Unsere Gewinner*innen im April 2020
„meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen“ – mit dieser Zeile drehte sich der Wettbewerb im April um das Thema Familie: angeregt von Caren Jeß‘ Gedicht „Moor“ habt ihr uns zahlreiche Texte geschickt, die vor allem für die Beziehung zu den Eltern eine eigene Sprache finden. Herzlichen Glückwunsch an die sechs Gewinner*innen!
Ausbrechen
Ich weiß, dass du eigentlich nicht hier sein willst
spüre wie du beginnst aus der Haut zu fahren
wenn das Glas über die Kante fällt
und die Splitter deine Knochen finden
deine Nerven ansägen
– du hattest noch nie einen guten Draht
zu mir, zu ihr, zu dir selbst
Ungebügelt, voller Flecken, ich glaube einen Schimmel zu erkennen
hältst du sie Mama hin
sie soll sie reinwaschen – deine Haut
in den Schrank hängen
du brauchst sie morgen wieder
„Es ist das Virus“, flüstert sie
„Es hat seine Lungen befallen, er kann nicht atmen.“
– Abstand halten, zwei Meter, besser wäre mehr
Ich will ihr sagen, dass ich darum weiß,
dass es auch seinen Kopf, sein Herz, den Schlaf befallen hat,
dass es nicht erst 19 ausgebrochen ist, sondern schon viel früher
auch mir, auch dir, auch ihm den Atem genommen hat
die Isolation uns nicht hatte abschirmen können
Und wie wir da so sitzen – alle zusammen
Gleichen wir den Neugeborenen
Neugeborene, die schreiend auf die Welt gelangen
blau im Gesicht, dem Kotzen nahe
unfähig Gedanken in Worte zu fassen
aber das hier ist nicht der Anfang
das hier ist kurz vor Ende
und ich weiß darum, sauge stumm an der blauen Milch
Erst wenn ich es satt habe, gehe ich in mein Zimmer
ich bin den ganzen Tag dort
schleiche mich erst am Abend hinaus
stolpere im Dunkeln über Kieselsteine
sie sind wie spitze Zähne, lose Münder im Gras
Meine Schwester hat hineingebissen
ich spüre ihre Schrammen auf meinen Fersen,
entscheide mich es anders zu machen
nicht hinüber, sondern weiter zugehen
Irgendwann mit festem Gang und fester Nahrung,
will ich weiter gehen, es anders machen
Klapperschlange klappt im unverstandenen Takt
Unten spielt ein Schlagzeug, doch das vorsichtige Kind bleibt oben.
Der Zimmerboden wird hell – jeden Tag;
das Scheinen beginnt und schwindet, egal was es berührt.
Giftige Klapperschlange klappt, schlägt unsichtbare Trommeln;
es scheint, sie ist
die einzige mit Verstand des Takt.
So schlängelt sich die Mutter irgendwann zurück
und dann kann das vorsichtige Kind ohne Angst vor einem Biss
frei
sein.
Doch die Freiheit ist begrenzt und beschränkt.
Eingezwängt ist das Menschsein,
das Kind ist eingezwängt im Kindsein.
Blau ist der Deckel der Dose, in welcher die klappernde
Schlange ihre Beute staut.
Zwar kann das Kind schnell sein,
wenn es seine vom Kindsein beschädigte Haut abstreift, und
in das freiere Sein des Menschsein sein Wesen bewegt,
doch guckt es weiterhin in den dosendeckelblauen Himmel,
in den es immer
guckt.
Und dabei hört es das Klappern der Klapperschlange.
Niemals ganz frei – denn schon zu oft gebissen – hört es das
Klapp;
mit einem nur von der schlängelnden Mutter verstandenen Takt.
Das Kindsein endet, egal wie sehr es sie bestürzt.
Und das Scheinen beginnt und schwindet, egal was es berührt.
meine mutter in drei stücken
der mann nimmt meine mutter auseinander
sachte stück für stück für stück
und desto schallender sein lachen nach den witzen
desto länger die stille der kinder am tisch
desto kleiner die stücke der mutter
morgens,
der körper meiner mutter sitzt dem mann gegenüber
er redet und sie nicht
berührt mit seiner ihre hand
in ihren augen spiegelt sich sein lachen
in seinen nicht mehr als ihr gesicht
sie sieht in seinen lippen ihre jugend
gleichermaßen dünn wie kurz
sie gibt sich dem hin an was er sie erinnert
wenn er sie bei ihrem zweiten namen ruft
ausversehen fallen ihr die augen zu
er zieht sie an der lehne ihres stuhls zu sich
herüber
mittags,
die hälfte meiner mut – ter sitzt
vor dem mann am tisch
windet die arme um seine verprechen
den rest von ihr hat er verschlungen
verspürt hat sie dabei ein stechen in der wange
und seinen atem heiß und rau
die überbleibsel ihrer angebrochenen gedanken
spuckt sie ihm heimlich vor die füße
ein beweis von frau zu raum
der mann verschluckt sich an seiner halben anekdote
als die lehne seines stuhls erst bricht
und dann zerfällt
nun liegt sie mit den glasscherben
unterm tisch
abends,
ein viertel meiner mtr sitzt
neben dem mann auf dem tisch
ein glas rotwein in der hand
seine arme greifen nach ihr
drücken sie fest an seine brust
zerquetschen achtlos die versprechen
sie werden zu gier
in der hastigen skizze seiner lust
auf der suche nach seiner eigenen wichtigkeit
gießt er ihr neue schlucke ein
und säuselt ihren zweiten namen
als der mann nach einer neuen flasche greift
findet er die stücke meiner M u t te r
neben dem begonnenen abwasch
in der küche
in einer anderen haut
tut mir leid dass ich in deiner haut stecke
das wird kurz wehtun
au
du stößt auf, dein magen quillt über
die lungen fallen ein, du röchelst nach luft
ich breche dir die rippen um dein herz zu schlucken.
im moment weiß ich zu viel über dich
du hattest brustfieber
deine wirbelsäule bog sich weit auf, zeichnete die blasse haut
die fingerkuppen blau angelaufen.
da muss sich etwas angesammelt haben
also bin ich einfach in dich reingestiegen
durch das loch in deinem bauch
diagnose: anämie
eisenmangel und keine venen aus stahl
dass du einfach zusammenklappst
ich bin immer noch flüssig und pumpe durch deine adern
spiele mit dem abriss all deiner empfindungen memory.
die sucht nach und die flucht nach metarmorphose
zwischen vorhängen und den
menschengehegen
verliert sich das licht
ein stauraum für
verträumtheiten
unanständig
vater ver-träumt auf der wohnzimmercouch
müde vom
her-rum
trinken
mehr als uns gut tut
wände lächeln mich mit ihren pickeln an
nicht gestrichen
weiß
nur von köpfen
gegen ihre kaltwirbelsäulen gepresst
haben augen einen tränenkuss
auf sie
dna-farbig also
haben meine wanderschuhe den
matsch reingebracht
mal wenigstens den
raum
mit deinen vollgekotzten kissen
parfümiert
vater grinst von skepsis gebranntmarkt
zeichnet pfannkuchen in die luft
mit zigaretten
fingier sie mit
wanderwasser
zu zermatschen
deine vollgekrümmelte nackte brust
greift nach den sternen
aber dein kopf nicht
hautgedächtnis vom schweiß
verstopft
neues leben im jetzt
wie unsere katze
hab die in ein aquarium gesteckt
mit ethanol
vergiftungen stehen ihr
vater wohnzimmerwände haben ihre
ganz eigene natur
wenn du bewusstlos
unterm teppich liegst
wie ein zitteraal
riecht weinachten nach zitrone
streichle mein zerfetztes schaukelpferd
zur beruhigung
es ist 2004 geboren
im scheidungsjahr meiner eltern
vater
ich will die metarmorphosen hören
wenn du mal kaffeebohnen ausspuckst
wie ein guter
vater
wie ein befreiter gargoyle
vielleicht kommt dann auch mal liebe raus
aber vater
alkohol ist dein wurmloch
nein ich werde keine prinzessin heiraten mutter (erster versuch das skalpell in die mother wound zu drücken)
meine mutter ist die lücke
die sie nicht einhält im supermarkt
meine mutter ist ins private eingedrungen
wieder und wieder und wieder linien verletzt
meine mutter ist das geordnete leben
das ihr gefälligst und doch bitte definitiv und sofort alle nachmachen
meine mutter ist die angst in meiner brust
da wo sie liebe für mich zu (emp)finden glaubt
meine mutter ist hinter dem graben
den wir uns beide gebuddelt haben
meine mutter ist meine verlorene haut
die sie vom balkon fegt am ersten sommertag
meine mutter ist aus den wolken gefallen
ich habe ihren fallschirm durchschnitten
(& es lebt sich so leicht
ohne diagnose
mutter)