Unsere Gewinner*innen im April 2020

Wettbewerb im April 2020

„meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen“ – mit dieser Zeile drehte sich der Wettbewerb im April um das Thema Familie: angeregt von Caren Jeß‘ Gedicht „Moor“ habt ihr uns zahlreiche Texte geschickt, die vor allem für die Beziehung zu den Eltern eine eigene Sprache finden. Herzlichen Glückwunsch an die sechs Gewinner*innen!

Ausbrechen

Annamaria Pötsch
2001

Ich weiß, dass du eigentlich nicht hier sein willst

spüre wie du beginnst aus der Haut zu fahren

wenn das Glas über die Kante fällt

und die Splitter deine Knochen finden

deine Nerven ansägen

– du hattest noch nie einen guten Draht

zu mir, zu ihr, zu dir selbst

 

 

Ungebügelt, voller Flecken, ich glaube einen Schimmel zu erkennen

hältst du sie Mama hin

sie soll sie reinwaschen – deine Haut

in den Schrank hängen

du brauchst sie morgen wieder

„Es ist das Virus“, flüstert sie

„Es hat seine Lungen befallen, er kann nicht atmen.“

– Abstand halten, zwei Meter, besser wäre mehr

 

 

Ich will ihr sagen, dass ich darum weiß,

dass es auch seinen Kopf, sein Herz, den Schlaf befallen hat,

dass es nicht erst 19 ausgebrochen ist, sondern schon viel früher

auch mir, auch dir, auch ihm den Atem genommen hat

die Isolation uns nicht hatte abschirmen können

 

 

Und wie wir da so sitzen – alle zusammen

Gleichen wir den Neugeborenen

Neugeborene, die schreiend auf die Welt gelangen

blau im Gesicht, dem Kotzen nahe

unfähig Gedanken in Worte zu fassen

aber das hier ist nicht der Anfang

das hier ist kurz vor Ende

und ich weiß darum, sauge stumm an der blauen Milch

 

 

Erst wenn ich es satt habe, gehe ich in mein Zimmer

ich bin den ganzen Tag dort

schleiche mich erst am Abend hinaus

stolpere im Dunkeln über Kieselsteine

sie sind wie spitze Zähne, lose Münder im Gras

Meine Schwester hat hineingebissen

ich spüre ihre Schrammen auf meinen Fersen,

entscheide mich es anders zu machen

nicht hinüber, sondern weiter zugehen

 

 

Irgendwann mit festem Gang und fester Nahrung,

will ich weiter gehen, es anders machen

Klapperschlange klappt im unverstandenen Takt

Lisa Bresgott
2002

Unten spielt ein Schlagzeug, doch das vorsichtige Kind bleibt oben. 
Der Zimmerboden wird hell – jeden Tag; 
das Scheinen beginnt und schwindet, egal was es berührt. 
Giftige Klapperschlange klappt, schlägt unsichtbare Trommeln; 
es scheint, sie ist 
die einzige mit Verstand des Takt.

So schlängelt sich die Mutter irgendwann zurück 
und dann kann das vorsichtige Kind ohne Angst vor einem Biss 
frei 
sein.

Doch die Freiheit ist begrenzt und beschränkt. 
Eingezwängt ist das Menschsein, 
das Kind ist eingezwängt im Kindsein.

Blau ist der Deckel der Dose, in welcher die klappernde 
Schlange ihre Beute staut. 
Zwar kann das Kind schnell sein, 
wenn es seine vom Kindsein beschädigte Haut abstreift, und 
in das freiere Sein des Menschsein sein Wesen bewegt, 
doch guckt es weiterhin in den dosendeckelblauen Himmel, 
in den es immer 
guckt.

Und dabei hört es das Klappern der Klapperschlange. 
Niemals ganz frei – denn schon zu oft gebissen – hört es das 
Klapp; 
mit einem nur von der schlängelnden Mutter verstandenen Takt.

Das Kindsein endet, egal wie sehr es sie bestürzt. 
Und das Scheinen beginnt und schwindet, egal was es berührt.

meine mutter in drei stücken

Emma Scharff
2001

der mann nimmt meine mutter auseinander 
sachte stück für stück für stück 
und desto schallender sein lachen nach den witzen 
desto länger die stille der kinder am tisch 
desto kleiner die stücke der mutter

morgens, 
der körper meiner mutter sitzt dem mann gegenüber 
er redet und sie nicht 
berührt mit seiner ihre hand 
in ihren augen spiegelt sich sein lachen 
in seinen nicht mehr als ihr gesicht 
sie sieht in seinen lippen ihre jugend 
gleichermaßen dünn wie kurz 
sie gibt sich dem hin an was er sie erinnert 
wenn er sie bei ihrem zweiten namen ruft

ausversehen fallen ihr die augen zu 
er zieht sie an der lehne ihres stuhls   zu sich 
herüber

mittags, 
die hälfte meiner mut – ter sitzt 
vor dem mann am tisch 
windet die arme um seine verprechen 
den rest von ihr hat er verschlungen 
verspürt hat sie dabei ein stechen in der wange 
und seinen atem heiß und rau 
die überbleibsel ihrer angebrochenen gedanken 
spuckt sie ihm heimlich vor die füße 
ein beweis von frau zu raum

der mann verschluckt sich an seiner halben anekdote 
als die lehne seines stuhls erst bricht 
und dann zerfällt 
nun liegt sie mit den glasscherben 
                  unterm tisch

abends, 
ein viertel meiner mtr sitzt 
neben dem mann auf dem tisch 
ein glas rotwein in der hand 
seine arme greifen nach ihr 
drücken sie fest an seine brust 
zerquetschen achtlos die versprechen 
sie werden zu gier 
in der hastigen skizze seiner lust 
auf der suche nach seiner eigenen wichtigkeit 
gießt er ihr neue schlucke ein 
und säuselt ihren zweiten namen

als der mann nach einer neuen flasche greift
findet er die stücke meiner M u t te r 
neben dem begonnenen abwasch 
in der küche

in einer anderen haut

Ronja Lobner
2002

tut mir leid dass ich in deiner haut stecke 
das wird kurz wehtun 
au 
du stößt auf, dein magen quillt über 
die lungen fallen ein, du röchelst nach luft 
ich breche dir die rippen um dein herz zu schlucken. 
im moment weiß ich zu viel über dich 
du hattest brustfieber 
deine wirbelsäule bog sich weit auf, zeichnete die blasse haut 
die fingerkuppen blau angelaufen. 
da muss sich etwas angesammelt haben 
also bin ich einfach in dich reingestiegen 
durch das loch in deinem bauch 
diagnose: anämie 
eisenmangel und keine venen aus stahl 
dass du einfach zusammenklappst 
ich bin immer noch flüssig und pumpe durch deine adern 
spiele mit dem abriss all deiner empfindungen memory.

die sucht nach und die flucht nach metarmorphose

Sarah Stemper
2001

zwischen vorhängen und den 
menschengehegen 
verliert sich das licht 
ein stauraum für 
verträumtheiten 
unanständig 
vater ver-träumt auf der wohnzimmercouch 
müde vom 
her-rum 
trinken

mehr als uns gut tut 
wände lächeln mich mit ihren pickeln an 
nicht gestrichen 
weiß 
nur von köpfen 
gegen ihre kaltwirbelsäulen gepresst 
haben augen einen tränenkuss 
auf sie 
dna-farbig also 

haben meine wanderschuhe den 
matsch reingebracht 
mal wenigstens den 
raum 
mit deinen vollgekotzten kissen 
parfümiert 
vater grinst von skepsis gebranntmarkt 
zeichnet pfannkuchen in die luft 
mit zigaretten 
fingier sie mit 
wanderwasser 
zu zermatschen

deine vollgekrümmelte nackte brust 
greift nach den sternen 
aber dein kopf nicht 
hautgedächtnis vom schweiß 
verstopft 
neues leben im jetzt 
wie unsere katze 
hab die in ein aquarium gesteckt 
mit ethanol 
vergiftungen stehen ihr

vater wohnzimmerwände haben ihre 
ganz eigene natur 
wenn du bewusstlos 
unterm teppich liegst 
wie ein zitteraal 
riecht weinachten nach zitrone 
streichle mein zerfetztes schaukelpferd 
zur beruhigung 
es ist 2004 geboren 
im scheidungsjahr meiner eltern

vater 
ich will die metarmorphosen hören 
wenn du mal kaffeebohnen ausspuckst 
wie ein guter 
vater 
wie ein befreiter gargoyle 
vielleicht kommt dann auch mal liebe raus 
aber vater 
alkohol ist dein wurmloch

nein ich werde keine prinzessin heiraten mutter (erster versuch das skalpell in die mother wound zu drücken)

Luka*s Friedland
1999



meine mutter ist die lücke 
die sie nicht einhält im supermarkt 


meine mutter ist ins private eingedrungen 
wieder und wieder und wieder linien verletzt

meine mutter ist das geordnete leben 
das ihr gefälligst und doch bitte definitiv und sofort alle nachmachen

meine mutter ist die angst in meiner brust 
da wo sie liebe für mich zu (emp)finden glaubt

meine mutter ist hinter dem graben 
den wir uns beide gebuddelt haben

meine mutter ist meine verlorene haut 
die sie vom balkon fegt am ersten sommertag

meine mutter ist aus den wolken gefallen 
ich habe ihren fallschirm durchschnitten

(& es lebt sich so leicht 
ohne diagnose 
mutter)

Schreibe, um zu träumen.