Unsere Gewinner*innen im Juli 2022
„Und wenn dieses Tagebuch ein Roman wäre, bin ich bis hier der allwissende Erzähler und ab hier/ Du.“
Im Juli haben wir euch um lyrische Tagebucheinträge gebeten. Als Inspiration haben wir euch einen kleinen Ausschnitt aus Terje Dragseths Gedichtband „Bella Blu“ gezeigt, in dem er sechs Tage beschreibt und für jeden Tag etwas Charakteristisches festhält. In euren Interpretationen des Themas habt ihr einschneidende Ereignisse in Tagebuchform verarbeitet, „12 heute: ist trennung passiert“, ihr habt Reisetagebücher geführt, „tag 2. mittagssonne um mitternacht“ und ihr habt beschrieben, in welchem Setting Tagebuch geführt wird: „in einem leeren haus liegst du. / in einem bett oben rechts, nahe einem fenster.“
Herzlichen Glückwunsch, Anastasia Averkova, Ruta Dreyer, Lara Klatzka, Berit Küster, Lena Riemer und Alicia Voigt!
Eure poetischen Tagebucheinträge haben die Jury überzeugt!
ich habe dir x Tage geboten
i.
Lider pulsieren
ii.
Augäpfel beißen sich
iii.
ich erbrach meine Organe
ich verliere meine Geschmacksknospen
manchmal schlängele ich meine Haut ab
iv.
du spaltest meine Wimpern
ich gebe dir Zitronen im Glas
wir zersplissen
ich schlucke das Gerede
am Gaumen klebt der Durst
dann bleibt nur noch die Nacht vor dem Abschied, Vater
Himmel und Hölle, ein Koffer, Memory
ich bin die Schlange, die dir ins Gedächtnis speichelt
v.
hör mir zu
ich werfe eine Antwort
ich hatte fast immer zuerst gewonnen, ich oder die Kriege
vi.
wirf mich aus der Erinnerung
los, breche, töte
Väter, die im Feuer bleiben, haben in ihrer Sache gewonnen
vii.
ich habe mir Silben in die Kehle gelegt
der Arzt hört meine Stimmen, sieht meine Flecken, bevor er singt
und vom Glas absorbiert wird
viii.
hör mal auf den Doktor, der nicht lügen will, er pflegt
einen Zitronengarten
es war möglich, zu hören, wie der Vater mit Zitronen um sich wirft
ich halte mich fest und einen Frieden für möglich
ich habe dir ein Feuer angezündet
ich bin da
im Zitronengarten, ich singe die Lieder
ich schmecke etwas
breche dein Vertrauen, dann ich
ix.
ich gebe dir Schlangenaugen, die gespaltene Zunge, gebleichte Gesichter
bespeichelte Silben
diejenige, die ich bin
sie braucht eine Bauchspeicheldrüse, um ihren Vater zu verlieren
sie hat die Welt nicht getragen, ihr Körper weiß
seit er geworfen wurde
nichts eigentlich
sieh
der Körper, der sich erbricht und die Haut aufreißt
x.
aus dem Mund fallen Kriege
es bedeutet aus deiner Kehle Lebewohl
Das modern(d)e Leben/Sterben
Ich habe gehört, wir müssen das moderne Leben wie ein großes gieriges Tier betrachten, das aufgrund praktischer Prinzipien jede Form der Solidarität aufgegeben hat.
Weil Gesellschaft unnötigen Raum einnimmt, der da sein könnte für andere Errungenschaften, wie bspw.: die Konservierung ebenjener Gesellschaft, die eigentlich nicht von Bedeutung ist.
Weil wir wegen all dieser aufgeweichten Annahmen und der generellen Ungenauigkeit des Daseins sowieso keine Möglichkeit haben, so etwas wie ein soziales Empfinden zu besitzen.
Ich lasse die Fensterbretter zum Lüften hinaushängen. Sie segeln an gefestigten Passantenköpfen entlang und zertrümmern die Steine des Bodens wie lieblose Insektenkörper. Also sehen Sie, ich bin groß geworden, ich teile meine Ansichten nun in Form von Gratwanderungen ein.
Und die Tagebücher, die ich jetzt schreibe, sehen folgendermaßen aus: Sie enthalten Inhalts- und Konservierungsstoffe durchnässter Hosentascheninnenseiten.
Sie wölben sich nach außen, vollkommen nach außen gedreht.
Ich habe mich vollkommen nach außen gedreht.
Es sind keine Gezeiten von denen ich spreche, dieser Zustand bleibt konstant bis zum Ende.
Und das Ende hat schon begonnen.
Montag: Ich verorte mich über Orthophenylphenol. Kaliumacetat, E261 macht mich glücklich und ich fange an, mit Daumen im Mund einzuschlafen. Dabei rinnt mir Spucke übers Gesicht, in der ich mich verheddere. Sorbinsäure, E200, Natriumbenzoat, E211, usw.
Dienstag: Natrium-ethyl-p-hydroxybenzoat, E215, PHB-Ethylester, Natriumsalz, Trostbrot.
Mittwoch: –
Donnerstag: Tomomomomomaten habe ich wieder probiert, sie: diese anatomischen, wahlbekannten Freigeister, diese lurchenden, schlafenden Geschöpfe der Krise. Zum Abstrich Calciumbenzoat, danke. Ich schlucke tief und weine, weil mich das alles so berührt, dass es Stoffe gibt, die nur dazu da sind, mich am Leben zu halten!, dass es also wirklich Zustände der ausnahmslosen Funktionalität gibt!, die sich durch nichts anderes begründen als ihre Funktionalität!
Freitag: E233, dann Nisin. E236 Ameisensäure. Nie wieder Getreide, ich schwöre.
Samstag: E284 Borsäure, E282 Calciumpropionat, usw. Es funktioniert.
Und ich weiß: ich werde die Apokalypse überleben.
Ich werde Twitter überleben.
Ich werde die Barbarei der Aufklärung überleben.
Ich werde Burn Out, Selbstzweifel und den perversen Drang nach Lückenlosigkeit überleben.
Die Steine, die ich aus dem Fenster warf, liegen nicht mehr auf dem Boden. Mittlerweile wurden sie abgeschleppt, umgebaut und sind nun grundlegende Bauteile progressiver Architektur. Damit meine ich eine Art von Progressivität, die auf jeden Fortschrittsgedanken, außer den der Menschlichkeit, abzielt. Hören wir auf mit diesem Zurückschauen, das Frühstück für morgen muss vorbereitet werden.
Und ich stelle mir vor, wie ich an einem Becken aus Konservierungsstoffen stehe und hineinspringe.
Ich stelle mir vor, wie diese Stoffe mich am Leben halten und ich übergelassen durch die Welt torkele.
Ich stelle mir vor, wie ich als einziger Mensch durch Sinnlosigkeit die Sinnlosigkeit überwunden und mich dabei dem am allerschwerst loszuwerdendenen Zustand, dem der Unendlichkeit, ausgesetzt habe,
ich stelle es mir vor, Montag, Dienstag, Mittwoch, Schmerz, -losigkeit, Krücken, Verengungen, Dosenbier, Eichhörnchen, Fellimitate, Kaliumacetat, E261,
Sorbinsäure, E200, Natriumbenzoat, E211, E38109385719387948, (bitte sprechen sie das alles laut aus, wenn Sie es lesen, jede Ziffer ist von Bedeutung, gleichwohl mehr als der sie begleitende Herzschlag, jede Ziffer könnte einen weiteren Tag in der sogenannten vor sich hin gammelnden Sinnlosigkeit bedeuten, das wollen wir doch nicht versäumen, oder) J716874, L317463874, XPPPK
OIDEEEEEED/§33333333333/////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// usw.
Und am Ende sterbe ich trotzdem.
tag siebentausendsieben: du fällst in die lücke
exposition:
in einem leeren haus liegst du.
in einem bett oben rechts, nahe einem fenster.
von draußen rauscht morgen herein und füllt die stille im zimmer.
vor einiger zeit war es acht uhr siebenundfünfzig,
als sich die rückenwirbel ächzend gedreht und dir einen blick auf den radiowecker gewährt haben.
aufs klo musst du deiner schätzung nach seit etwa einer stunde.
reglos an die decke starrst du deiner schätzung nach seit etwa eineinhalb stunden.
die knie sind kalt.
in den nächsten zweihundert augenblicken werden die kalten knie notgedrungen über die bettkante schwingen
und der schmerzende körper sich über der toilette entkrampfen.
abhängig vom schweregrad der selbstzerstörerischen stimmung wird den knackenden gliedern dann früher oder später erlaubt, die treppenstufen hinabzusteigen.
durchführung: tag siebentausendsieben
1. mutter sagt an der supermarktkasse, du fallest in die lücken („pass auf, dass du nicht in die lücken fällst“ ). bananenstapel auf dem band.
2. auf der arbeit: froschworte im hals und tackerlächeln, kinder schreien sich ein loch in den rachen, kolleginnen mit linealhaaransätzen.
3. mann fragt im zug nach deinem alter („junges fräulein“). schweißwolken in seiner bauchfalte, requiem aus seinen lungen. du steigst eine station zu früh aus.
4. vater sagt in der küche, man sehe dich kaum noch („ich weiß ja gar nicht mehr, wie du aussiehst“). augenringe.
reprise:
in einem leeren haus liegst du.
in einem bett oben rechts, nahe einem fenster. von draußen rauscht nacht herein und
füllt die stille im zimmer.
vor einiger zeit war es zweiundzwanzig uhr fünfunddreißig,
als sich die rückenwirbel ächzend gedreht und dir einen blick auf den radiowecker gewährt haben.
aufs klo musst du deiner schätzung nach seit etwa zwei stunden.
ziemlich high bist du deiner schätzung nach seit etwa eineinhalb stunden.
die knie sind kalt.
in den nächsten achtzig augenblicken werden die kalten knie notgedrungen über die bettkante schwingen
und der schmerzende körper sich über der toilette entkrampfen.
abhängig vom schweregrad der selbstzerstörerischen stimmung wird den lidern dann früher oder später erlaubt,
sich über die glühenden augäpfel zu schließen.
Buchstabenzeitensammlung
Wenn ich diese Seiten lese, denke ich/
an dich, wie du einzelne Fetzen fangen und aufkleben wolltest, aus Angst, du könntest sie noch nicht einmal beim Davonfliegen beobachten. Dann blätter ich weiter und denke/
an dich, wie du deine Trauer mit Blei vergiften wolltest. -als ob sie ein Enzym wäre.
Wenn ich diese Blei-Schrift lese, denke ich/
an dich, wie du abends auf die Stunden blicktest und an dich dachtest. Du dachtest an die Freude, die du nur in Fetzen an das Blatt tackern konntest und die trotzdem nicht davonflog.
Wenn du auf diese Blätter blicktest, dachtest du/
an dich, wie du versuchtest zu verstehen, an die Reflexion. -als ob du glattes Wasser wärst.
Und wenn ich auf das hier blicke, sehe ich dich, wie deine Wellen sich immer noch umschlagen, weil dein Bleistift Bewegungen auf den Grund malt.
Wenn ich diese Seiten lese, denke ich/
an uns, wie mit der Zeit mehr dazu kamen und das „ich“ zu einem „dich“ wurde.
Und wenn dieses Tagebuch ein Roman wäre, bin ich bis hier der allwissende Erzähler und ab hier/
Du.
islandprotokolle
tag 1. ankunft – vorhin im flieger wieder diese absturzängste – barthes bewahrte mich vor dem zittern. irgendwie treffend dass die franzosen mit ihrer fließenden sprache meinen kiefer entkrampfen
tag 2. mittagssonne um mitternacht – zum ersten mal seit langem wieder auf einem boot mit einem blick aufs schwankende azur dessen spiegel nur von walflossen durchbrochen wird – in ihrer notwendigkeit zu atmen müssen sie sich unseren kameras offenbaren
tag 3. die nase in die schwefelkessel der erde halten und ihren geruch einsaugen – wir geben uns decknamen wir erfinden inselgeschichten – beim abendessen leistet eine beobachtung meiner eltern eine halbe dna-analyse
tag 4. straßen bahnen sich ihren weg durch die ewiglich erkaltete glut – eine landschaft die sich nicht ganz offenbaren will und sich in nebel hüllt – wir realisieren nach 20 jahren allmählich dass linsen nicht gemacht sind um sich säuberlich davor aufzureihen
tag 5. im bekannten kargen wandern meine gedanken zurück zu dem buch das ich im zimmer ließ – bei meinem ersten aufeinandertreffen mit dem ewigen eis fällt mir auf dass auch mein bruder gletscheraugen hat – ich verliere mich im schneetreiben seiner lederhaut
heute : ist trennung passiert
juni 2021
1 Mit nackten Brüsten im Meer gewesen und andächtig standen Männer.
2 Schweigend essen er und ich Coq au Vin und zerdenken die Treue.
3 Mein Ich hat sich zusammen geknüllt und ist mir in die Füße gefallen.
4 Ich vertraue meinen Gefühlen und Gedanken nicht.
5 Es fühlt sich an, als komme ich an – irgendwo in mir
6 & dann ziehe ich in eine kleine hütte und schreibe & denke & ernte äpfel.
7 Mein Leben hat sich chaotisiert.
8 dass ich es gar nicht so angenehm finde, dass er da ist, denke ich gelegentlich.
9 Wir haben gesprochen und ich finde nicht die richtigen Worte für ein alles ist gut.
10 Über das Erhabene: Entwertung der Gewalt
11 an mich gelehnt hat er sich, geweint und ich – hab mich geekelt, meine brust in seinen alkohol tränken zu müssen.
12 heute: ist trennung passiert
13 danach musste ich tanzen, um mich zu ertragen
14 ich will nur nicht erkennen müssen, dass
15 um ihn trauere ich nicht
16 wie fühlt sich wasser an, wenn ich es atme
17 ich habe angst vor mir, vor dem, was ich nicht fühle
18 mit ihm geschrieben habe ich heute
19 zwei mal bin ich ehrlich geworden. habe dagestanden, geweint und allen leid getan bis ich nicht mehr laufen konnte
20 diese hitze kommt mir viel zu nah oder
21 vor einem jahr hat er uns an seine mutter verraten
22 (sich) das erste mal mit einem fremden körper trösten
23 da ist was in mir, das fühlt sich taub tot traurig an
24 vom nebel benetzt (unsicht u. -spürbar)
25 vielleicht habe ich mich das letzte jahr nicht aufgehoben gefühlt
26 ich habe das gefühl, dieser sommer wird mir eine heimat sein
27 wenn die schule wieder los geht
28 heute den ring zum zweiten mal verloren, den er beim ersten mal verlieren wiedergefunden hat
29 seit vier uhr sechs am fenster gesessen, mich benieseln lassen und gedacht bis alle wach waren
30 zum ersten mal alkohol gekotzt
juli 2022
1 menschen zusehen, wie sie trinken, um nicht spüren zu müssen.
2 aufwachen und zuhause sein.
3 bald jährt sich, dass alles anders ist.
4 seiner mutter zu nicken, statt meiner
5 wir haben nie über ihn gesprochen
6 du hast gesagt, dass ich irgendwie komisch sei und ich habe geantwortet ja.
7 ihm gegenüber sitzen und sich fragen, was noch passieren darf
8 und immer wieder wollen, wollen, wollen
9 und dann doch nicht, sondern schreien, springen: wie wir tanzen.
10 einen finden und ignorieren.
11 sich die wunden lecken und röcheln
12 um dann doch endlich frei gewesen zu sein
13 du kommst zurück und bist, wen ich brauche.
14 neben einem sitzen und genervt sein. was ich will
15 zurückkommen und sich endlich distanzieren können
16 und ankommen in
17 berlin ist eine leere stadt. immer wieder jeden sommer
18 (sich) wundern über die zeit und ihr wuchern
19 ich warte bis der käse schmilzt und gehe wieder ins bett
20 vor dir gestanden, geweint und umarmt
21 viel austausch zwischen welt und mir
22 dass ich ihn provoziere und deswegen
23 happy pride, egal wie allein du bist.
24 kleine wunder passieren, wenn sie algorithmen und lauschende geräte sind.
25 ich rede viel von ihm. noch immer
26 jemand, der zuhört
27 heute viel geweint und mich erinnert
28 auf dem letzten sommer hängen bleiben
29 finden, dass ich das nicht verdient habe
30 an euch schreiben dürfen, dass ich liebe, ganz ohne gefahr und dankbar
31 und jetzt ein mensch sein, der sich in den kaffee ascht.