Unsere Gewinner*innen im Oktober 2020
Unsere Gewinner*innen im Oktober 2020>Womit und mit wem fühlt ihr euch „verwurzelt“? Das fragten wir euch im Oktober. Als Inspiration stand euch ein Gedicht von Anna Ospelt zur Verfügung, in dem ein Ich beschreibt, wie sein „geteiltes Leben“ bei der Pflege von Bäumen zusammenwächst. Die „Wurzel“ als Ort biografischer Herkunft habt ihr in euren Texten vielfältig interpretiert. Ein Gewinnergedicht richtet sich an eine Mutter: „du flickst die risse in meinem weltbild / sanft mit kühlkompressen“. In einem anderen wird versucht, Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Zeit sichtbar auf der Haut festzuhalten: „will die szenen auf der haut tragen, die sommertage, flügelchen und schäfchen / erinnerungen, in denen ich dich fragte / was du für wolkenbilder sahst“. Ein weiterer Text verknüpft Kindheitserinnerungen mit einem Baum, der bei der Flucht zurückgelassen werden muss: „war ich dein erstes Kind? verwurzelt mit deinen Blättern und den Blättern deiner Klone? / All das in mir gehört dir / gehörst du auch mir?“ Wir wünschen viel Spaß beim Lesen der Gewinnertexte zum lyrix-Thema „mein geteiltes Leben“ und gratulieren den sechs Monatssiegerinnen!
Musik hören
Ich sitze da also. Mit dem CD-Spieler zwischen den Knien auf einer schiefen Bordsteinkante.
Ich sitze da. Also mit dem CD-Spieler. Zwischen den Knien auf einer schiefen Bordsteinkante.
Ich sitze. Da also. Mit dem CD-Spieler zwischen den Knien. Auf einer schiefen Bordsteinkante. Ich.
Zwischen dem CD-Spieler.
Auf einer schiefen Bordsteinkante ich sitze.
Da also. Mit dem CD-Spieler. Also mit den Knien.
Auf einer schiefen. Zwischen den Knien also mit dem CD-Spieler.
Auf. Ein schiefer CD-Spieler. Ich sitze schief. Da also. Auf. Zwischen.
Zwischen einer schiefen Bordsteinkante, ich da sitze also.
Also schief.
Zwischen den Knien auf einer Bordsteinkante, mit dem CD-Spieler.
Schief.
Also.
Ich sitze.
äußerung
im sommer durchbohrten wir den himmel
stochen poren wie mit essstäbchen hinein
luftlöcher um zu mehr atem zu kommen
schoren schäfchenwolken vorausblickend um winterzeug zu stricken
lasche um lasche knüpfend, ribbelnd, wirrend
zogen wir knäulend wolle aus den tagen
dachten an winter auch wenn es noch mücken gab
die unser schweigen mit gesirr besangen
und die schlafstätten vernetzten
sodass ich dich nur geschleiert sah
fühlerchen, blut an der wand
applaus für alle die nicht an kälte starben
löcherten uns und ich kratzte absichtlich
an den stichen damit narben blieben
wir webten aus garn für kalte wintertage
die pullis aneinander, für siamesische wärme
für ein geteiltes leben ab november
ich wusste schon im sommer
ich würde die ärmel hochkrempeln
damit man die mückenstiche sähe, die poren, die erinner-
rungenschaften, die als einziges eräußert lägen
warum nicht mehr, warum nur innen?
will mir alles annähen als prothesen, als extremitäten
will mich umstülpen wie ein kleidungsstück
will alles nach außen kehren
will die szenen auf der haut tragen, die sommertage, flügelchen und schäfchen
erinnerungen, in denen ich dich fragte
was du für wolkenbilder sahst
deine antwort übertönten die mücken
Homo Poesapiens
Wort für Wort,
unter der Haut
hinterlässt ein Gefühl von
das bin Ich
im limbischen Zerebrum.
Zeilen
so lang wie Extremitäten
machen greifbar, dass
Ich bin und sein werde.
Strophen
bilden den Korpus
für das Verwerten meiner
ellenlangen Wörtergrütze,
die ich mit
Sorgen und Ängsten
würze,
in Kauf nehme,
dass sie nicht jedem schmeckt.
Inhalt
steht mir ins Gesicht geschrieben
macht mich sehr gut leserlich,
aber auch angreifbar
und trotzdem fühlt sich meine Hülle
gut behütet an.
Und das Metrum
begleitet mich im Takt
meines Herzens.
Ich bin-verwachsen mit der-Poesie.
mama
deine hände: kalt und fest
übersät
von hundert hellen muttermalen
jasminblumencreme
ölige spuren von schnee und parfüm
der schlaf in deinen augen
krümelt frühmorgens auf den haferschleim
du flickst die risse in meinem weltbild
sanft mit kühlkompressen
du legst mir die hand auf die stirn um meine gedanken schlagen zu hören um mein fieber zu messen
du kannst mich nicht weinen hören ich
dich nicht singen
du löst die glasigen tränen aus dem klammergriff mit steifen fingern
du kannst die stürme in mir nicht verstehen aber du kannst
mich in den arm nehmen mir tee
kochen und ich werde
zitronentränen auf deinen handrücken weinen meine
augen werden brennen du wirst in die dunkelheit flüstern neben mir wach liegen sagen du würdest den schmerz von meiner brust nehmen wenn du könntest und dann werde ich
das atmen wieder lernen wenn ich
breche hältst du mir das rückgrat stark
die kartoffeln warm
ich ziehe deinen pullover an
hochwasser an den ärmeln
im frühling pflanzt du dann
wieder blumen ein
ich sauge ein, genüsslich:
weihrauch und eukalyptus
zimtschnecken im vier-viertel-takt
jasminblumencreme
kräutertee
wurzeln die du vor
jahren
für mich
in deiner hohlen hand
und deiner ohrmuschel
geschlagen hast
Manie und Käfer
mit der Rechten will ich eine Mücke töten, in meinen Händen
verdirbt das Elendige, das Innere. Dass sie sich fühlt
wie ich. Tod-
dass Innere, das noch im Stande halten – Das im Stande halten
hält sich noch
ausreichend aufrecht, bis das Zittern in den Beinen der Maikäfer
die Scheisse nicht mehr tragen kann
(und sie haben schon sechs).
Eine Made aus ihrem Substrat extrahiert,
ist auch nicht mehr als ein Umstand im Wandel
und die
Mehlmotten fliegen hoch, sodass sie sich selbst nicht mehr
erkennen können
und wie ein Glühwürmchen,
dass alles Licht jetzt verbraucht, um mehr zu leuchten
tut es so als wäre die Welt konstant.
In jener Leere ergibt sich Hochmut, die die
Zweifel zersetzt.
Doch wenn die Muster an den Baumrinden sich anders verhalten,
sich verengen, behaupten die Borkenkäfer, dass das
diese Halluzination ist, die Gott empfiehlt. Dieses
sich von innen fressen lassen, von den Maden, dass liegen
im Feld abgestürzter Mehlmotten auf dem Boden de
s Melatoninmangels.
Doch was das ist, wissen nur
Die Eremiten, die sammeln die Einsamkeit,
bis ich ein weiteres Mal
Realität in der Manie verfälsche.
Mein zurückgelassener Baum und seine Klone
Ich finde dich andauernd in meinen gesammelten Briefen
Findest du mich irgendwo in deiner gestorbenen Stadt?
Ich finde dich ständig in den Straßen meiner Gedanken
Findest du mich in deinen Straßen?
Betrachte mit mir die versteckte Sonne zwischen deinen grün roten Blättern
kannst du betrachten?
Findest du auch, dass der Himmel wie ein verträumtes Kind aussieht?
Oder sieht es aus deiner Perspektive anders aus?
Ich habe dich verlassen
und fand deine Klone in jedem Land wieder
Ich spürte damals die Wärme deines Klons in Griechenland unter der kalten Brücke
Dein Blatt hatte ich noch in dem Bus in dem ich nahezu erstickte auf dem Weg nach Deutschland
Als ich ausstieg war vor mir ein Reihe von Bäumen mit schönen Blättern
war das ein Zufall?
Am Fenster meines Zimmers wächst ein Baum in das Zimmer hinein
war das ein Zufall?
der hat im Herbst entzückende rote Blätter
Im Winter ist er nackt
aber keine Sorge die schönen roten Blätter sammele ich in einer Box
Im Winter sahen dein Äste wunderschön aus
Manchmal fühle ich mich wie ein Ast im Winter
Auf einmal fallen meine Blätter auch
Aber dein Klon und ich beschützen uns gegenseitig
Beschützt dich irgendwer?
Tut mir leid, dass du dich nicht fortbewegen kannst
ich hätte auch gern dein Leben gerettet
glaubst du daran Leben zu retten?
Erinnerst du dich wie du mit deinen Blättenr mir Schatten erschaffen hast hiermit ich länger schlafe im Sommer?
Dafür habe ich deine Blätter im Herbst aufgehoben
erschaffst du anderen Schatten oder bist du allein?
Oder wie oftmals ich mit dem Fahrrad gegen dich gefahren bin
dafür habe ich dir Wasser gegeben als Entschuldigung
entschuldigen sich auch andere bei dir?
Weiß du noch das erste Bild auf meiner Kamera? du mit dem Himmel
war ich dein erstes Kind? verwurzelt mit deinen Blättern und den Blättern deiner Klone?
All das in mir gehört dir
gehörst du auch mir?
Eines Tages beschütze ich dich erneut vor dem Herbst
und du? beschützt du mich für immer vor jeder Jahreszeit?
Wir freuen uns mit den Gewinner*innen zum Oktober-Thema „mein geteiltes Leben“! Herzlichen Glückwunsch an Ruta Dreyer, Rosa Engelhardt, Merit Lachmann, Rosa Lobejäger, Ronja Lobner und Rojin Namer!