Unsere Gewinner*innen im Juli 2020

Wettbewerb im Juli 2020

Unser Thema im Juli war inspiriert von Kenah Cusanits Vision der Zukunft im Jahr „2979“. Ihr habt uns in euren Gedichten geschildert, wie ihr euch die Zukunft vorstellt – darunter waren neben sehr persönlichen Texten vor allem viele kritische Stimmen zu lesen, die Aufmerksamkeit für aktuelle Themen wie Nachhaltigkeit, Naturschutz und Verantwortung für unseren Planeten fordern.

Wir danken euch allen sehr für eure spannenden, engagierten Beiträge und gratulieren den sechs Monatsgewinner*innen: Ronja Lobner, Daniel Kalak, Merit Lachmann, Gesa Schlömer, Ernad Brandaric, Charlotte Florack!

Und das Anthropozän geht zu Ende, sage ich

Ronja Lobner
2002

Und stirb,
bis du begreifst was das bedeutet.
Ich
löse deinen Körper in Dimethylquecksilber
und immer noch hältst du dich daran fest, ich meine
am Mensch sein.
und ohnehin denkst du
das wäre notwendig, dabei sind es nur Körper und absurde Dissonanz.
die Menschen sind:
eine Prognose
oder ein Übergang
oder das Angstgefühl einer homogenen Masse.
Was bedeutet das schon, ich meine
das Fühlen?
und sag mir, warum du das nicht aushältst, wenn du spürst,
hat sich dein Geist nicht entkoppelt,
warum lässt du ihn nicht? Weil es weh tut, aber
was bedeutet das schon, ich meine
das Subjektive?

und sag mir, was ist schlimm daran, ich meine
wenn alles zerfällt.
und sag mir, was würde dann fehlen?
Das ist eh alles so schrecklich materiell.
Und was bedeutet das, also ich meine
Mensch zu sein?
Was hindert dich daran, körperlos zu denken, ich meine
ist das nicht alles Veränderung, eine ewige Metamorphose,
ein zerfließendes Stück Anthropozän, eine selbstinduzierte Polytoxikomanie und eine daraus entstandene Frequenz?

und du stirbst schon wieder, ich meine
als ob das jemals anders war.
Körper bedeuten Enden,
und sag mir, was ist so schlimm daran, wenn
du kein Herz mehr hast,
wenn nur dein Geist bleibt,
wenn nichts durch deine Venen schießt, dass dir beweist, dass du lebst?
sag mir,
wovor hast du Angst?
Was ist wirklich noch so toll am Fühlen und am Körper und überhaupt, wenn das Dimethylquecksilber deine Haut wegätzt?
sag mir, was

ktema es aiei

Daniel Kalak
1999

die liebe zur unsterblichkeit, die mich
erfüllt, ist nur platonisch. zeig mir doch
den ersten webstuhl und den ersten text:
was bleibt, ist nur der stoff, nicht das gewebe;
wer nähren will, muss rotten, nicht versteinern.
bald graben sie nach uns. und unsre zellen,
die in der schwebe stehen, werden längst
gefallen sein: die große amnesie.
das wissen wir. sie werden ton und bilder
empfangen, die nicht aufgenommen, sondern
die aufgegeben sind, in erdengräbern.
sie werden ahnen, was wir heute wissen,
und werden finden, was wir gestern fanden.
wo ist denn unser ninive? und wer
ist unser assurbanipal? die sprache
wird ihnen ohnehin vergangen sein.
ein dialog braucht immer zwei. es ist,
als sprächen wir mit einer wand. vielleicht
will er ja auch zurück, der nächste mensch?
vielleicht will er ja klagen, aber kann
nur traurig blinzeln vor der zeitenmauer?
vielleicht wird er ja niemals kämpfen müssen,
doch nur der abakus ist noch sein freund?
wie gut, dass der gedanke uns nicht weckt:
er hat noch einen mund, und kann nicht schreien.

Selbstkritik

Merit Lachmann
2005

I. 2020
Wir,
Jugend,
Die Vorlage zur Kritik.

Jugend,
Kritisiert,
Julias neue Haarfarbe.
Diskutiert,
Ob man lieber roten oder pinken Lippenstift tragen soll.
Brüskiert,
Sich über Anton,
Weil er,
Nicht die neuesten Adidas – Schuhe gekauft hat,
Seine alten lieber aufträgt,
Weil er nicht
konsumiert.
Jugend,
Pauschalisiert,
Alles.
Denn es ist alles uncool,
Außer sie selbst.
Jugend blasiert.

Jugend,
Verliert
Den Fokus.
Riskiert,
Die Welt,
Weil sie sich nur,
Um Julias neue Haarfarbe kümmert,
Nicht um Alternativen zu Atomkraft.
Kapiert Den Ernst der Lage nicht,
Dass die Zeit davonläuft,
Und Antons nicht gekauften Adidas – Schuhe
Die Welt,
Ein minimalistisches Stückchen besser machen.
Regiert
In der nächsten Generation
Die Welt zu Tode,
Da sie nichts anderes können als,
Sich für den roten Lippenstift anstatt des pinken zu entscheiden.
Demonstriert
Auf Klimademos,
Zu denen sie extra mit dem Flugzeug hingeflogen sind.
Ignoriert,
Warnungen, Empfehlungen, Wichtigkeiten,
Die helfen könnten
Die Erde zu retten,
Halbiert,
Die Weltbevölkerung,
Bis sie schließlich ganz
Ausstirbt.
Jugend polarisiert.

Jugend,
Wir,
Ein Schlachtfeld für Kritik.

II. 2500
Jugend,
Niemand mehr,
Der existiert.
(Hätten sie sich mal lieber für den pinken Lippenstift entschieden.)

Tote Bilder

Gesa Schlömer
2002

Sie geht, Blumen aus Tinte
in ihrer Haut.

Dicke Froschaugen glubschen gierig;
nein, kein echter Frosch
es ist nur ein altes Sprichwort
dessen Sinn keiner mehr kennt.
Denn Frösche sind ineffektiv;
sie atmen künstlichen Sauerstoff,
der bezahlt werden muss.
Sie sind keine Menschen,
also können sie nicht arbeiten und
besitzen keine Visa-Card.

Deshalb gibt es sie nur noch
im Glaskasten des Museums,
in der dünnen Luft bewegen sie sich nicht,
tausend Wetten ob sie ausgestopft sind
oder nur aus Sauerstoffmangel und
Langeweile wie eingefroren verharren.
Jedenfalls verstecken sie sich nicht
hinter dem kümmerlichen Stein,
durch den das Ganze wohl authentisch wirken soll.

Kurz haben sich die Pupillen bewegt,
in Richtung der Frau mit dem Tattoo;
auch wenn meine Schwester dagegen schwört,
natürlich! Sie würde zehn Mäuse verlieren.

Diese Plage war schwer auszurotten,
es hat nicht gereicht alles zuzupflastern
und eine endlose Perlenschnur grauer Klötze aneinanderzureihen.
Aber wir haben es geschafft.
Nun nagen sie nicht mehr an unserem Käse,
beziehungsweise der pflanzlichen Alternative;
denn Kühe sind ineffektiv.
Sie fraßen uns nur die Blumen von der Wiese.

Acht Beine die mich nicht loslassen

Ernad Bradaric
2003

Sind es die Spinnweben oder
Die kristallenen Spinnen selbst die
Mich anfunkeln als seien alle Stoffe der
Welt aus teurer Seide und ich
Selber nur aus hartem Granit

Nimm den Stoff ab schreit er
Sodann und meint mich
Ich soll mich nicht so haben meint
Er der nichts mehr zu verlieren hat außer
Einer Markenjeans und den Gürtel
dazu aber so kriegt er mich auch nicht

Sie wollen mich scheitern sehen die
Narben die auf mir lasten
noch vom letzten Mal Sonne
Sie stechen mit Äxten und mit Wut auf meinen
Sonnenbrand und wissen
Wie verwundbar meine Haut ist die
Nie sonnengebadet wurde
Stattdessen steckte ich im tiefen Loch
Von Unzufriedenheit, das
sie dann meine Heimat nannten
Und ich Spinnweben

Sind es die goldenen Weberknechte
Die unter meinem Haar zwicken oder
Die langen eiskalten Fäden die wie
Honigbestrichen Witze über mich reißen
Oder bin ich es der mit den Augen
Weiterspinnt und meine Nadel mein
Kopf ist in denen ich alle Spinnen wegzaubere

Bodennahe Ruinen

Charlotte Florack
2002

Räume sind wieder Flächen,
Dächer nur noch Hügelbauweise
und in der Mitte aller Kreuzungen eine Lichtung.
Zwischen Naturbrücken und Unberührtheitsfeldern
stehen dort die Einzelnen mit ihren bodennahen Ruinen
– die letzte Einheit hält vorsichtig das an Weisheit zusammen, was vom sapiens übriggeblieben ist
die Letzen in zersetzter Zivilisation, zerfetzter Erde, zusammengesetzter Friedlichkeit
lachen in den Baumkronen über die Handvoll Existenz, die sich nicht mal an den Horizont schmiegen kann
schöpfen Wasser und Hoffnung auch im Kreis der Lechzenden und wünschen sich, dass ihre Finger nicht zu durchlässig geworden sind.

Schreibe, um zu träumen.