Unsere Gewinner*innen im Oktober 2024

Wettbewerb im Oktober 2024

Freiheit bedeutet gar nicht Sklaverei

N. Beckel

2006

Du hast dir deinen Käfig selbst geschmiedet und den Schlüssel in einer Baumkrone versteckt oder in 
den Jordan geworfen oder wieder eingeschmolzen, wer weiß das schon  
Das Klappern eines Feuerzeugs, aufleuchtende Glut an der Zigarette   
Der Wasserhahn ist zuerst saisonal abgedreht worden, jetzt ist Sommer und du kriegst ihn gar nicht mehr auf   
Wenn du kratzt, wenn du stichst, direkt über der Pulsader, dann kommt da kein Blut  
Die Arme, die Beine, vermutlich auch dein Herz — ausgetrocknet   
Und es gibt niemanden außer dir selbst, der die Schuld daran trägt   
Grenzen über Grenzen   
Mauern, ewig lang, unüberwindbar   
Die letzte Brücke einstürzend —  
Die Vergangenheit ist dir zu einem Totem geworden, der Altar die Sicherheit, auf dem du dich so fundamental geopfert hast   
Die Raben haben dir zugeschaut, traurig, betroffen    
Es ist so viel Zeit vergangen, der Metallgeruch aus der Luft verschwunden    
Wieder ein Klappern, die zweite Zigarette   
Du hast sie verloren, deine Flügel , 
und sogar Berlin hat seine Tore für dich geschlossen 

Die Wahrheit ist   
Du hast aufgegeben nach dem Schlüssel zu suchen   
Denn du willst ihn nicht finden, nicht mehr   
Die Welt da draußen ist zu gefährlich geworden, sogar Kant hat das schon gesagt   
Deswegen schaust du lieber zu aus deinem Käfig, mit sicheren Gitterstäben um dich herum und sicherem Beton  
Hast den Glauben an die Freiheit aufgegeben, als wäre er ein lästiger Gott, dessen Abbild du überdrüssig geworden bist  
Als Atheist ist das einfach, aber in deiner Seele wohnten einst kleine, blaue Vögel  
›in libera sitis‹ und deine Augen weiten sich vor lauter Angst  

Vielleicht hast du Recht   
Dein Amen ist in dem Kult vielleicht besser aufgehoben   

viel schwerer als viel-leicht

Anna Sophie Born

2004

vielleicht bekommen sie einmal die märkte zu sehen 
vielleicht angstfreie händlergesichter 
granatäpfelstapel ohne bombenalarm 
i‚m scared, anna, really scared 
immer wieder bombenalarm 
immergleiche fragen 
how is the current situation 
are you safe 
vielleicht sehen sie das meer wann sie wollen 
vielleicht können sie immer draußen sein 
someone from my neighbourhood died 
not even twenty 
they couldn‚t find him til yesterday 
vielleicht muss man nie ihre körper suchen 
my friends are fighting and i‚m just so sad 
vielleicht sagen sie nie stilles europa 
weil auch ihre straßen still sein werden 
how are my children supposed to grow up 
vielleicht können sie durch die straßen laufen 
als könnten sie ewig durch tel avivs straßen gehen  
don‚t look too much 
there are some scary videos I don‚t want you to see 
vielleicht werden sie eine wahl haben wie ich 
today we went picking up strawberries 
i don‚t know why it makes me think of you 
it was so nice i really enjoyed it 
vielleicht entsenden sie grüße von erdbeerfeldern 
vielleicht bekommen sie einmal die märkte zu sehen 
 

20

Carlotta von Falkenhayn

2007

Ich war dreizehn als sie die türen verschlossen 
Und wir gemeinschaftlich einsam in unseren zimmern versanken 
For your own safety: please remain indoors 
Zu ihrer eigenen sicherheit: bitte hören sie auf zu leben 

So wurden die flügel einer gesamten generation gestutzt 
Und wir verlernten nicht nur zu fliegen 
Sondern auch zu gehen 
Sie sagten: 
Manchmal 
Muss man Freiheit für sicherheit einbüßen 
Und übersahen dabei dass Freiheit sicherheit ist 
Sicherheit für den kopf 
Und für die seele 

Einer gesamten generation wurden die flügel gestutzt 
Und ihr blieb nichts anderes als die selbstzerstörung 
Ich habe freunde die in der einsamkeit erstickten 
Und vom leben müde wurden 
Ich habe freunde die sich aushungerten 
Bis man ihre knochen sah 
Ich habe freunde denen panik gemacht wurde 
Bis sie nicht mehr rausgehen wollten 
Und freunde die so lange keine menschen sahen 
Dass sie todesangst vor ihnen bekamen 

Die alten sagen wir sollen uns zusammenreißen 
Unsere jugendjahre genießen 
Aber wir sind alle nur gerupfte hühner 
Die darauf warten dass ihre federn nachwachsen 
Der mensch braucht menschen 
Der mensch brauch möglichkeiten 
Der mensch braucht freiheit 
Ohne freiheit ist er nicht sicher 
Nicht sicher vor sich selbst 

 

Ich war dreizehn als sie die türen verschlossen 
Und wir gemeinschaftlich einsam in unseren zimmern versanken 
Jetzt bin ich siebzehn und die türen stehen wieder offen 
Aber der käfig bleibt 
Wie ein phantomschmerz zurück 
Und keiner fühlt sich mehr sicher 
Vor sich selbst 

 

Im Seichten schwimmen

Moritz Heidobler

2006

H. steht Stunden an der Nummer Sieben  
Taube Beine, tauber Verstand   
Alle Gedanken werden,  
Weder schön noch amüsant, 
Vom Maschinensurren fortgetrieben.

Schwimm in mir, denn ich bin rein  

Der Blick ist starr; die Hand geht:  
Auf,  
Ab,  
Drücken,  
Heben.  

Schwimm in mir, dann wirst du nicht mehr dreckig sein  

In der Pause mit Kollege Nummer Sieben  
Über Fußball und das Wetter sprechen  
Doch mit dem Worte, Kriegsverbrechen, 
Hat er H. schnell fortgetrieben 

Schwimm in mir, denn ich kann die Angst blockieren 

Der Blick ist starr, die Hand geht wieder:  
Auf,  
Ab,  
Drücken,  
Heben.  

Schwimm in mir, dann musst du nicht mehr frieren 

Nach Stunden an der Nummer Sieben  
Fragt sich H. wie jedes Mal,   
Was er bloß hat, getrieben, 
Und wo er war, mental.  

Schwimm in mir, und ich hüll des Weltes Leid  

Eine Zigarette vor Werk Sieben. 
Die Männer neben H., sie klagen. 
 
„Da ist schon wieder einer mit der Machete in der Inn…“  
„Verrückte sind das, und die dürfen nach Deu…“-  
„Unser Land geht vor die Hun…“ 
 
Und weil sie H. dabei Angst einjagen, 
Ist ihm nur noch Flucht geblieben. 

Schwimm in mir, und du wirst von ihrem Blut befreit  

Der Blick liegt müde auf der Straße; die Hand am Radio geht:  
„In diesem Lied behandelt er seine Depress…“ 
Drücken. Weiter. Schaudern.  
 
„Zwölf Bomben zerstörten in diesem Wohnha…“ 
Drücken. Weiter. Schweiß.  
 
„Um eine deutsche Einheit, die rein ist, zu schaff…“ 
Hau auf den Knopf. Stille.  

Schwimm in mir, denn ich bin seicht.  

Endlich in der Hausnummer Sieben  
kann sich H. wieder verstecken. 
Vor den Rechten, Toten und den Terroristen, 
die im Kopf geblieben,  
In warmen Socken, unter dicken Decken.  

Kann tauchen ein, in den Kanal, mit Nummer Sieben  
Im seichten, warmen Wasser sich berieseln lassen; 
Kann seinen Blick, der Welt entziehen.  
Muss sich nicht mit ihrem Leid befassen. 

Schwimm in mir, denn ich bin seicht. 

Der Blick dämmert vergnügt; die Hand liegt auf dem Gewässer. 
„Diese Früchte haben die höchsten ORAC-W…“ 
Schwimm weiter.  
 
„Wenn du auch solche Felg…“ 

Schwimm weiter.  
 
Jay! Manny! I need to buy so…“ 
Heb den Finger, tauch auf.  

Schau zur blutenden Welt,  
Draußen, frei.  
Hör die sanfte Stimme,  
Drinnen, sicher.  

Sie singt. 
Schwimm  
H., schwimm doch weiter. 
 – 
„Sie spielen dir das Lied vom Tod.“ 
 
Bleib 
H., bleib doch hier. 
Halte dich fest,  
An dem Stein.  
 
„Schwimm in mir, denn ich bin seicht. 
 
Sink 
H., sink doch mit ihm.  
Er zieht dich, 
In Sicherheit. 
 
„Ich spiele dir das Lied vom Tod.“ 
 
Ertrink 
H., ertrink in mir.  

 

Ohne Titel

Mattea Kessler

2003

das sprechende als zartes gewebe das sprechende als verwachsung verknotung das sprechende als ausgespucktes liegendes das sprechende ist das zersprochene fordernde das sprechen aus einer schuld heraus das schweigen das spricht das vor uns liegt das musst du in die hände nehmen das sprechen fordert getragen zu werden 

ich sage  
verknotung 
ist verwebung  
ich sage nicht  
verwachsung, wir müssen schneiden 
ich sage  
wir verfolgen den faden 
wir werden verstehen  

ob das körperlose durch einen geliehenen körper berührt werden kann ob es genügt eine form zu benennen ob es dann das aufheben zulässt ob es gelöst werden kann durch bedachte finger entknotet ob der faden verfolgt wird die verknotung verstanden ob die bedachten finger eine schere halten ob sie schneiden ob das entsorgen erlöst. 

der lieblingsort eines achtjährigen mädchens 

Noa Liebscher

2006

wenn die stimmen so laut werden 
dass die grüne wolldecke aus dem wohnzimmer sie nicht mehr stoppen kann 
sie durchdringen durch wand und tür und decke über decke über kissen 
dann ist es die fensterbank in papas zimmer 
wenn die stimmen durchs ohr rein 
in jede ecke des gehirns kriechen 
und der schall (der schall) (der schall) so laut ist 
dass die musik ihn nicht übertönen kann 
dann ist es die fensterbank in papas zimmer  

wenn die stimmen aufhören 
die stille lauter schreit als die menschen davor 
sich frisst in die glieder unter die haut und durch das gewebe 
dass es juckt und die nägel wie wild über die haut fahren 
dann ist es die fensterbank in papas zimmer 

der versuch sich frei zu fühlen 
blick auf den himmel 
die sterne die nicht nicht da sind 
die fensterbank in papas zimmer  
neben den zitronen-setzlingen 
hinter der gardine und 
vor den augen 
ein traum: 
vom steinstrand im norden 
unter der mittags aufgehenden sonne 
kein blick über die schulter 
nur der wind der durch die jacke sticht 
und das wasser das steigt.
die fensterbank in papas zimmer  
kann mein gewicht nicht mehr tragen; 
der traum wurde zur realität 
was bleibt ist die umarmung der wände 
(am ende, was ist schon real?) 

Schreibe, um zu träumen.