Unsere Gewinner*innen im Dezember 2023

Wettbewerb im Dezember 2023

„in meiner höhle
sommer und traumloser schlaf. wolfsfell.
eine flüstergalerie. eine angefangene liste von neujahrsvorsätzen,
dein name steht nicht darauf
hier kann ich das requiem abhalten
ich baue mir ein stilles leben.“

Im Dezember solltet ihr euch einen sicheren Ort erschreiben. Einen Ort, an dem es euch besonders gut geht und an den ihr euch in Zeiten der Ungewissheit oder Sorge zurückziehen könnt. Wie sieht euer sicherer Ort aus? Was gibt es dort alles? Welche Geräusche hört ihr? Welches Geheimwort muss gesagt werden, damit ihr jemanden hineinlasst? Das und mehr haben wir euch zum Thema „wir wispern den Schreck zurück“ gefragt. Inspiration gab euch der Lyriker Lucas Rijneveld mit seinem Gedicht „Der Clown, in dem wir aufgewachsen sind“. Wir bedanken und für die zahlreichen bewegenden und anregenden Einsendungen und gratulieren den sechs Gewinner*innen Swantje Bitterling, Yasmin Hisir, Katharina Scheipner, Lotti Spieler, Ellen Völker und Fanny Walger herzlich! Lest im Folgenden ihre Gewinner*innentexte!

i am the sea and nobody owns me

Swantje Bitterling

2006

die Welt sitzt mir auf dem Brustkorb
wringt die Luft hinaus
wie mein Mund die Worte
aus meiner Zunge wringt

selbstgefällig nickend versichert sie mir
jetzt ist die Luft raus
aber vergisst dabei:

I. das Eintauchen und mein Wörtermeer

II. das Sprudeln in den Fingerspitzen,
wenn ich Buchstaben zwischen den Korallen hervorziehe

III. die strauchelnden Konturen bei jeder Bewegung
(ich merke: i exist, my words do too)

IV. die Kiemen,
die sich alphabetisch an Hals und Hüfte anordnen

V. die Funken
schwimmend unter meiner Haut 

VI. die Wärme auf meinen Wangen
(ist mein Meer salziger Sommerregen oder Geweintes?)

VII. die Flut,
die ich in den Sand kritzle

VIII. mein verschmitztes Lächeln,
wenn ich tränenneuordnend zwischen Quallen sitze

IX. meine Pirat:innenbande
(konkurrenzlos Konventionen kapernd)

X. die Worte,
die aus meinen Fingern ins Wasser strömen
und die Worte,
die aus dem Tiefseeblau in meine Lunge strömen

die Welt sitzt mir auf dem Brustkorb
aber
ich bin das Meer
ich welle und wörtere

Vom Fremdsein

Yasmin Hisir

2006

Mit deinen Wimpern
pinsle ich einen Sternenhimmel
damit der Atem dorthin aufsteigen kann
angefeuchtet noch
von diesem Klecks aus Sonne auf dem Schnee
wo sich die Wolken überlappen
ist noch eine Naht frei
zum Reinkriechen
ich streife mir Armreife über
wie Narben
du rupfst dir deine Wimpern einzeln aus
damit ich einen Sternenhimmel pinseln kann
an meine Zimmerdecke

in dem stillen Blau
tanzen die Fischleiber 
betrunken auf den Baumkronen
wie Vögel
die man senkrecht in die Luft wirft
sodass noch Löcher zurückbleiben 
in dem Blau
dem Dunklen
wenn sie schon längst fort sind

ich denke daran
im Zug 
mein Gesicht neben mir
Reflexion durch das Glas
Man glotzt sich an

die Sterne am Himmel sind ein Kompromiss
etwas
an das man glauben kann
um die Löcher zu stopfen
die die Vögel hinterlassen haben
sie sprechen von Verlust
einem unwiederbringlichen.

auf bessere zeiten

Katharina Scheipner

2005

ich klebe mir künstliche fingernägel auf und reiße sie wieder ab.
ich möchte vor meinem zahnarzt weinen und ihm beichten dass ich es manchmal nicht schaffe, mir die zähne zu putzen.
er soll mir sagen, ob das etwas ist, das man ertragen kann
ich habe einen organspendeausweis, aber bis auf meinen namen ist er nicht ausgefüllt, 
weil ich mich nicht entscheiden kann,
ob ich will, dass jemand anderes mal meine lungen benutzt, ob ich sie hergeben kann,
die atlantikluft des letzten sommers in ihnen

die zeit vergeht schneller und schneller, finde ich,
und weil meine finger so kalt sind und ich so müde bin, bedauere ich die tragik der kontingenz.
du weißt, jetzt beginnt die regenzeit
sie sagt, man kann damit leben
(nie werde ich ihre sanftheit vergessen.)
du weißt, das war unser letzter gemeinsamer sommer.
unser südfrankreich 
meine alabasterküsten 
weil ich mein gesicht in den warmen luftstrom halte und sie immer noch vermisse, baue ich mir eine höhle am südfenster
man kann trotzdem leben, sagt sie

ich habe vor jahren angefangen zu trauern und seitdem nicht damit aufhören können
aber ich kann es ertragen. 
in meiner höhle kann ich damit leben. 
sie versteht meine muttersprache
man kann so trotzdem leben, sagt sie
und hisst den baumwollstoff
damit ich mich verkriechen kann
für den winterschlaf
und wenn die wölfe kommen. 
man kann damit leben, sagt sie
und ich versuche es. 

in meiner höhle
sommer und traumloser schlaf. wolfsfell. 
eine flüstergalerie. eine angefangene liste von neujahrsvorsätzen,
dein name steht nicht darauf
hier kann ich das requiem abhalten
ich baue mir ein stilles leben.
und sie hilft mir, das zu glauben.
dass man damit leben kann.
bevor die wölfe kommen [und uns zerfleischen]
male ich eine sonne in die linke ecke
pour que tu te souviennes de l’été.

wo sie sind, wird die luft knapp zum atmen

Lotti Spieler

2004

sucht mich in den vergorenen lippenstiften
den handtaschen
den brotkrümeln der letzten leiber
auf jagdrouten
sucht im gerinnbaren obst
in den miniaturen
den mädchenjahren
auf bruch
sucht in den kräftigen schritten bei nacht
den gasresten am grund der kaputten feuerspender
in jedem dritten tag, den ich weiter lebe und lebe und lebe
der furchtlosigkeit
sucht in den silbennetzen
den urheberrechten
in den geteilten küchen
sucht mich im brummen, im summen, der herzschlagimitation
den leisen wie den lauten tönen
sucht mich im unterleib, wo die leerstelle brüllt
sucht mich im verlernten schweigen

sucht mich in ihrer abwesenheit.

Omas Küche

Ellen Völker

2003

„Brüderchen komm tanz mit mir“

Oma hält mich fest an sich. Ich könnte mich nicht lösen, selbst wenn ich wollte. Doch ich bin glücklich. In ihren Armen, in der Küche mit den blau-weißen Plastikfliesen, in der sie vielleicht einmal so auch mit ihrem Bruder getanzt hat, bevor er wegzog, und die Fliesen aus blau-weißem Plastik waren.

„Beide Hände reich ich dir“

Omas Hände sind faltig und voller Flecken, die sie hässlich findet und ich wunderschön. Hände, die im Garten Blumenkränze flechten und jetzt meine umfassen, die weich sind und ganz klein. Kleiner noch, als der Tisch in ihrer Küche, der aus Plastik ist, genauso wie meine Puppe, die auf dem Boden liegt. Auf den blau-weißen Fliesen, die aus Plastik sind.

„Einmal hin, einmal her“

Oma wird bewundert, von Opa im Türrahmen. Er hält die Kamera und ihr Herz fest an sich. Ohne Opa hätte ich es längst vergessen. Das Tanzen auf den blau-weißen Plastikfliesen. Irgendwann wird es mir Angst machen. Oma zu vergessen und Oma zu verlieren. Gerade weiß ich ganz sicher, dass sie da ist. Es ist so sicher wie die blau-weiße Farbe der Plastikfliesen. 

„Rundherum das ist nicht schwer“

Immer wieder drehen wir uns über die blau-weißen Plastikfliesen. Immer wieder singt sie mir dieses Lied vor. Immer wieder schaue ich zu ihr auf. Viele Jahre später werde ich sie zum ersten Mal weinen sehen und sie festhalten. So wie sie mich gerade hält. 

Immer wieder Omas ersticktes Schluchzen.

Immer wieder blau-weiße Plastikfliesen.

in den fluss, in den fluss (tochter tochterson, am Inneren Sicheren Ort*)

Fanny Walger

2004

prolog:
hier sind Sie geboren. hier haben Sie gelitten. hier sterben Sie.
hier stirbt, was Sie erinnern.

 

im wäldchen harren Sie aus, und schreiben, und dann –
nochmal und nochmal – ertränken Sie, wer Sie
gewesen sind (im schuldfluss, so wie b.e.);

sehen Sie:
berühren Sie:

hier hat niemand Sie zur welt gebracht. Sie markieren
stamm für stamm den heimathafen und in holzbooten
schwimmt davon: die tochter im krankenhaushemd,

im strickpullover, die langen und die kurzen haare.
Sie brachten erinnerungen in plastiktüten, bringen Sie
Ihr kind, damit es mit Ihnen loslässt.

riechen Sie:
schmecken Sie:

erinnerungen mit altersflecken, kleben aneinander,
riechen vergangen. staub für staub kehrt wieder;
ein wenig moos, ein wenig leben – in den fluss.

wie unschuldig der winter liegt und friert.
wie das kind etwas bewahrt und noch einmal beginnt:
hier ist es geboren, hier leidet, heilt es, stirbt es;

hören Sie:

seine worte auf den trampelpfaden.

*der Innere Sichere Ort ist eine psychotherapeutische übung, die vor allem bei traumaerkrankungen angewandt wird. die betroffenen sollen sich ein mentales bild eines ortes erschaffen, an dem sie sich sicher fühlen; um sich in schwierigen situationen dorthin zurückzuziehen.

Schreibe, um zu träumen.