Unsere Gewinner*innen im November 2024

Wettbewerb im November 2024

kleine dinge, die gut in metamorphose sind

Lilli Biller

2005

am waldrand 
unter der einen straßenlaterne 
die die polizei uns erlaubt 
waren scheren und messer verboten 
also habt ihr gebissen, locke für locke 
so lange, bis ihr mit geöffneten mündern vor mir standet 
und ich mit in periodenblut gewaschenen fingern  
meine haare von euren zungen kratzte 

wir reiben unsere köpfe aneinander 
und wenn sich unsere kopfhaut berührt 
könnt ihr meine gedanken lesen 

nicht die: dass ich in sommern davor 
in abgeschnittenen hosen und nicht abgeschnittenen haaren 
immer neben mir stand 
meine brust einatmend 
meine zunge am unteren kiefer verkümmernd 
kleine dinge, die gut in metamorphose sind (zimmerbock, erdfloh, schnellkäfer), anflehend 
mir zu helfen (zu jungen) 
und nur friseur*innen traf, die unterschriften meiner mutter wollten  

aber die: im spiegel mich zu sehen, weil ihr aus mir gemacht habt, was ich nicht konnt 
dass akzeptanz ist, dass du mir so lange bei der verwandlung hilfst, bis ich mich liebe 
und nicht, dass du mich einfach so liebst, wie ich bin 

der wald, in dem ihr meine haare abgebissen habt, wird heute abgeholzt 

hinter hecken 
folgst du einem faden von blau zu rot 
bis zu mir 
du ziehst, es trieft 
dein rücken liegt auf blättern und ästen, als du dir 
meinen blutigen tampon einführst 

später fahre ich mit meinem finger die abdrücke auf deinem rücken nach 
während ich weine vor freude 
über unsere blutsbrüderschaft 
mit der zunge darf ich 
über deine leberflecken lecken 
frage dich, warum ich sie nicht spüren kann 
du verrätst: überall wachsen jetzt gerade 
unterirdisch 
neue wälder 

nicht mal du siehst nackt so aus

Ari Horváth

2007

über das verwirrte blinzeln 

stolperich 
lande auf dem gras-boden 
(frankfurt halt) neben mir 
vier kopflose gänse 
— da seh ich mich — und meine 
schürfwunden knie denken, ich 
bin wieder acht 
ich lache sie aus 
ihr opfer 

die frage ist doch: wenn 
du waksen hörst 
wachsen deine haare dir 
oder waxt du sie? 

 
ich wünsch mich zurück 
in eine zeit, an die ich mich 
kaum erinnern kann 
draußen spielen unter 
halbnackten bäumen und 
kastanien sammeln und 
drauf scheißen, wo du bist, und ob 
da, wo du sitzt, vorher 
ein hund hingepinkelt hat 
aber überall 
augenbrauen 
weil 
danach hast du die anderen kinder 
mit den kastanien abgeworfen 
passiert 

über das stirnrunzeln 

ob ich es mir 
als Jude 
erlauben kann 
nen buzz cut zu tragen 

in dem alter 
will mensch noch er-wachsen werden 
nur der körper 
naja, die haare da 
dafür war ich zu jung 
oder zu alt 
aber mein gesicht ist nicht 
in meinen achseln, ihr [beliebige beleidigung] 

über die flintas im fernseher 

schreie mein ipad an und 
warte, dass es zurück schreit 
sie kämpfen um das recht, hijabs zu tragen und sie 
kämpfen um das recht, es nicht zu tun 
sie kämpfen und flechten sich die zöpfe 
sie trauern und schneiden sie ab 
sie färben sie (weil farbe uns gehört) 
sie rasieren sie ab (weil wir entscheiden können) 
sie lassen sie wa[]en 
sie lächeln in die kamera „entdecke 
seidig-glatte haut“ 

ich runzel zurück 

ob deutsche es sich 
erlauben können? 
ne glatze zu haben 

er will, dass seine 
frau aussieht wie sein 

sechsjähriges kind 
da kommt mir das kotzen 
„sieht halt schöner aus“ 
ich halt ihm meine 
achselmähne entgegen (wenigstens 
ein bisschen könnt ich stutzen) 
„das war doch schon immer so“ 

ja 
wer kennts nicht: 
g*tt schuf mann 
frau 
und rasierer 

Haar-Historie

Sarah Perlov

2008

Es wird heftig spekuliert 
Bevor die erste Strähne das Licht der Welt erblickt 

Drei Zähne maximal 
Bin ein rundes Kind mit Lockenstiel 
Weil Papa mir einen Zopf bindet 

Sie kann schon besser Schreibschrift 
Ihre Haare sind 
 
So wundervoll glatt und ich bin neidisch 

Blonde Strähnen fallen mir über die viel zu kleinen Brüste 
zum Bauchnabel 
Bin die mit den längsten Haaren der Klasse 

Meine Fingernägel tief in den Augen eines Angreifers 
Die Haare abschneiden, wollte er mir 
Schrecke schweißgebadet aus dem Schlaf hoch 

Zu den Haaren auf dem Kopf 
Gesellen sich, wie Ameisen, dunklere, überall 
Ich hasse sie und schneide mir beim Rasieren tief in die Haut 

In meinen langen Haaren 
Verfangen sich größere Hände, als die meinen 
Zehnmal passt die blonde Strähne gewickelt um seinen Finger 

Von einem Tag auf den anderen schneide ich sie ab 
Dreimal passen die Strähnen jetzt um meinen Finger 

richard

Katharina Scheipner

2005

richard. dein lächeln fehlt mir. dein blick. wie ich gefallen daran gefunden habe, wenn du mich angeschaut hast. ich weiß nicht, ob das so war, weil du es warst oder weil es irgendjemand war. richard. war das ein stellvertretermord, wie ich deine augen auf mir mochte. mit dem schmunzeln im blick. mit den blauen fischaugen. mit den geraden zähnen in dem großen mund. richard. immer noch selbstdrehen. ich hab heimlich geübt für dich. willst du sehen, wie glatt meine zigaretten inzwischen sind. ich würde sie für dich basteln wie origami, aber die luft anhalten, wenn du sie rauchst. richard. ich mochte dich. ich mochte sogar deinen namen. warum hältst du meine stille nicht aus. richard. waren es die albträume, die ich habe. lag es an meinen haaren. an dem frizz, den ich nicht loswerde. an der unkontrollierbarkeit. war es der spliss. war es mein hang zum schweigen. meine haarspalterei. mein trotz. waren es die ausgefransten spitzen. immer die schlechten enden. die brüchigen längen. waren die locken dir zu strohig. richard. waren es dir zu viele knoten. war dir das zu wild. zu sehr bellatrix lestrange. zu unbeherrschbar. richard. willst du, dass ich mich schäme? ich tus nicht. richard. denkst du an mich, wenn du berq hörst? sein neues album ist raus. da singt er \“du drehst deine pirouеtten, drehst sie auch ohnе mich weiter/drehst deine zigaretten, drehst sie auch ohne mich weiter/[…]deine welt dreht sich auch ohne mich weiter\“. ich denk da an dich. und wem soll ich das sagen außer dir. 

Das Haar

Gael Suhner

2007

Ein wucherndes Reich, dicht, dunkel und stumm, 
das sich über die Stirn legt, den Geist verbirgt, 
oder ihn freigibt – wie Fäden, von Fesseln befreit, 
die sich ordnen, nur um sich aufs Neue zu lösen. 

Wie trägst du es? Geschoren, gebändigt, gebrochen? 
Was in uns wächst, wilder als ein Ruf nach Freiheit, 
kannst du es zähmen, schneiden, spalten, wie ein Gesetz? 
Doch wer spaltet, der weiß: das Haar kehrt stets zurück. 

Mal ist es Banner, mal ist es Bürde, 
geschlungen wie Ranken, verwoben wie Trauer, 
manch einem leuchtet es im Trotz, 
doch einem anderen wächst es wie ein Gefängnis. 

Und die Welt sieht dich an, das Haar wird zum Spiegel, 
des Selbst und des Fremden, du selbst bist es kaum, 
doch im Spiegel dehnt es sich, wie ungesagte Worte, 
und zeigt ein Gesicht, das sich keinem Willen beugt. 

Die Klinge mag schneiden, doch Wurzeln bleiben, 
so wächst es von Neuem, als Zeichen der Macht 
oder der Ohnmacht, des Stolzes, der Qual – 
und wo das Haar endet, beginnt eine neue Gestalt. 

Ein Netz aus Strähnen, das uns hält und bindet, 
dicht gewebt wie die Ranken der alten Wälder, 
doch biegsam und weich, ein Widerspruch selbst, 
die Freiheit am Kopf, und die Fesseln im Herzen 

cheveux

Fanny Marek Walger

2005

 

ich lasse meine haare wachsen 
und mutter schneidet spitzen 
(das muss man, sagt s.) 
mit der silbernen schere, hängt bis 
heute an der wand (bloß eine schere, 
bloß so zart wie mutters stimme); 
singt chansons wie jemand, 
der um mein erinnern weiß, tombe la neige, 
blonde locke, tu ne viendras pas. 

ich lasse meine haare wachsen 
und mutter traut sich nicht heran, 
du hast immer geweint, kind, 
wenn man sie dir schneiden sollte, 
hast gesagt, es tut so weh. 
ich schenke oma eine schere zum 
geburtstag, sie ist grau; oma schneidet 
meine haare, schneidet ihre trauer rein. 

du weinst immer, mutter, 
wenn du mir die haare schneiden sollst, 
sagst, es tut so weh. und brennnesseln 
wachsen über die schaukel, auf der 
oma und du mich anschubstet. 
wachsen wie wut über scham über wut 
wachsen kann; und ich schneide meine haare 
auf dem parkplatz. jemand hat eine küchenschere 
mitgebracht, braune locke, mon désespoir. 
auf laub fällt haar, das du 
geküsst hast. haar, das tote menschen kennt. 
schweres haar, leichtes haar, gleichgültiges 
haar. stilles haar, rebellisches. 

Schreibe, um zu träumen.