeln schlagen
Und Lila ist wie frischgespitzte Stiftesets
Grün ist, wie ohne Strafen Beeren naschen
Orange ist das, was nicht verletzt
Gelb ist, wie ohne Hoffnung Licht zu finden
Blau, wie die Krankenakten im Kamin
Rot ist Herbstanfang und Sonntagsgabe
Ein Jeder sieht die Welt in seiner Lieblingsfarbe
Der Pfirsichbaum
Yasmin Hisir
2006
Mein dede hat einen Garten
in der Mitte steht ein Pfirsichbaum
eine Frau stiehlt die Früchte
sie lacht immer
außer auf Fotos
ihre Zunge hat sie
in den Bergen gelassen
wo Dinge geschahen
davon spricht man nicht
sagt meine Mutter
das ist haram
sagt meine Mutter
sürtük
sagt die alte Frau
die uns das erzählt
sie zieht das Kopftuch enger
die Kinder gab man ins Heim
zwei Söhne
mittwochs ist da Waschtag
eine große Maschine
ein Kind fällt da leicht hinein
sie hat es reingeschmissen
sagt die alte Frau
die uns das erzählt
sie zieht das Kopftuch enger
hirsiz
sagt mein Amja
er deutet auf den Pfirsichbaum
sie kommt durch die Tür
wenn sie angelehnt ist
die Pfirsiche wickelt sie in ihre Schürze
mit dem Blumenmuster
ich denke an das andere Haus
in dem anderen Land
wo keine Pfirsichbäume sind
und keine alten Frauen
die ihre Zunge
in den Bergen gelassen haben.
das ist der Rahmen:
Charlotte Obenaus
2005
Tracy Chapmans Stimme und wie altes Holz riecht,
nachts, wenn du deine Stirn gegen den Türrahmen lehnst,
schwarze Löcher, Risse im Gewebe, kleine Hemdtaschen,
wenn du die Sorgen ordentlich faltest, passen sie alle hinein.
das forgive me aus Sekunde 45 hat sich in deinen Kopf gebohrt
wie der Splitter in deine linke Hand, damals, als du stundenlang
auf der Schwelle standst und den Türknauf nicht loslassen konntest,
kennst du deinen Körper noch ohne?
wenn du die Augen zusammenkneifst,
sind Holzringe und CD-Rillen und deine Fingerkuppen doch aus derselben Haut.
geh zu den Mooreichen, geh durch den Raum dazwischen,
das ist der Türrahmen ohne Tür, das ist der Rahmen,
aus dem dein Leben fällt, und im Fall bleibt dir nur Schall und Rauch,
das heißt: Tracy Chapmans Stimme und wie altes Holz riecht.
Sternballade
Daniel Zahn
2006
Schweigende Nacht, zimtiger Frieden,
die Brüder betrachten den Himmel verschieden.
Sie liegen im Gras, blicken hinauf,
doch beiden fällt Unterschiedliches auf.
„Die Sterne erklingen mir heute so munter.
Sie duften nach Liedern, sie schmecken noch bunter
als jedes der Bücher, das ich je gelesen,
noch nie sind die Sterne so munter gewesen!“
Der Erste hält inne. Der Zweite denkt nach:
Was meint dieser Irre? Er strebt ganz danach,
zu tun so, als seien die Sterne viel mehr
als winzige Sandkörner unter dem Meer!
„Dass ich nicht lache!“, erwidert er dann,
„Ein Stern, der duften und schmecken kann!
Der Himmel ist schwarz. Die Sterne sind wenig.
Vor allem sind sie weder fröhlich noch selig!“
„Da hast du Recht!“, ruft sein Bruder entgegen,
„Nicht fröhlich, nicht selig, – munter dagegen!
Sie kleben am Himmel wie Zecken am Fell.
Sie strahlen energisch, lebendig und hell.“
Die Brüder verstummen. Laut klingt ihr Schweigen,
als lägen die Bögen bereits auf den Geigen.
Als träfe hier ganz ohne Donner ein Blitz ein.
Kann ein Stern wenig und gleichzeitig viel sein?
„Die Nacht ist pechschwarz! Dunkel und hässlich!
Das Kitzeln des Windes ist einfach entsetzlich!
Die Welt deiner Sterne verbleibt mir geheim.
Hör auf zu dichten. Folge mir heim.“
„Dass ich nicht lache!“, ruft er zurück,
„Ein Wind, der dich kitzelt! Bist du verrückt?
Schwarz wie das Pech, welch schöner Vergleich!
Du dichtest doch selber, du merkst es gleich!“
Der Erste muss schmunzeln. Der Zweite nicht gern.
Der Erste, errötet, sprach weise, mit Kern.
Der kernlose Zweite braust auf, ohne Pause.
Bekanntlich sind Kirschen besser als Brause.