Unsere Gewinner*innen im Juni 2023
Herzlichen Glückwunsch, David Lehmann, Ramona Leukert, Charlotte Obenaus, Lisa-Marie Preuss, Katharina Scheipner und Alicia Voigt! Ihr seid die sechs Monatsgewinner:innen im Juni in der Altersgruppe 15–20! Die Aufgabe bestand diesen Monat darin, eine poetische Mini-Geschichte zu schreiben. Ihr solltet euch überlegen, was eine Erzählung poetisch machen kann. Inspiration für das eigene Schreiben gab es von einem Ausschnitt aus Maggie Nelsons Band „Bluets“, der erstmal gar nicht aussieht wie ein Gedicht. In insgesamt 240 durchnummerierten Absätzen, von denen wir euch die ersten drei gezeigt haben, verarbeitet Maggie Nelson ihre Leidenschaft für die Farbe Blau, in Mini-Szenen, die mal an Essays erinnern, mal an lyrische Prosa.
Eure Mini-Geschichten in Gedichtform schildern eindrucksvoll die unmittelbaren Eindrücke und Emotionen nach einem eingetretenen Todesfall, spannen den Bogen über das, „was wäre“, wenn in einer Beziehung etwas Bestimmtes passiert oder nicht passiert wäre, halten einen Sturz in einen Fluss fest und erzählen eine „Gute-Nacht-Geschichte für mein siebenjähriges Ich“.
Viel Spaß beim Lesen der vollständigen Texte!
Die Nacht der stillen Bäume
Du sangst ein letztes Lied mit mir
und von all den Liedern deines Lebens
gerade eins das ich nicht kannte
und so stand ich neben dir
mit einem verzweifelten Summen
und ertrank ohne Text
in den Wellen deiner Stimme
und sagte nur noch tschüss
als ich aus dem Raum trat
und ging dann doch wieder hinein
wie eine letzte Flut
vor der Ebbe einer Lebensdauer
und sagte ich liebe dich
ohne zu wissen ob du mich hörst
und für die letzten Minuten
war ich nicht mehr im Raum
sondern wartete im Flur
unter den grellen Neonröhren
und vermutlich dem Mond
irgendwo draußen
aber ohne zu weinen
zu meiner eigenen Überraschung
und als Papa dann rauskam
umarmte er mich
und wir zogen die blauen Mäntel
der Intensivstation aus
wie Schwimmanzüge
und Duschhauben
und als wir dann im Parkhaus waren
stiegen wir ins Auto
fuhren langsam aus der Klinik
immer noch ohne Tränen
Richtung Zuhause
und es war erst an einer roten Ampel
die gegen den Nachthimmel
aussah wie ein Feuerball
dass wir stoppten
und ich innehielt
und im Fenster die dunklen Bäume sah
die alle für dich schwiegen
und dann floss jeder letzte Tropfen
aus mir raus
einfach mal nur so rein hypothetisch
was wäre wenn
haben wir gesagt
als wir zwischen
diagnosen und
dissoziationen
unter neonröhren
kette rauchten
was wäre wenn
dieses spermium
und diese eizelle
eben einfach
spermium und
eizelle geblieben wären
ach was wäre uns nur erspart geblieben.
ach was wäre uns nur entgangen.
was wäre wenn
haben wir gesagt und
auf einmal wurde
wenn jetzt
und
wäre ist
was wäre wenn was ist jetzt
was wenn wäre was jetzt ist
wäre wenn was ist jetzt was
wäre was wenn ist was jetzt
wenn wäre was jetzt ist was
wenn was wäre jetzt was ist
nur
was
ist gleich geblieben
und doch ändert
was
sich stetig
angenommen
ich hätte
einfach
nie meine hand genommen
und sie sanft in deine schlüsselbeine
gebohrt
angenommen
ich hätte mich
einfach
nie überwunden
essiggurken zu probieren
angenommen
ich wäre
einfach
auf filz hängengeblieben
angenommen
ich wäre
einfach
zwischen
lötkolben und schaltschränken
sitzen geblieben
(auf der suche nach berufung. schon immer.)
angenommen
ich hätte
einfach
nie meine eigenen
beine in die hand genommen
angenommen
ich wäre
einfach
nie auf die
idee gekommen
angenommen
ich wäre
einfach
ach was wäre mir nur entgangen.
angenommen
ich hätte den balken
einfach
losgelassen
angenommen
bruder wäre
einfach
mitgegangen
angenommen
ich hätte
einfach
nicht dieses top getragen
angenommen
ich wäre
einfach
nie in kartons gestiegen
und die A9 auf und ab gelaufen
(auf der suche nach zuhause. schon immer.)
angenommen
ich hätte
einfach
noch zwei tage länger
ausgehalten
nicht zu kauen
angenommen
ich hätte
einfach
wenigstens einmal
zungen nach dir gespuckt
angenommen
ich wäre
einfach
ach was wäre mir nur erspart geblieben.
angenommen
ich hätte
die realität
aus- und nicht angenommen
hätte sie:
ausgeschlachtet
bis nur noch
interpretationsspielraum
übrig blieb
jajaja blablabla
hättehättefahrradkette
lalala
und
was ist jetzt
haben wir gesagt
als wir zwischen
dämmerung und dankbarkeit
unter sternenhimmel
kette rauchten
was
wäre
wenn
nie:
wäre ist
und
wenn jetzt
geworden wäre
was
Gute-Nacht-Geschichte für mein siebenjähriges Ich
Eine Schwindlerin, eine Diebin und eine Närrin treffen sich am Springbrunnen.
Was die Lüge der Schwindlerin ist? Sie hat den Himmel grün gemalt und die Sonne lila. Da kamen die Leute mit erhobenem Finger und sagten: Was blau ist, muss man blau malen. Alles, was man sieht, ist wahr, und alles, was man fühlt, trügt.
Was das Raubgut der Diebin ist? Sie hat behauptet, ihre Zunge gehöre ihr selbst, und ihre Worte auch. Da kamen die Leute mit wutentbrannten Gesichtern und sagten: Dein Mund gehört unserer Sprache. Wenn du ihn für etwas Anderes benutzt, entwendest du unser Eigentum.
Was der Wahnwitz der Närrin ist? Sie hat die Erde aufgegraben und einer Lilie beim Wachsen zugesehen. Da kamen die Leute mit herablassendem Lächeln und sagten: Mach dir nicht die Hände dreckig. Die Natur kann uns nichts lehren, außer dass der Mensch das beste Los gezogen hat.
Eine Schwindlerin, eine Diebin und eine Närrin treffen sich am Springbrunnen, um sich auf einen anderen Namen zu taufen. Als sich ihre Wege trennen, sind sie eine Künstlerin, eine Prophetin und eine Forscherin.
Meine Gefühle sprechen jetzt erwachsene Sätze
die schallen durch die Flure
alle Fenster öffne ich
mit Steinen, ich schraube Wände von den Türen
hänge Laken aus den Löchern
und schmeiße Ziegel vom Dach
ich baue ein Zelt – aus meinem Haus
habe ich alles verbrannt, Sondermüll im Hinterhof
du sollst nicht auf die Müllabfuhr warten
die wissen auch nicht, was man mit alten Fotos macht
außer Schichten abtragen
Ich nehme die Dinge in die Hand
wie Schmutzwäsche, ich hab sie dir in der Regentonne gewaschen
und mich am Hals von Mücken stechen lassen
damit du weißt, wo du mich küssen kannst
wenn die Laternen müde werden
und dein BH am letzten Giebel hängt
ich weiß nicht viel vom Leben aber
meine Hände haben deine Winkel studiert
und können gradgenau Fieber messen
Morgens fangen wir die Nachbarskatze
und grillen sie mittags im Kräuterbeet
wir haben die Leichen aus dem Keller getragen,
die Skelette aus dem Schrank geholt
und die Nachbarn in den Garten geladen
ein „habt ihr Bier“ und stolzes „es gibt hier nichts“
als wären wir zwischen Sternen und Schnittlauch geboren
ich träume, wir leihen den Porsche der Freunde,
spannen Pferde davor und setzen an jedem Bordstein auf
bis wir uns das Auto schenken, es ist so einfach
durch Schlaglöcher zu fahren und deine Hand zu halten
bei Fahrtwind aussteigen und in den Graben springen
schau, hier hast du dich vermutet und ich find dich nicht
Sonntag reißen wir die Zäune ab,
dass die Kinder in unserem Garten spielen
mich nach dir fragen und die Antwort kennen
ich erkläre dem Postboten die Grenzen nicht.
Die Fußmatte liegt noch,
dass der Schall sich nett verabschiedet
fall mir in den rücken
als ich ein kind war, hat mein vater die blazer und hosen meiner mutter fürs büro zur reinigung gebracht, in plastik gehüllt zurückgebracht und an einem kleiderbügel aus draht an die gardinenstange gehängt; ich meine damit, ich vermisse es, wie die dinge einmal waren. / wir sind nicht mehr dieselben. ich erinnere mich noch gut daran, wie du damals nicht geantwortet hast (einen ganzen sommer lang), meine haare sind dunkler geworden seitdem. ich will dir immer noch sagen, dass du recht hattest. und dass es ein paralleluniversum gibt, in dem ich dich nie nach deinem lieblingswein gefragt habe, aber das ist dir gleichgültig. man hätte dich vor mir warnen sollen, so wie man kindern verbietet, wildtiere zu füttern, weil sie sonst immer wieder an denselben ort zurückkommen, bettelnd, hoffend. / ich will dir sagen, mein leben besteht aus flüchtigkeitsfehlern. / wenn du damals geantwortet hättest -/ kannst du nachts schlafen? liegst du wach? berichte mir von deinen sünden, dann bilde ich anagramme aus den dingen, die ich dir verschweige. fall mir in den rücken, wenn du mich nur dabei berührst. streich über meinen körper, von meinen schulterblättern bis zur klavikula. ich erfinde eine sprache, in der du mich verstehst und wenn die dinge anders wären, würdest du sie dir anhören wollen / seit drei tagen denke ich jede nacht, dass jetzt vollmond ist. wenn du damals geantwortet hättest, wäre alles anders (wie lang darf man auf eine antwort warten, bis man sich selbst verrät?) / in meinen albträumen stehst du in der altstadt und schaust an mir vorbei. dagegen bin ich noch nie angekommen. distanzgewinnung und wir beide verlieren. wenn du mich im herbst berührt hättest, würden wir jetzt einander die fingernägel lackieren und jeden finger einzeln durch die luft wirbeln. ich würde frisches wasser holen und du würdest mir noch einmal von dem traum erzählen, den du hattest. wenn du damals geantwortet hättest – / du liest den wetterbericht und überhörst zufällig die lügen, die ich flüstere. was wir einander schulden. / du hast damals dann doch geantwortet. ich habe dir die antwort an deiner netzhaut angesehen, an deinem bedauern. ich weiß, dass ich dir nie gesagt habe, dass es mir leidtut. / dass es wehtut. / ich bestatte dich nicht, ich werde nie davon loskommen, ich brauche trauerhilfe. / die welt war früher größer / heute ist sie ein rebus.
von einem flussgrund
ich bin in einen fluss gefallen, liege nun an seinem grund und beschließe zu zersplittern (denke mich als glas auf fliesen, denke mich zerschellen als tanker auf felsen)
die strömung links und rechts von mir wühlt wie grabende hände schlammige schätze um. ich halte inne: von weitem sehe ich meine bauchdecke sich heben, hebthob sich weiter.
und ein hunger plustert sich auf in mir, schwillt // zeigt seine glänzenden schuppen (denke mich unter federn, denke mich springen zwischen kleinen winden)
der fluss um mich herum wird ruhig, strömungen weichen sich auf. ich fasse nach dem wasser, verdrängt durch meinen schwellenden körper und lege es mir auf die zunge.
solange, wie kein tropfen mehr hinein passt in mich // ich platze und gurgle wirbel
eine brise streicht über meinen kopfgroß geschwollenen nabel, der aus dem wasser ragt
ich erinnere mich
mein körper will ein staudamm sein für diesen fluss, will ihn auffächern und ufer überlaufen, erden tränken, von dürre gezeichnete.
mein körper stemmt einen see, gräbt diese grube, tief genug für stille wasser, aufgeweicht und zum schwappen der wellen // an seinem grund atme ich wasser.