Unsere Gewinner*innen im August 2024
Wettbewerb im August 2024
WIE WIR WOLLEN
Jakob Buurman
2004
Weil wir bluten
Wollen wir nicht weniger an unseren Wunden lecken
Wir wollen uns in rote Narben rüsten
Weil wir hungern
Wollen wir nicht weniger unsrem Magenknurren lauschen
Wir wollen Hunger zur Erinnerung machen
Weil wir schuften
Wollen wir nicht weniger Rücken krümmen – im Dunklen
Wir wollen uns trotzig aufrichten – Wir Sonnengeburten
Weil wir stürzen
Wollen wir nicht weniger Blei an uns ketten
Wir wollen Federn an unsere Arme kleben
Weil wir verarmen
Wollen wir nicht weniger Cents umdrehen müssen
Wir wollen Reichtum bestrafen
Weil wir kentern – in einsamen Booten
Wollen wir nicht weniger Yachten entjungfern
Wir wollen einen Hafen bauen
Immer wieder Brennnesseln
Victoria Annabelle Esenwein
2005
I
Heute schon Pflaster aufgeklebt?
Zweifel und Fleisch und pelzige Arme
Immer wieder Brennnesseln
Alles zittert unter ihrer Berührung
Zukunft verneinen am Nachmittag
Du sagst:
Mit jeder Schicht Wandfarbe, die neu aufgetragen, wird der Raum ein bisschen kleiner. Das musst du nicht gut finden, das ist einfach so.
Und so richten wir uns ein!
Ich glaube auch, dass da nichts mehr kommt.
II
Einen Trauerakt sehen, ohne daran teilzuhaben
Körper langsam auf den Boden legen
das X entschlüsseln: endlich!
Ich verkleide meine Schultern
Mit Seilen, die sonst Schiffe ertränken
und klebe vorher alle Sticker auf,
die in Schubladen auf mich gewartet haben.
Locken föhnen bei dir in der Badewanne,
Untertauchen und Atlantis finden, es
gleitet wie Schlaf aus dem Gewissen
mit Angst arbeiten, Beipackzettel lesen:
Nichts ist so kostbar wie Dachbalken
An denen man Seile befestigen kann
Und wonach dürfen wir uns sonst noch sehnen?
Alles und alle fühlen sich jenseitig an
Du hast die Blätter deiner Schultern
mit Seilen umschlungen, die keine Bewegung
deiner schuppigen Flügel zulassen
So vergoren schmecken nur Abschiedsküsse
von Schnäbeln, die nichts mehr zu sagen haben.
III
Irgendwann ist unser Dachboden nur noch ein Ort
Voll Juwelen von Oma und Spielvogelfedern
Und irgendwann sitzen wir am Küchentisch ohne
einen Vorhang, hinter den wir schauen können
sind wir den Göttern egal, es ist
Zeit für das Blut, in meine Finger zurückzukehren
Vielleicht brauchen wir ein Haus ohne Dach
Und einen Dachboden ohne Erinnerungen.
auf dem Forum
Julian Fibig
2004
Marmor ist zu Fleisch geworden / weil der Senat es befiehlt
es liegt kein Zauber über der ewigen Stadt / dafür der Schrei
im Tempel der Herrlichkeit diskutiert man Verdauungsstörungen / denn man wartet auf den nächsten Krieg
während der Verkehr die Straßen verdaut / im Dreck liegt das Vaterland
auf dem Forum wird mit Fleisch gehandelt / Fleisch von Hühnern und Menschen
alles wird immer teurer / und die Jugend ist schlecht, sagt der weise Octavian
Menschen huren, streiten, zechen / der Mensch ist ein Gewohnheitstier
Spiele halten den Atem der Stadt, Brot gibt es nicht / die Regeln des Spiels sind Tradition, es braucht
keine Erklärung
der Straßenhund sehnt sich nach dem Himmel / die Sklavin nach ‚nem fernen Licht
den Soldaten steigt der Wein zu Kopfe / in Schenken wachsen jede Nacht Häuser auf Sand
doch wacht man auf / so ist da der alte Zahnschmerz
ein Tellerwäscher muss Teller Waschen / auch wenn der Sklave frei ist
denn viele Teller gehen zu Bruch / Millionäre sind eine bedrohte Spezies
doch warum bloß sollte man Aufstehen, wenn es nicht anders sein könnte?
kabellos!
Lisa Jandeck
2007
schauen ins nichts:
sprache der unendlichkeit [ ]
wörterbuchanthologie
das flimmern der tastatur.
und die bandage der gemeinsamkeit
wir sprechen wie poröser stein, luftundurchlässig
oder verstaubt
versuchen mit den blicken so wenig zu sagen, wie möglich.
der eiserne vorhang im vorzimmer
hat die decke erklommen und ist ergriffen vom schnee am fenster
// bleibendes orange,
wie bleibende gedanken, die tränen sehen wollen und nicht früher gehen
taghelle nacht hat den schneemenschen täglich mehr geschmolzen
wir haben immer nachgesehen und die weide zer-pflückt
sie hatte ein perfektes leben nicht verdient.
wer hat das schon und was ist das?
stille leere.
als paket verschnürt und lieblich ein-par-fu-miert
der massenproduktion zum trotz in großen mengen abgepackt
liegend unter brennendem baum.
vergilbtes erinnerungsfoto ist instrumentalisiert
im fotoalbum verklebt
wo war das, als der schnee kam?
du drückst die fingerkuppe weg und siehst den-toten-schwarzen-käfer
{ frühlingsvorbote/verbote }
walzer ins ungewisse,
walze der DIN-A4 papiere
und auch DIN-A5, manchmal.
wann wird der käfer zum schmetterling? fragst du dich und siehst die gebrochenen flügel nicht,
willst sie nicht gehört haben
die leisen schmerzen, als sie vor langer zeit brachen
ein rautenmuster ist geblieben. die schneekistenkugel mit glas und so, du-weißt-schon }}
// bleibendes grün,
als das schilfrohr verbrannte und du edel da sahst
und auf die mauer starrtest, die wuchs und wuchs und den käfer begrub –
// bleibendes rot,
wenn du deine hände zerschlissen haben wirst
den dampfend roten fluss geschwommen sein wirst.
wann wird der käfer endlich zum schmetterling? fragst du dich
und du _
K
.
desiderat
Katharina Scheipner
2005
ich will mit dem meer verschmelzen ich will unterwasser atmen ich will ein schweigen dass du erträgst ich will eine schmerztherapie damit meine ich dass wir einander die chronisch gewordenen wunden streicheln ich will meine lungen öffnen um darin staubzuwischen ich will eine harmonie singen zur monotonie ich will eine herzmassage und das meine ich wörtlich und ich will endlich nicht mehr wollen
alles was ich schreibe schreibe ich für dich und seit du weg bist ist dein wasserhahn verkalkt
du fehlst als hätte man einen teil meines lungenflügels abgetrennt und ich leugne nicht mehr dass du das weißt
weil es nicht auszuhalten wäre es nicht zu tun verzehre ich mich nach deinen händen
das wasser steht nachts in den leitungen
wie nur soll ich die lücke füllen
die listen die ich führe zeige ich niemandem
das rohmaterial die ameisen auf meiner haut
und weil ich nicht anders kann und nicht anders will verlasse ich die stadt ich verlasse sie still
ich träume jede nacht von zuhause
ich träume jede nacht von dir
das kann so nicht weitergehen mit dem ewigen wollen, mit dem vermissen und dem wunsch nach
unerreichbarem
z.b. nachts wenn der schlaf nicht kommt
z.b. die hoffnung beim glücksspiel
z.b. der wunsch in den wellen zu verschwinden
einfach um die ablassbriefe zu ertragen
um die leerstellen zu ertragen
um die verblauung auszuhalten
um plagiate zu verhindern sage ich nicht „the enormity of my desire disgusts me“, natürlich denke ich
es trotzdem
natürlich vermisse ich dich natürlich habe ich nie damit aufgehört natürlich ist die matratze durchgelegen nach den jahren des erfolgreichen durchschlafens natürlich kann ich die orte nicht betreten an denen du deine fingerabdrücke hinterlassen hast natürlich hattest du recht, natürlich hätte ich an deiner stelle dasselbe getan
wie geht es dir damit projektionsfläche zu sein?
verzeih mir
longing (ritual über das stille leben)
Fanny Marek Walger
2004
erstens.
als wäre ich alt und holte mich zurück.
zweitens.
komm ins wäldchen. komm in den wald.
du räubertochter; jeder deiner schritte zerbricht
etwas und atmet kaum, du verlorenes
ritual. erstens. zweitens. drittens.
ihr flechtet einander das haar
in den sommer. ich bin die räubertochter,
sagst du, du aber bist ein reh, ein zweig,
eine blaubeere. und ihr küsst einander,
als habe liebe nichts mit euch zu tun.
komm in den totgesagten wald,
komm mit deiner kalten welt und
schäme dich nicht, dass du angst vor der
hoffnung hast. das haben wir alle.
följ mig ut i skogen. und spüre
deine stiefel auf dem boden: irgendwie schön,
wie prosaisch du stehst und alles an ihr barfuß ist.
halsketten und den nebel auf den lippen,
und es gibt noch ein gefühl,
in dem flüche euch umbringen können.
viertens: du senkst deinen kopf. ihr werdet
zarter, spürt worte im mund und wisst,
dass große männer sich vor euch fürchten würden.
fünftens: ihr zählt eure narben und für jede
gebt ihr etwas, das euch einmal wichtig war.
ihr seid liebend. ihr seid wahnsinnig und
auf eurer zunge ist die ganze welt,
i am longing, sagt ihr und betet,
dass ihr länger werdet, lebt.
i am longing. alle laute rollen von den
lippen herab in die flüsse, in die flut. too long,
to long, the longer. longer*in. du räubertochter,
sagst du, und weißt, dass du dich gerade verwünschst,
sehne dich.
ihr wartet gemeinsam den morgen ab
und seid mehr und weniger, als ihr seid.
er gebärt alles, was ihr sehnen werdet:
jemandes arme, völlige einsamkeit.
drittens.
wir nehmen ein reh, einen zweig, eine blaubeere
und um das klettergerüst bauen wir einen wald.
wir berühren unsere grauen haare,
flechten einander zusammen.
ich weiß, dass die worte, die ich sage,
endlich sind, und die gedanken, die ich denke.
ich sage:
ich wollte um den windschatten leben und
so lieben, dass niemand nach mir lieben kann
und ich wollte die welt auf meiner zunge.
ich hätte alles und nichts gefühlt und es wäre
ein teil über unerreichbarkeit, doch stattdessen
will ich hören, wie du neben mir atmest.
du hast den wald in dir. das ist genug.