Unsere Gewinner*innen im Juni 2021
Im Juni drehte sich bei lyrix alles um die Lüge. Ausgehend von dem Gedicht „Die Lüge brüllt“ von Asmus Trautsch handelten eure Gedichte von Heuchelei und Selbstbetrug, politischen Kampagnen und zarten zwischenmenschlichen Täuschungen. Die „fehlreflexion“ habt ihr in den Fokus gerückt und die Forderung „wasch dir die iris aus“.
Wir durften von „flauschig weichen Watten“ lesen, „die zusammen mit dem Blau vom Himmel“ geholt werden, um anschließend die Ohren zu verstopfen, von sich verkeilenden „krallenhänden“ und vom „lächeln von lindner“.
Wir wünschen viel Freude beim Lesen der ausgewählten Texte und gratulieren den sechs Gewinner*innen herzlich!
Die größten Lügen waren
das Zeitalter der Aufklärung
im Geschichtsunterricht
die Konstruktion über Kant
und dass nicht gesagt wurde, dass er gesagt hat
die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit
in der Rasse der Weißen
WHITE FRAGILITY
Junge du bist nicht rassistisch jaja
die Lügen waren auch die
Regenbogenflaggen am Bundestag
und das Lächeln von Lindner wenn
er über Freiheit spricht
die Fäden aus Furcht vor dem Sich-Fallen-Lassen
in eine heilige Welt gezogen aus
Taylor Swifts Sorglosigkeit auf meinem Nachttisch
die Nähe der Gesichter aus Glanzpapier
und ein abgestumpftes Gefühl der Belanglosigkeit
aus dem CD-Spieler
die größten Lügen waren
Diversität bei Denns Bio
mein Schatten in der Schaufensterscheibe
und das Versprechen der Deutschen eine
friedliche Welt nach Auschwitz aufzubauen
es waren auch Gott, Jesus und die Jungfernhaut
der kleine Finger-Schwur mit meiner besten Freundin
und sowieso jeder Schwur, der sich so nannte
die größten Lügen waren
Europa als ein Projekt des Friedens
keine durch Grenzen und Mauern sich abschirmende
Festung die die Menschen im Feuer verrecken lässt
und dass es sich lohnen würde ein Teil davon zu sein
die größte Lüge war
dass wir alle gegen Lügen sind
dass wir nicht inmitten einer
aus strukturell verankerten -ismen-Kultur
der Bundesrepublik Deutschland sozialisiert wurden
eingebettet in den institutionalisierten Fetzen
wahrer und falschen Geschichten
nur um jeglichen Vorwurf abzustreiten
nur um mich bezichtigen zu können
dann sei es wohl so:
ich bin eine Lügnerin
pinocchio
verholz mit jedem wort das deine zunge
raspelt, in sägespänen baden wir
lass uns die jahresringe zählen
die dunklen herbste die du unter der
haut trägst, zusammen aßen wir baumkuchen
dein fisch hat lange kein tageslicht gesehen
lugt nur zwischen den rippen hervor, da
wo du ihn zappeln lässt
hör ihn japsen durch den krater den dein
angelhaken schlug, zusammen
schnitzten wir initialien
unsere bernsteinzucht gescheitert
doch in der rinde sickert es noch
Buch Lügen 7, 1-26
Ihr Rachen ist ein offenes Grab. Was es herausschafft, ist verwest und längst gestorben, was es verschluckt, wird nie wiedergesehen. Ihre tausend gespaltenen Zungen, mit denen sie ihre Wunden lecken, triefen vor Honig. Von ihren Lippen tropft Schleim, damit die Lüge besser über die spröden Lippen gleitet.
Der Samen des Hasses keimt im Herzen und lähmt was sich regen sollte. Die Taubheit breitet sich aus und Blindheit wächst aus dem See ihrer Iris, blüht in Einsamkeit, Verzweiflung, und trägt die Frucht der Lüge aus.
Ihre Haut holt hustend Atem durch Kohleschlöteporen. Im Schweiße ihres Angsichts gehen Grausamkeit und Verleumdung Arm in Arm spazieren. Kühl grüßen sie die Ignoranz wenn sie vorbeigeht.
Sie drehen sich Zigaretten aus Depression und Gedanken und ziehen daran wie an Rettungsleinen. Das Geschwür in ihrer Brust aber kommt von der Angst, die sie inhalieren und es steigt ihnen zu Kopf. Dort filtern sie den größten Dreck.
Das Feine aber zu Kleine fällt durch das Raster der Gehirnwindung und verliert sich in der dort herrschenden Leere. In ihren Ohren sammeln sich die Staubkörner zur Wüstenei. Sie sind verstopft mit flauschig weichen Watten, die sie zusammen mit dem Blau vom Himmel holen.
Sie kleiden ihre Ohrmuscheln damit aus, auf dass sich Flöhe dort einnisten die ihnen Tag und Nacht zuwispern. Und jedes Wort ist ein Gleichnis, das auf ihre Schultern rieselt und ihren Selbstwert noch weiter erdrückt.
Blut tropft von ihren Finger auf unfruchtbaren Boden. Es hört nicht auf aus ihren Handflächen zu fließen, wo eiserne Nägelworte schwarze Löcher hinterlassen haben, als man sie an das Kreuz der Freiheit nagelte.
Sie haben schwer daran zu schleppen und ihre schlürfenden Schritte wirbeln den Staub längst verbrauchter Gefühle auf. Ihre Knie sind weich und rundgeschliffen vom Kriechen, lange haben sie das Aufstehen verlernt.
Sie vergeben nicht, denn sie wissen nicht was sie tun.
Und eines Tages werden sie sagen zu den Hügeln: Fallt über uns! Und zu den Bergen: Bedeckt uns!
Und zuletzt werden sie schweigen.
gradwandern
deine hand auf meinem
und dein blick so
es tut mir fast leid
deine umstände ungeahnt
denkst an deine oberhand
hältst mein herz für unterpfand
wasch dir die iris aus
mein achtsamer schenkelstreichler
ich provoziere poesie
wie magier*innen geister
es hat nicht viel von liebe
zwischen diesen vier händen
doch es lohnt wohl
ein paar worte zu verschwenden
denn ich brauche die zeilen
und du brauchst das gefühl
dir selber zu zeigen
wie du mich verführst
also wickel mich worum du willst
nur du darfst es nicht erfahren
dass deine masche eigentlich
hauptsächlich die meine ist
seit der steinzeit hast du mich nicht mehr geliebt
du brüllst brocken an lügen aus deinem mund
& mir fehlt der anti-naivitäts-meißel
um aus ihnen die zwischenräumige wahrheit herauszuhauen
das hilft meinem kopf eine pseudo-skulptur von dir aufzubauen
& jeden mittag zu ignorieren
dass ich das erbrochene deiner seele auflöffel
weil deine gefühlsausbrüche sie mir servieren
ich weiß: du hast es nicht verdauen
& nicht in ein sanfteres unsteiniges material verarbeiten können
dass deine mutter an steinstaub in ihrer lunge gestorben ist
aber du bist auch meine mutter
& deine lippen bewegst du zu hastig
sie sind von vorgegaukelter liebesspucke gesäumt
doch mein emanzipationswille wird lethargisch
& spucke und steinstaub modern in meinen hohlorganen
ertränken meinen atem
fehlreflexion: unsere beziehung ist zu alt um kanten zu brechen
& oberflächen & wogen zu glätten
also bleibe ich ton- & freiheitslos bei dir
im erdgeschoss der stabilität
(dort wo tageslicht utopie ist)
leg ich mich in den staubigen schatten deiner lügenbrocken
& sehe zu
wie er meine haut drechselt & abschält
Mein Unterbewusstsein ein Atomendlager
Mein Organismus ist eine zuverlässige Kläranlage
Mein Unterbewusstsein ein Atomendlager
Stunden brauche ich dafür,
das Gift zu verdauen, das du in mich rammst.
ich spüre, wie es mich von innen zersetzt,
aber solange nichts tropft, wird es wieder gut
Ich habe noch nicht verstanden,
mit welcher Taktik du deine Bomben abwirfst,
deswegen springe ich mit einem Regenschirm zwischen den rauchenden Kratern her,
aber wenn es vorbei ist, sammle ich die Fetzen auf
und es wird wieder gut
Wörter, Gesten und Grimassen ätzen sich durch mein Gehirn und hinterlassen es taub
Mit Krallenhänden verkeile ich mich in der Wahrheit,
die nicht deine ist und deswegen bedeutungslos
Es tut mir Leid, es t ut mir Le id
Und es wird doch wieder gut
Mein Herzchen nennst du mich
Wir verstehen uns und lachen und ich spreche mit dir, wie mit keinem sonst
Aus meinen Gedanken wirst du mir morgen den Strick drehen
Mir die Worte im Mund umdrehen
Und ich habe es, wie sonst, nicht kommen sehen
Wir gratulieren Ruta Dreyer, Rosa Engelhardt, Alva Konzempel, Lena Riemer, Sarah Stemper und Marilu Zouyene zum lyrix-Monatsgewinn im Juni 2021!