Unsere Gewinner*innen im März 2022

Wettbewerb im März 2022

Schwarz ist die Box in meinem Kopf // als kind dachte ich gedanken wären flugzeuge / die erinnerung an dich liegt in einem lagerraum / über dem bermuda-dreieck // zwischen den Halmen der Erinnerung / möchte ich weiden, grasen, rupfen // Haben wir dieselbe Erinnerung mit anderem Umgang oder denselben Umgang mit der anderen Erinnerung? Denn damals im Umgang da war das ganz anders. – Auszüge aus den Texten von Anna Sophie Born, Jakob Buurman, Lara Klatzka, Madita Cara Reinke, Sophie Schollek und Fanny Walger, unsere sechs Monatsgewinner*innen der Altersgruppe 15 – 20 zum Thema „tiefsinnigeres wurzelgemüse“.
Wir gratulieren euch herzlich!

Im März ging es bei lyrix um das Thema Erinnerung und Gedächtnis. Wir haben euch gefragt: Wie funktionieren Erinnerungen? Was macht das menschliche Gedächtnis aus? Können wir uns überhaupt „neutral“ erinnern oder sind unsere Erinnerungen immer rein subjektiv? Welche Erinnerungen sind euch aus eurem Leben besonders im Gedächtnis geblieben und warum? Inspiration gab es von einem Textausschnitt aus dem Gedichtband „vom wuchern“ von Tim Holland und von einem Dokumentarfilm über den Hirnforscher Eric Kandel.

kontaktabbruch an dendritischen dornen

Anna Sophie Born
2004

dein tag ist ewig lang in diesen landen, du hast die zeit verloren und suchst
schon wieder die tabletten, die elenden, etwas fürs herz, du weißt nicht genau
deine frau sagt dauernd, du sollst sie nehmen, deine frau wer ist
diese frau in der wohnung, was macht der zucker im quark wieso schläfst du
nicht nachts

wieso nicht am tag, die helligkeit, sie macht so müde, du solltest
den rhythmus wechseln, das macht ja krank und die tabletten, wo sind nur wieder
die tabletten, sicher hat die frau vergessen, sie zu holen oder der arzt
wer ist dein arzt, warum musst du nur immer wieder zettel suchen, rezepte googlen
warum googlen

von deiner tochter, ich weiß es von deiner tochter aber du hast gar keine tochter
du bist dir sicher, sie sähe dir ähnlich, die tochter deiner fantasie aber da ist dieses kind
warum ein kind, so ein hübsches kind, du hast es nie zuvor gesehen, es redet immerzu
von memory: das mit den tieren, warum kann er das nicht, hörst du
aus dem wohnzimmer

und leises, kraftloses stimmengewirr oder bist du kraftlos, so ausgelaugt von der
schlaflosigkeit, es sind die tabletten, du kannst sie nicht weiter nehmen, da ist eine frau in
der wohnung, ihr wirst du es sagen, aber erst schlafen, erst schlafen und du hörst
immer wieder die sanfte stimme einer frau:
es liegt nicht an den tieren

 

BLACK BOX

Jakob Buurman
2004

Aktion – Reaktion

Manipulation
durch Außeneinflüsse  

Input – Output

                                               IM BEHAVIORISMUS WIRD DAS GEHIRN ALS BLACK BOX BETRACHTET

Inhalt: unbekannt beziehungsweise unwichtig
Aufbau: unbekannt beziehungsweise unwichtig
Funktion: unbekannt beziehungsweise unwichtig
Farbe: #000000
Form: Box

              IM B. WIRD ALLES, WAS NICHT MESSBAR IST, IGNORIERT

Gedankenstrom, wenn ja: Wie viel Volt?
   oder nur strömende Gedanken
Gehirnwäsche, wenn ja: Wie viele Umdrehungen pro Minute?
   oder nur Gehirnmanipulation
Geistesblitz, wenn ja: Wie viel Kiloampere?
   oder nur geisteskrank
Gehirnerschütterung, wenn ja: Welcher Wert auf der Richterskala?
   oder nur erschütternde Erinnerung
Gedankenflut, wenn ja: Wie viel Liter pro Sekunde?
   oder nur Flut von Gedanken

Meine Gedanken auf dem Fließband werden einer Qualitätskontrolle unterzogen:
Was nicht handfest, von Bestand und glasklar ist, wird
aussortiert,
abgestempelt: unnütz

01010111 01101001 01100101 00100000 01110110 01101001 01100101 01101100 01100101 00100000 01011010 01100001 01101000 01101100 01100101 01101110 00100000 01100010 01101001 01101110 00100000 01101001 01100011 01101000 00100000 01110111 01100101 01110010 01110100 00111111

Schwarz ist die Box in meinem Kopf
Schwarz ist der Bildschirm ohne Strom
Schwarz ist das Augenlid von innen

IM LEBEN WIRD WICHTIGES UND ALLES, WAS WICHTIG IST, NULL UND NICHTIG
IM L. WIRD NICHTIGES UND ALLES, WAS NULL UND NICHTIG IST, WICHTIGES,
WENN JEMAND BESTIMMT, WAS WICHTIG UND WAS NICHTIG IST

auf dem Boden vor mir liegt das Lächeln meiner Mutter

Lara Klatzka
2003

ihr seid in mir verwurzelt
ihr, die Geister, die Menschen,
die sekündlichen und die minütigen, die
stündlichen, die täglichen, die ewigen
ihr seid in mich eingeschlagen
eingequollen in Verästelungen und
Kleinst-Schubladen, habt mich besiedelt, besetzt,
befüllt
heute kann ich euch nicht Fremdkörper nennen:
die Stimmen, die Worte, eure Hände und vor
allem eure Blicke
sind mir Fleisch und Knochen, sind mir Seele,
sind mir Denken
in meinem Handeln liegt eure Härte, auf meiner
Zunge eure Sanftmut
ich bin ihr, und ihr seid in mir eins: ich

gestern habe ich die Häme der Nachbarin
verschluckt:
sie hat mir ihre Niedertracht ins Gesicht gespien
die liegt heute noch schwer im Magen
und ich fürchte Bauchschmerzen

„du redest zu viel“
die Mitschülerin in Klasse fünf:
ihre Stimme der Spott in meinem Kopf, ein
Parasit, ein Erreger, hat sich tief in mich
gefressen, beißt an meinen Kehlkopf, zerbröckelt
das Wort auf meiner Zunge

der Ton des Deutschlehrers:
klar und sachlich, die Idee in meinen Schläfen

das Grinsen der Freundin:
schelmisch, das Zucken in meinen Mundwinkeln

der Atem des Geliebten:
hauchzart, die Gänsehaut in meinem Nacken

und in den Haarsträhnen, in den Hautfalten, in
den Rillen meiner Nägel, in meinen Gassen und
Straßen, in den Großstädten und endlosen
Zimmern meines Selbst:
Menschenmassen, Passanten
unscharf, glasklar
Blicke, Schritte
ein Geruch
ein Stoß, ein Gruß, ein Schrei
die unbekannten Gesichter meiner Träume

ihr habt mich besiedelt bis ans letzte Ende,
durch euch bin ich geworden
eure Massen, die mich verschluckten,
habe ich verschluckt



in der Stille meines Raumes möchte ich mich
entzwiebeln:
abschälen, aufteilen
zerlegen in die Einzelteile,
entwurzeln:
zwischen den Halmen der Erinnerung
möchte ich weiden, grasen, rupfen
und zwischen den Bruchstücken,
den blutigen Wurzeln
möchte ich finden, was von mir übrigbleibt
meinen Kern, meinen Ursprung

grabe in mich, türme Hügel
speie Stimmen, Flüche, Wünsche
pflücke Zwinkern, Lachen, Händedruck
kappe Lob und Tadel, Tränen und Küsse
ziehe Wurzeln

schließlich bin ich ausgehöhlt und leer
bin kaum noch
doch unter der Flut, dem Gemenge, der Schar,
die ihr seid

finde ich ein grünes Leuchten
die letzten Wärme, die mich erhält
die mein Blut zirkulieren, mein Herz schlagen
lässt:
auf dem Boden vor mir liegt das Lächeln meiner Mutter
ihr Blick leuchtend grün wie die Wälder im
Sommer, die Melodie ihres Wortes, hell und lind
ihre Arme, der Geruch meiner ersten Stunden

vorsichtig lege ich sie auf euren Haufen

und
 

Auszug aus einem Nachschlagwerk.

Madita Cara Reinke
2004

Fac.

  1. Falsche Schreibweise von fuck. Vulgärausdruck. Übersetzung aus Jugendschutzgründen nicht angegeben. Gemeinhin bekannt als das, was du mit ihr gemacht hast. Mindestens zwei Mal. Daily reminder: die zwei genetischen Zufallskombinationen, von denen du die eine eingeschult hast und die andere einschulen wirst. Auch in Verwendung als das, was du besser mal mit mir oder den Typen in Schottland gemacht hättest. Oder was ich dir gerne gesagt hätte.
  2. Tippfehler für „FAQ“. Die Frage, die wir uns alle stellen: bin ich irre? Bist du irre? Haben wir dieselbe Erinnerung mit anderem Umgang oder denselben Umgang mit der anderen Erinnerung? Denn damals im Umgang da war das ganz anders. Aber damals war alles anders. Ich, und du, und die Situation. Vielleicht erinnere ich mich noch an meine Fragen. Am meisten, an die, die ich nicht gestellt habe. Bin ich genug? Nicht für dich. War ich für dich zu viel? Wenn ja, was war denn dann dein Ziel? Klicken Sie hier für „Häufig gestellte Fragen“.
  3. Imperativ Singular von Lateinisch facere. Tun, machen. Treffender: redere. Jemanden zu etwas machen. Zu nichts zu allem und zu dem was ich jetzt bin, vielleicht sogar zu deinem Kind. In dem Rahmen hast du mich dann machen lassen. Vor einer Woche hast du dann all das zu einer Erinnerung gemacht. Und mich dazu gemacht, zu gehen. Ich glaube nicht, dass omnia vincit amor so stimmt. Es ist mehr so omnia vincit obitus. Tibi gratiam ago. For everything you did. Te ante omnes amabo. And for what you didn’t, too.

 

 

kindergeburtstag

Sophie Schollek
2001

als würde die spannung von meiner wange ablassen mit der frage
wenn das nicht zehn minuten angedauert hätte stattdessen
zehn jahre wäre ich
gebunden an deine mütterlichkeit im bett geblieben und hätte zeit aufgewandt den körperzustand abzuspeichern, ich bin noch verwandt mit diesem seichten suchen nach weichheit 
ich bin noch verwandt mit der hand auf dem haar

das war da
ich erinnere:
seit mir die frau über den kopf strich und die haare kurz aus der stirn umarmt mich dieser abschnitt
ich glaube das hatte mit kümmern zu tun

an dieser stelle in diesem jahr waren wir nicht nachlässig
jemand war da, die weichheit meiner begegnend und sanft
-sanft gab es das halten, der streifen aus dem rosenbeet, in das ich mit sechs mit dem fahrrad inmitten der dornen
ich war ein ernstes kind, ich bin das ernste, blind die pflaster ziehen sie kleben –
ich bin härter, die knie sind ähnlich vernarbt

nicht zu verachten sind die grimassen die ich auf dem platz in der hintersten reihe herumschweifen ließ und lachen will ich und keiner, keiner

nach einer kurzen nacht wacht mir die haut um die augen nicht auf ich muss sie quetschen, und heben, hebe mich auf, die zellen erschlafft am schlafwimpernkranz
du hast da noch schlaf halte ich für das größte das mir jemand sagen kann
zu wissen
du hast da noch schlaf der nur dir vermacht ist
dir sachte in den augen hängt
die chance auf einen traum mit blick auf den moment in dem mein körper sank und das kind blutjung in dieser welt einen halt fand nun schwankend
mit verdacht auf wiederholung wie ein friedensvertrag deines körpers am tag geschafft und alt und brechend an holzplatten gelehnt

du stellst dich ab

aber nachts: ein kissen ein bett
nachts das warten auf den aufbau, du darfst
liegen
verkrieche ich mich am tag in diesen laken ist das ein wunsch nach frieden
ist das der versuch dem verzagen einen vorschlag zu machen an dem ich mich nicht steche wenn ich warte und wachse wenn ich mehr noch einbette in den ursprung damals
ich hoffe ich darf
ich darf durchlässig in der letzten reihe die grimassen
herumwälzen und fast das gesicht aus dem kopf herausgleiten lassen
essenziell ist in dieser lage die nahrung
dass mir meine arme und beine nicht zu dorrigem holz verwachsen
greife gleich zweimal in das knetgummiglas und forme mit den händen kleine tiere, die ich in der kindheit liebte, die früher auf geburtstagen

man darf
das ruhig erfreulich nennen
uns missverstandenen, uns behängt man mit den roten flaggen von nicht können, obwohl ich stehts getan habe
ich habe errichtet was im ansatz damals
die hand auf dem haar versprach

der neue brauch wird nun: ich vergrabe die tiere tief in der tasche
und wenn ich gebrechen verbuche umklammern die äffchen mich
knetgummimasse an ausgewachsenen handballen die nur ein paar meter länger als da
ich bin noch das gewohnte kind wenn ich
den scheitel betrachte auf dem du abends die hand abgelegt
ist wo du warst eine lücke entstanden in der sich ein bisschen wärme gesammelt mit der ich nun heize bis
die hitze den sommer beginnt
und ich barfuß im park die gummitierchen der reihe nach im gras absetze und sage
lauft
lauft mir davon
wir finden den weg

wir legen die hände nun selbst auf das haar
deine ist meine
wenn ich dich erzähle
ist das ein weg

in uns wohnt eine mütterlichkeit die ich nur aus der zeit herausholen kann wenn ich ein paar träume und tage den zehn minuten am anfang gedenke

es sind bald zwanzig jahre

pinnwand in einem leeren zimmer

Fanny Walger
2004

vor dem einschlafen kämpfe ich mich hinter die wände
von heuristiken hindurch in meinen neocortex,
dort feuern neuronen beim gedanken an dich

ich stehe in deiner wohnung, hinter der quietschenden
tür ist sie externe festplatte für mein gedächtnis /
loci-methode für frenetisch brennende nervenzellen

dein blauer sessel ist die aufnahme deiner stimme :
die zu machen ich versäumt habe

die erinnerungen an die dinge über deinem fernseher /
neben dem blauen sessel / die ich hätte haben können

sich an seine ganze umwelt zu erinnern überlastet das gehirn

ich wünsche mir / überlastung

die aphasie deiner tänzerischen hände :
wie sie den glastisch entlangfahren

vor dem einschlafen zwinge ich die neuronen in meinem neocortex
zum feuern beim gedanken an dich

die dinge über deinem fernseher und neben
dem blauen sessel hat mein vater vor zwei wochen
aus deiner wohnung getragen

die wohnung ist aufgelöst die treppe heruntergetragen
ich bin aufgelöst und irgendwie
heimat / los

ich stehe in deiner wohnung vor der quietschenden tür
je öfter ich herkomme desto länger suche ich den schlüssel

jedes mal wenn ich mich an dich erinnere
verfälsche ich wer du warst
sich zu erinnern macht erinnerung fragil

ich habe angst mich zu erinnern

restaurantbesuche finde ich unten im handschuhfach
und fahrten vorbei an den lichdeinetern desdumpf flughaenfens
auf dem fensttepperboden icbrettklhimspranachts
dsclhpoesascikükndethänmuntidglcasmhochdogloasgclashble

ich versuche nichts zu vergessen

als kind dachte ich gedanken wären flugzeuge /
die erinnerung an dich liegt in einem lagerraum
über dem bermuda-dreieck

 

Schreibe, um zu träumen.