Unsere Gewinner*innen im April 2021
„die zukunft nistet sich in deinen poren ein sagst du und meinst meine wachsenden glieder“. Im April haben wir euch um Zukunftsgedichte gebeten, inspiriert von dem Text „Oui share“ der Lyrikerin Karla Reimert. Wie sieht eure Lebens- und Arbeitswelt zukünftig aus? Wie kann eine mögliche ferne Realität aussehen? Erreicht haben uns zahlreiche Texte, in denen ihr das Thema „Zukunftsprognose“ ganz individuell, bezogen auf den/die Einzelne*n, behandelt. Viele von euch haben sich die Frage gestellt: Wie sieht die Welt aus, wenn ich erwachsen oder älter bin? Wie werde ich dann leben? Was bleibt noch übrig von der Welt, wie wir sie jetzt kennen? „Was wäre, wenn ich meinen Kindern Bilder von mir zeige, schnell aufgenommen im „Wald“ (Mami, was ist ein „Wald“?)?“, wird in einem Gedicht gefragt. Um zu konservieren, was jetzt ist, denkt sich ein Gewinnerinnentext in eine Zeitkapsel: „inhalt einer zeitkapsel, oder: was ich fand“. Ein anderer Text geht der Frage nach, was in diesem Jahrhundert noch passieren wird und kommt zu dem Ergebnis: „Werden Uhren schweigen / Werden Steine gehen / Werden Flüsse stehen“. Wir gratulieren den sechs Gewinner*innen im April 2021 und wünschen viel Spaß beim Lesen ihrer Texte!
Liebste Lilly, denkst du, dass glatzköpfige Leute ihre Haare verlieren, weil sie zu viel nachdenken?
Was wäre, wenn Schafe in Zukunft wirklich Plastikflaschen anstatt Wolle tragen? Wenn meine Buchseiten leuchten und die Zahlen tanzen? Was wäre, wenn ich den Mund öffne und mich ein Mann durch die Kamera beobachtet, der nach Jazzmusik riecht und sich nach Desinfektionsmittel anhört?
Könnte ich dann immer noch bestehen? Könnte ich atmen und weinen, wie ich es jetzt auch tue? Könnte ich die Sonne sehen, oder nur die Lampe des Aquariums?
Was wäre, wenn ich meinen Kindern Bilder von mir zeige, schnell aufgenommen im „Wald“ (Mami, was ist ein „Wald“?)? Was wäre, wenn sie über mich lachen würden? Schau mal, was hast du da am Auge? Was ist das für ein grünes Ding?
Würde ich dann immer noch bestehen? Würde ich lächeln und Schmerzen spüren, wie ich es jetzt auch tue? Würde ich es selbst tun oder gibt es dafür dann eine App?
Was wäre, wenn mein Unterarm meine Brieftasche wäre und Wind, Wasser und Sonne durch meinen Hund fließen? Was wäre, wenn ich meinen Strohhalm einfach essen würde und meine Hosen biologisch abbaubar aufbaubar und molekular farblich dem Wetter angepasst wären?
Sollte ich dann immer noch bestehen? Sollte ich genießen und leben, wie ich es jetzt auch tue? Sollte ich mir noch Mühe geben, oder ergibt das keinen Sinn?
Liebste Lilly, was wäre, wenn ich alle meine Haare verliere?
Letztendlich kehrten wir nur an den Anfang unserer Evolution zurück
18:40 Uhr, 11. April 2207, Nahe der Plastikrasenfirma GRAMER
Ein Schmetterling lässt sich auf einem Plastikhalm nieder.
18:42 Uhr
Glücklich nicht das einzige, lebende Geschöpf zu sein,
kriecht ein Käfer aus seinem Loch.
Gleichzeitig sichtet Herr Miller auf seinem Rasen die beiden Flecken.
Kreischend rennt er ins Haus.
18:43 Uhr
Schlotternd presst sich Herr Miller an die Wand.
Der malträtierte Lichtschalter ruft um Hilfe.
Kurz – lang – kurz,
flackert das Haus.
18:45 Uhr, im Nachbarhaus
Frau Blu verfällt in Hysterie.
Mit gefälschter Oberhand ruft sie die Polizei.
Kurz darauf sprechen die Wände blau.
Weiß, blau.
18:51 Uhr, bei Herrn Miller
In Schutzanzügen wird Herr Miller aus seinem Haus evakuiert.
Seinem Hinweis von den beiden Flecken
folgen die Männer mit Atemmaske in den Garten.
18:55 Uhr
Der Käfer wird für einen Erdhaufen gehalten.
Geplant ist ihn mit Chemikalien zu vernichten.
Der Schmetterling soll eine abnormale Verfärbung
des Plastiks sein.
Lebensgefährlich, versteht sich.
18:59 Uhr
GRAMER wird angeklagt.
19:03 Uhr
Der Oberkrawattenträger inspiziert die Flecken.
Und klagt seinerseits die Polizei
wegen voreiligem Handeln an.
19:08 Uhr
Die beiden Flecken regen sich.
Keine zwei Sekunden später schallt die Notfallsirene
über die Stadt.
19:17 Uhr
Die Nachrichten berichten laufend von einer Naturkatastrophe
und greifen auf Bilder aus dem 21. Jahrhundert zurück,
in dem solche Zustände alltäglich waren.
Meist folgt der Satz: „Gott sei Dank, haben wir das hinter uns.“
19:24 Uhr
Paranoide Menschen fangen plötzlich überall an
solche Flecken zu entdecken.
Ein Massenlockdown wird angezettelt.
Die Medien spielen verrückt.
19:30 Uhr
Fließband-Brötchen der Feuerwehr
sollen die Menschen beruhigen.
19:38 Uhr
Massenpanik wird in Hochhäuser eingemauert.
Hubschrauber suchen nach Flüchtlingen.
Die Lichtkegel der fliegenden Fahrzeuge
werden für Ufos gehalten.
Verschwörungstheoretiker fühlen sich plötzlich verpflichtet
den Untergang der Welt ins Radio zu bringen.
Störsignale sind das Ergebnis.
19:40 Uhr
Verwirrt von den Störsignalen
rufen Menschen sämtliche Radiosender an.
19:42 Uhr
Die Leitungen sind überlastet.
In Berlin explodiert ein essenzieller Computer.
Firewall dahin.
Verschwörungstheoretiker können nun ungestört
ihre Nachrichten verbreiten.
19:47 Uhr
Frau Blu rennt jetzt doch schreiend auf die Straßen,
obwohl es verboten ist.
Wenn sie schon stirbt,
dann ehrenvoll.
Den Schmetterling sieht sie nicht, der an ihr vorbei Richtung Süden fliegt.
Womöglich schüttelt er den Kopf.
inhalt einer zeitkapsel, oder: was ich fand
-ein briefumschlag mit kleinem durchsichtigen fenster für die adresse
-ein leerer heftrücken
-sticker, von laternenmasten und laptoprücken abgepult, die rückseiten fusselig, zu teilen politisch
-deine daumenkuppe, blau angelaufen
-etwas leuchtendes
-das letzte lied, das ich in den händen hielt
-abgekaute fingernägel, von wem unklar
-die hülle, die ich am meisten berührte
-formen der datenspeicherung, vermutlich einige unsere gesichter enthaltend
-ein zettel, auf dem ich dich etwas notieren ließ und dann die konturen der buchstaben ausmalte
-ungefähr 370.000.000 suchergebnisse (0,4 sekunden)
-ein kakteenstachel
-eine leselupe
-etwas, das ich dir zum tausch anbot
darüber schwebend, unweigerlich, eine wolke
wachstumsprognose / zerfallsprognose
was noch wachsen kann:
das nicht enden wollende efeu in deinem kopf es wächst mit jedem regen dein lottospielen die
metallischen gewinne die durch deine finger rinnen
das burnout am morgen brennt zigarettenflecken in dein hemd du hängst es an die wäscheleine und lächelst weiter du wäscht dein lächeln mit aber nur bei dreißig grad wärmer darf uns nie werden sonst würden unsere pole schmelzen oder wir zu magneten werden und das wäre gefährlich dann würdest du plötzlich schlittern statt mit beiden füßen fest im leben zu stehen und dafür haben wir beide die falschen schuhe dabei
dann würden wir auf dem glatteis zittern und das braucht kernenergie oder einen cursor der blinkt wir wären nicht länger ein leeres museum oder lose ziegel also bleiben wir liegen und wickeln unsere körper ein in das efeu das über deinem kopf wächst ich bedecke die blauen flecken sage das leben hat mich mit füßen getreten lache und wachse
die zukunft nistet sich in deinen poren ein sagst du und meinst meine wachsenden glieder ich ziehe die tage lang ich werde durchsichtig; du suchst mich
aber new york ist eine wachsende stadt die meine kapazitäten strapaziert die prognosen ziehen meine glieder immer länger ich lag auf dem rücken im central park und dann haben meine hände plötzlich das empire state building berührt die stadt drückt mir die luft ab hält mich im würgegriff
die stadt ist ein gewächshaus ich habe das efeu auf den fensterbänken der büros der hochhäuser gewässert mit meinem chlorophyll jetzt schimmern die bildschirme grün ich habe die monstera verschlungen und die kakteen weichgekaut die erde klumpt das tiefe braun die mimose zittert ich auch
du verschlingst die wolkenkratzer ich spucke sie in dubai wieder aus der heiße staub in deinem atem versiegt du gehörst zu der seltenen sorte mensch die sich selbst nicht kennt aber auch nicht zu suchen braucht und im zuge dessen setzt du beim nächsten regen die stadt unter wasser und weil du so flennst bleibt die flut für immer dein blick sprengt das world trade center und die skyline bröckelt ich auch
Fluchtwegkenntnisse
Tannenzweige federn wieder pfeifend,
wo das kaltkomprimierte Nass,
sich stapelnd, nach dem Boden greifend, mit altbekanntem, dumpfen Bass,
der Schwerkraft ergibt.
Da hat die Kälte das Leben besiegt.
Unser chromglänzender Intellekt – unbeständig –
widerstandslos eingeknickt und
von zentnerschweren Anarchien erdrückt.
Die immer gnadenlos geraden,
rauchschwadigen
Straßen sind
restlos verloren, am Horizont zerrissen.
Die immer gnadenlos geraden,
rauchschwadigen
Straßen wurden
mit amüsierter Präzision (fast schon ironisch) flachkantig geschliffen.
Kühlkristallisiert hat sich der Boden zu Bergen erhoben
und
kurzerhand
unser zentral zementiertes Ego ins Gestern geschoben.
Die Nachrichten kündigten weltweit anhaltenden Niederschlag an.
Dies- und Jenseits des Äquators lagen frisch gefallene Tatsachen:
“ (…) Nah- und Fernverkehr ist eingestellt.
(…) inzwischen weit über Küsten schwellt.
(…) lebensfeindlich. Experten sagen (…) unwahrscheinlich.“
Es folgten Glasfaserkabelrisse,
Charterflugverhältnisse,
Zeitzeugenverzeichnisse,
gesponnene‘ Geheimnisse
und schließlich Fluchtwegkenntnisse.
Aus den Scherben unserer Silhouetten,
spannten wir ein schmales Zelt,
verankerten die Schicksalsketten.
u n t e n
irgendwo zwischen Eisdecke und Erdkernfeld.
Zukunftsvisionen haben wir nicht.
Alles was wir hatten ist ratlos erstickt.
Wissen nur:
Das Konzept Wachstum
hat Gleichgewichte für Profite verschoben,
überrundet und umstellt von seinem eigenem Schwung,
hat es sich selbst aus den Angeln gehoben.
Tannenzweige federn wieder pfeifend,
wo das kaltkomprimierte Nass,
sich stapelnd, nach dem Boden greifend, mit altbekanntem, dumpfen Bass,
der Schwerkraft ergibt.
Da hat die Kälte das Leben besiegt.
In diesem Jahrhundert
Werden Uhren schweigen
Werden Steine gehen
Werden Flüsse stehen
In diesem Moment
Schöpft sich ein Sommerwind
Aus deinen Haaren
Und Augen von dunklem Kristall
Flimmernde grüne Erden speisen hinter
Deinen Brauen azurnen Horizont
Und alte Stimmen hallen
Als stünde deine Stimme
Im Kerzenlicht
Einer verlassenen Erinnerung
Im Rausch von Blättern
Einer rostig blühenden Sonne
Verklebt im Staub der Melancholie
Träume ich deine Wangen zu Lehm
An einem Morgen
Sinken wir aus den Wolken
In ein Straßenecho
Schäumend vor Hitze
Um Farben aus den Jahren zu zählen
Zeiger fallen auf Rot
Stürme bleichen das Gesicht
Finger ergrauen zwischen Mooren
Schlangen steigen aus vergilbten Brunnen
Silberringe verstummen wie gesprungene Saiten
Nachts verlieren wir den Atem
Zur Dämmerung sehe ich sie
Aus staubigen Gräben siedenden Teers
Aus stickigen Häuserdächern starren
Hinauf
Zur Schande über ihnen
Hinab
Zum Ekel unter ihnen
Und in ihnen schmatzt Leere laut auf
Ihre Begierden dampfen aus den Fenstern
Doch ihre Tränen sind wie kaltes Wachs
Ihre gebrochenen Adern schürfen Blut
Aus fremder Armut während Ignoranz
Bis zum letzten Mittag
In ihren Kleidern spielt
Kein Schnee
Kann noch ihre Herzen waschen
Kein Scheffel
Füllt sich noch durch ihre Blicke
Mit neuen Messern reißen sie alte Wunden
In verfaulte Hände
An den Wetzblöcken der Kunst stumpfen sie
Ihre tägliche Schuld
Und schärfen gutes Gewissen
Wir sind sie
Und ich schreibe und schreibe
Über unsere klanglosen Fersen
Starre schmatzend aus dem Fenster
Es wird Morgen, Mittag, Abend
Und ich weiß und weiß
Nichts mehr
Vielleicht
Schweigen Uhren
Gehen Steine
Stehen Flüsse
In diesem Jahrhundert
In diesem Moment
Laufen wir schreiend
Mit einem Stein in der Faust
Durch das tobende Meer
Herzlichen Glückwunsch an Nelya Boese, Helen Duppé, Rosa Engelhardt, Rosa Lobejäger, Nina-Sophie Raach und Felix Schwägerl! Wir gratulieren euch zum lyrix-Monatsgewinn im April 2021!