Unsere Gewinner*innen im September 2023
Wettbewerb im September 2023
zweifelnd, wo start und ziel,
wann start und ziel,
ob jemals start war und ziel sein wird.
und doch so furchtlos und frei für den klitzekleinen moment dazwischen
Im September wollten wir von euch wissen: Habt ihr gerade eine Situation, in der ihr euch „dazwischen“ fühlt? Beschreibt uns, wie dieser Raum aussieht und was das „Dazwischen“ kennzeichnet. Auf herausragende lyrische Weise genähert haben sich dem Thema Anna-Lena Dämpfert, Alicia Eckhardt, Lilly Faber, Merle Hoferichter, Malwine Prophet und Katharina Scheipner. Herzlichen Glückwunsch, ihr wurdet von der Jury ausgewählt und seid die Monatsgewinnerinnen im September 2023!
Wir wünschen allen viel Spaß beim Lesen der Gewinnerinnentexte!
Eine Frau sein
Anna-Lena Dämpfert
2005
Ich weiß nicht, ob ich’s hasse oder liebe eine Frau zu sein – oder irgendwas dazwischen.
Ich liebe es eine Frau zu sein.
Ich liebe es mich morgens fertig zu machen, vom Haare locken bis zum Wimpern biegen, liebe ich es mich morgens fertig zu machen.
Ich liebe es neue Klamotten zu bestellen, vom schwarzen Minikleid bis hin zum oversized Pulli, liebe ich es mir neue Klamotten zu bestellen.
Ich liebe es mit meinen Mädels über unsere Gefühle zu reden, von den neusten, attraktivsten Jungs bis hin zu unseren deepsten Gedanken, liebe ich es mit meinen Mädels über unsere Gefühle zu reden.
Ich liebe es meine neue Wohnung einzurichten, vom neuen Schminktisch bis zu neuen Vase mit rosanen Rosen, liebe ich es meine neue Wohnung einzurichten.
Ich liebe es Nägel zu machen, von Gelnägel selber machen bis hin zum Nagelstudio, liebe ich es Nägel zu machen.
Und dann kommen die verdrängten Sachen wieder hoch.
Ich hasse es eine Frau zu sein.
Ich hasse, dass ich mit 10 Jahren einem 40- jährigen Mann eine Sprachnachricht schicken sollte, wo ich stöhne und ihm Bilder von meinen sonst doch bedeckten Stellen schicken sollte.
Ich hasse, dass ich ab 11 von einem älteren Mann angefasst wurde, der zu der Zeit doch mein ganzes Leben bestimmen konnte.
Ich hasse, dass mit 12 auch meine Brüste gewachsen sind und so nur ältere Männer, aber kein Junge in meinem Alter mich interessant fand.
Ich hasse, dass ich mit 13 mehr Schwanzbilder auf meinem Handy hatte als Bilder mit meinen Freunden.
Ich hasse, dass mir mit 14 beigebracht wurde, nachts nicht rauszugehen, und vor allem nicht mit einem Top.
Ich hasse, dass mir mit 15 auf der Straße hinterher gepfiffen wurde, als ich mein neues Kleid trug, auf das ich doch so stolz war. Natürlich von älteren Männern, denn kein Junge in meinem Alter interessierte sich für mich.
Ich hasse, dass ich mit 16 mehr Komplimente für meine Brüste bekommen habe als für meine grünen Augen, die ich doch so wunderschön finde.
Ich hasse es, dass ich mit 17 immer noch keinen Freund hatte, ich hab doch so tolle Brüste… aber hab ich einen so schlechten Charakter?
Noch mehr hasste ich mich selbst, denn ich zieh mich doch extra freizügig an, um endlich Aufmerksamkeit von Jungs in meinem Alter zu bekommen, aber natürlich interessierte sich kein Junge in meinem Alter für mich.
Ich hasse es, dass ich mit 18 zwar andauernd angeschrieben werde, ob ich bereit für etwas Lockeres wäre. Ich, mein Charakter und das, was ich erlebt habe, scheinen dabei wohl zu viele abzuschrecken.
Ich hasse mich und meine Brüste und meinen gesamten Körper, ich hasse alles an mir.
Aber das darfst du nicht sagen als Frau.
Und deshalb hasse ich es eine Frau zu sein.
Ich hasse es mich selbst zu hassen, es aber nicht zeigen zu dürfen, denn Männer stehen natürlich auf selbstbewusste Frauen.
Ich hasse es perfekt aussehen zu müssen, aber nicht mit Make-up, denn Männer stehen auf natürliche Frauen.
Ich hasse es Angst haben und schwach sein zu dürfen, aber nicht meinen Mund aufzumachen, wenn das so ist, denn Männer dürfen sich nicht eingeschüchtert fühlen. Ich hasse es, dass ich ein Opfer sein darf, Männer mir aber nicht glauben, wenn dann doch etwas passiert ist. Ich hasse es ich zu sein, denn schließlich sollte ein Mann entscheiden, wie ich sein sollte, so wie ich am besten zu ihm passe.
Aber als Frau solltest du nicht darüber reden.
Also reden wir lieber über Make-up, unsere Haarwaschroutine oder den hübschesten Jungen, was ich auch gerne tue – aber manchmal möchte ich, auch einfach gerne ich sein.
Und deshalb weiß ich nicht, ob ich’s hasse oder liebe eine Frau zu sein – oder irgendwas dazwischen.
regentropfen sind wir
Alicia Eckhardt
2004
regentropfen sind wir am fenster
jagen wir doch unseren träumen nach
nicht sicher, ob wir selbst auch träume oder gar tränen sind
freudentränen oder eiskalte tautropfentränen.
auf unserem weg jagen wir weiter
manche versickern in der fensterrinne
aber manche jagen in rinnsalen voran
durch pfützen in bäche in ströme in meere.
manche vermischen sich mit schlick
aber manche mit sonnenschein
aber manche mit unendlichkeit.
an welchen regentropfen erinnere ich mich später noch?
auf unserem weg jagen wir weiter
zwischen fenster und boden
oben und unten
himmel und erde ist alles möglich.
ich habe keine furcht, da ich mich doch nicht fürchten kann, wenn ich nicht weiß, was kommt.
auf unserem weg jagen wir weiter
unsichtbarkaltes glas entlang
zweifelnd, wo start und ziel,
wann start und ziel,
ob jemals start war und ziel sein wird.
und doch so furchtlos und frei für den klitzekleinen moment dazwischen
süßer genuss, nur kurz halt‘ inne!
auf unserem weg jagen wir doch unseren träumen nach
regentropfen sind wir am fenster.
Bon Voyage
Lilly Faber
2003
Dies ist kein Gedicht und außerdem stimmt es nicht,
jede Idee frei erfunden, jeder Vers scheint ausgedacht,
alle Bilder gestohlen – aus der Nacht.
Und doch schreib ich alles, so wie es war, ein Kompass an meinem Fahrrad, doch der wurde mir geklaut. Und jetzt gibt es einen Dieb und er rückt ihn nicht heraus. Und für mein Fahrrad bin ich traurig, denn jetzt geht es nicht mehr tanzen, ohne Kompass im Großen und Ganzen – bin ich auf meinem Zimmer.
Here I am, hier kann ich sein, im grellen Sternenschimmer, pathetisch, weit entfernt und neu für immer, Königin der Angst, Herzogin der Sicherheit, zur Präsidentenwahl dieses Lebens stell ich mich nicht bereit. Und so verzichte ich auf den Applaus, bleib zuhaus. Licht aus – Film ab. Und dann denke ich daran, jede Sorge nur ausgedacht. Regen wird es immer geben und der Mond hilft durch die Nacht.
Ja, auf meinem kleinen rosa Planeten, werde ich nur einmal auftreten und wenn die A30 mich ins Leere trägt, muss ich lernen, wie man eigene Serpentinen schlägt. Dies ist mein Gedicht und vielleicht schreib ich es so nicht.
Und wenn ich aufbreche,
schwer – leicht – schwer – schwerelos
Schweben, dann fliegen
über Straßen voller Lichter und Gesichter
in einer Stadt voll Zukunft und Vergangenheit.
Singen und lachen, all meine Sachen, trag ich bei mir. Denn ich bin gekommen, um zu gehen.
Oh, den Atlantik entlang, bis ins Baskenland, in jeder Nacht, hab ich an euch gedacht und, dass Leben Wandern ist, auch wenn man die Richtung mal vergisst und wenn ich denke, I will never get it right, all my goals are out of sight, pretty little light, be my guide in this night,
trag mich durch die Wirklichkeit.
Oh, wie ich mit Liebe Heimat verbinde und sie doch nur in der Ferne finde, nehme ich ein Stück von dir mit mir – zurück. Auf meiner Straße mit Neonschildern und Donner, wie der TGV durch den Sommer.
Behütet von Bäumen und Regen auf Irr- und Umwegen.
Umgeben von Wolken und Laternen auf Asphalt zu den Sternen.
Voyage, voyage
Und wenn ich nachts im Fahrstuhl stehe und das Glasmädchen aus der Kleinstadt sehe, dass Angst im Dunkel hat und nicht glaubt, dass sie alles werden kann, sieht sie eine Fremde an. Und doch bebt sie, vergiss mein nie.
Generation Z
Merle Hoferichter
2007
Ich balanciere den Äquator entlang;
versuche, weder gen Nord- noch gen Südpol zu kippen,
die Waage gerade zu halten.
Generation Z wie dazwischen
zwischen Alpha und Vergangenheit.
Vorwürfe peitschen von einer Seite zur anderen,
hin und her — hin und her
bringen mich zum Schwanken,
aus dem Gleichgewicht.
schwerelos
der Boden der Tatsachen weit unter mir
und die Entfernungen werden immer größer.
Ich dazwischen:
Generation Z;
kann mich nicht entscheiden
beim Kampf der Generationen
und neben der Arena
brennt die Welt.
Langersehntes Blut
Malwine Prophet
2007
10 Monate keine Periode
Gestörtes Essen
Kein Essen
Selbstverletzung
Wütend sein
Wütend auf mich und meinen Körper
Heute ist er
Der Tag
An dem ich meine Periode wieder habe
Und es ist nicht so
Nicht so wie ich dachte
Ich bin nicht stolz
Ich bin verwirrt, verwirrt darüber
Dass ich gesund werde
Dass sich mein Körper wehrt und verändert
Ich bin froh und zugleich enttäuscht
Erleichtert und ängstlich
Ich hasse meinen Körper
In Fotos die ungewollt entstehen
Die ich dann im Augenwinkel
In der Story einer Freundin erkenne
Mich sofort wieder wegdrehe/
Im Spiegelbild der DDR-Kaufhalle
in meiner Heimatstadt
Wahrscheinlich die einzige
Die sich im Umkreis von 100km
Noch über Wasser hält/
In dem Kleid,
Es passte mir doch vor 3 Jahren noch
Vor 3 Jahren war ich ein Kind
Und krank, kaputt, aber dünn
Und ist es nicht das, wonach ich suche
———
Ich liebe meinen Körper
Wenn ich mit dir bin
Du mich ansiehst
Und du zärtlich genau die Stelle berührst
Die ich am liebsten vergessen will
Vielleicht machst du es mit Absicht
Oder auch nicht/
Wenn ich mich verliere
Auf der Tanzfläche
In der Menge und dem Bass
Und dem unbeschreiblichen Gefühl
Endlich mal ich selber zu sein
Und ist es nicht das, wonach ich suche
Aber,
Etwas dazwischen?
Zwischen Hass und Liebe
Gibt es das?
Akzeptanz
Ich ringe sie mir ab
Schmerzlich, langsam, schleppend
Ich schulde es meinem Körper
Er hält mich am Leben
Egal, was ich tue
Egal, was ich denke
Akzeptanz
Ich gestehe sie mir zu
Schmerzlich, langsam, aber stetig
raumforderung
Katharina Scheipner
2005
I.
es gibt eine unterwasserhöhle,
einen zeitraum [ich atme in ihm],
er bildet sich zwischen dem moment
in dem du meinen namen vergaßt und dem herbst, in dem ich deine schädeldecke hielt
[gegen deine kopfschmerzen]
ich betreibe seitdem schadensbegrenzung.
II.
als ich es versäumte, die objektpermanenz zu erlernen, entstand eine phase in der
ich es mir nicht erlaubte deine augen anzusehen
es gibt eine sich auftuende lücke, einen zustand
zwischen koma und traum,
da flüstere ich meinen eigenen namen
[eine maßnahme der palliation]
trotzdem treibt mein körper an der flussoberfläche und folgt der strömung.
III.
es gibt eine geheime tide
zwischen ebbe und flut
da verloren wir im juli in den wellen den boden unter den füßen
und als ich beinahe ertrank im rücklauf des wassers dachte ich an meine mutter
[sie will immer die restwärme nutzen]
du weißt, dass sich deine blutlosen konturen mir entgegenbeugen kurz bevor ich einschlafe
sie flüstern mir zu:
zwischen heute und morgen
liegt eine nacht, die es zu überstehen gilt
eine äone lang regen
bis die eiszeit dann wiederkommt.
IV.
zwischen dir und mir
wächst eine gutartige wucherung, die es nicht wagt, sich zu entscheiden
ich schenke dir mein leben
nenn es verzweiflungstat, wenn dich das vor allem erratischen bewahrt
zwischen aufwachen und traumlosen schlaf,
bevor die flut kommt, bevor das blut gerinnt
lege ich dir meine schlagadern aufs fernsterbrett, du kannst sie abholen wenn niemand hinsieht
[ihr wisst nicht, dass ich sterbe]
remission ist auch nur das stadium vor dem rezidiv, der zustand beim ertrinken
in dem man kurz luft holen darf
auf charons fähre denke ich zwischen den ufern ein letztes mal an dich
du weißt, dass ich sterbe.