Unsere Gewinner*innen im August 2019

Wettbewerb im August 2019

„ich gehe durch meine stadt und es ist nicht meine stadt durch die ich gehe“ – so heißt es in der Zeile aus Arne Rautenbergs Gedicht „die vogeluhr. Sonnenaufgang 4.30 uhr. mitte mai.“ Auch in euren Texten verweben sich innere Stimmen und persönliche Ansichten mit der Umgebung, dem Ort, der Stadt.

Es tauchen Zeichen der Zerstörung, Verwirrung, Beengtheit auf: „Irgendwo zischen Zwiebeln in Pfannen Todesschreie.“ Irgendwo anders sucht das Heute „füße auf den särgen der träume der menschen, die hier lebten“ oder „das Hochgepriesene gemein verkafft“ Es gibt aber auch Bilder der Verbundenheit, Worte und Sätze des Ineinanders von erzählendem Ich und dem Ort, an dem es lebt oder an den es denkt: “Jede Sekunde geht Damaskus durch mich / Keine Sekunde kann ich durch sie gehen“. Wir lesen von Seelenlandschaften genauso wie von konkreten Stadtbildern und wie sich alles umeinander neu sortiert, Brüche bleiben unvermeidbar.

Lasst uns lernen, im Tee zu schwimmen

Selin Eslek
2003

In den Rissen gelber Steine verstecken sich Echsen und fauchen.  

Ihre Schreie werden vom Wind davongetragen und verlaufen sich dann auf dem Wellengang.  

Die destillierte Stille über der lilanen Stadt  

Ist angefüllt vom Brummen und Rufen des Marktes, vom Surren der Mücken, von geflüsterten Geheimnissen unter Bettdecken, von schimpfenden Mütterstimmen, vom Klirren der Schnapsgläser alter Männer.  

Irgendwo zischen Zwiebeln in Pfannen Todesschreie.  

Die Dächer der Stadt spielen Murmeln mit den Wolken.  

Die Menschen ganz oben haben noch nie den Regen gesehen und schütteln ihre Köpfe über Noah 
und seine Geschichten.  

Alle paar Tage verläuft sich eine Seele ans Meer und zieht mit den Zehen Bahnen in die Schlieren des Wassers.  

Manche von ihnen wünschen sich ein bisschen, mit Schaum gekrönt zu werden. Dabei merken sie nicht, dass ihr Herz in ihnen pocht  

pocht  

pocht so laut, dass die Leute, die über die Promenade flanieren, sich die Ohren zuhalten.  

Auf den Einkaufsstraßen stöckeln viele rote Schuhe mit langen Beinen daran.  

Vor der Leere davon.  

An den Straßenecken stehen Händler und bieten das Glück feil.  

In den Höfen hinter hohen Mauern spielen Kinder mit Mülldeckeln und trinken kalte Limonade zu schnell.  

Das Stück Himmel, das man von hier aus sehen kann, ist stählernstrahlendblau.  

Wenn die Sonne hier untergeht, wird ihr Licht nicht durch das von Sternen ersetzt, sondern es ist die Stadt selbst, die anfängt zu glitzern. Sie pulsiert in scheppernden Rhythmen.  

Meine Oma trinkt ihren Tee mit Zucker und Zitrone.  

Manchmal singt sie Lieder aus der Zeit, in der die Menschen noch eine Stimme hatten.  

windschief

Vivian Knopf
1999

der himmel stand ungewöhnlich hoch an diesem morgen
was glaube ich dazu beitrug
dass sie einfach aus ihren fugen glitt

 

ich hatte schon viermal alle meine möbel verrückt
das bett zum fenster geschoben es wieder weggestellt
weil ich befürchtete es würde nachts ebenso einfach hinauskippen
ich war in die hocke gegangen
aufs hausdach geklettert
hatte erst lange und intensiv
dann mehrmals schnell und flüchtig

 

wie versehentlich 

 

immer wieder hingeschaut
aber es half nichts
jemand hatte die maßstäbe verändern lassen
alles gleichmäßig wachsen oder schrumpfen lassen
und mich vergessen
hatte es schief zurückgehängt
und jetzt spürte ich wie es langsam
vom dünnen nagel rutschte

 

ich kramte nach alten fotos
hielt sie zum vergleich daneben
suchte nach fehlern aber fand nichts
konnte nicht einfangen was sich anders anfühlte
das licht das nicht mehr jede linie
stechend scharf hervorhob
sondern nurmehr vorsichtig streifte
die farben die über den dingen lagen
wie ein schmieriger film
den ich abzog
und in meiner hosentasche zerknüllte
meine stimme humpelte
hallte komisch nach wenn sie von den hausfassaden

 

abprallte

 

mein atem schlägt kreisrunde weiße purzelbäume
ich hielt mir die hände vor den mund
im treppenhaus stolperte ich über
die sechszehnte der fünfzehn stufen
bemerkte zum ersten mal
die wie farnwedel eingerollten klebereste an den wänden
die aprikosenkerne die sich in den ecken stapelten
mir fiel auf dass wir das letzten monat schon
mir fielen noch mehr dinge auf –
draußen regnete es
ich konnte mich an keinen einzigen tag erinnern
an dem es je geregnet hatte

 

es klang wie klitzekleine kieselsteine
die jemand gegens fenster warf
unter mir lief unbekümmert das wasser
in kleinen rinnsalen zusammen
ich atme tief ein
versuche nach vertrautem zu tasten

 

jede stadt hat ihren eigenen geruch
lasse ich es denken
übernehme den gedanken
diese hier roch nach zypressen und verbrannter luft
und sie war viel zu heiß 

alle vögel sind schon weg

Laura Meroth
2003

seit der metallische regen über die stadt hereinbrach 
und für jahre dort wütete, 
war ich nicht mehr an diesem ort 
jetzt bin ich wieder hier 
und fahre mit meinem blick die wunden nach, die die tropfen hinterlassen haben 
ich fange an, die ersten zu desinfizieren, doch gebe schon bald auf  

die stille hat sich in der stadt niedergelassen 
eine unerbittliche regentin, die jedes geräusch unterdrückt, das versucht, sie zu stürzen 
ich singe, halb aus neugier, halb aus trotz: 
alle vögel sind schon weg 
alle vögel 
alle 
(altes kinderlied, das mich das defätistischsein schon früh lehrte) 
und bekomme ihre macht in voller größe zu spüren  

_ _  

der wind streicht um die ruinen 
ratlos 
rastlos 
lautlos 
haucht er seinen atem in sämtliche ritzen und rillen 
bei dem versuch, die mauern wieder zu beleben 
ich hoffe nur, er ist ausdauernd genug 
dafür  

mein blick schneidet sich an zerklüfteten mauerfragmenten, 
aus meinen augen tritt durchsichtiges blut 
mir fällt ein: ich bin nicht gegen tetanus geimpft 
(ich reibe mir wie wild die augen, um potentielle melancholisch verunreinigte bakterien zu 
entfernen)  

die seele (m)einer stadt liegt vergraben unter einer schicht aus schutt und staub 
tag für tag befreit sie der wind ein bisschen mehr, 
doch bis dahin  

(vielleicht helfe ich ihm und grabe singend in der fremde, bis sie mir wieder vertraut erscheint)

Damaskus, meine Blume

Rojin Namer
2002

Ich sehe sie 
Die rote Stadt 
Ich rieche sie 
Die duftende Stadt 
Ich höre sie 
Die geräuschvolle Stadt  

Sie schreit nach mir  

Jede Sekunde geht Damaskus durch mich 
Keine Sekunde kann ich durch sie gehen  

Ich fühle sie 
Die niedergeschlagene Stadt 
Ich küsse sie 
Die armselige Stadt 
Ich umarme sie 
Die rettungslose Stadt  

Sie klagt mir ihr Leid  

Jede Sekunde geht Damaskus durch mich 
Keine Sekunde kann ich durch sie gehen  

Ich spüre 
Ihre Aussichtslosigkeit 
Die Zerstörung 
Den Zusammenbruch 
Die Heimatlosigkeit 
Den Verlust ihrer Söhne und Töchter  

Sie flüstert in mein Ohr 
Weine nicht, mein Kind 
Irgendwann spürst du meinen Boden, so wie ich dich spüre 
Irgendwann erwidere ich deine Küsse und Umarmungen 
Irgendwann stillen wir gegenseitig unseren Durst  

Doch ich weine nicht, weil sie durstig ist 
Denn das Blut durchfließt sie in Strömen 
So viele Leben hat sie aufgesogen 
Ich weine, weil Damaskus eine Blume ist 
Und als Blume verdient sie Wasser    

Ich weine nicht, weil sie hungrig ist 
Ihre Straßen sind voll von Leichen 
Ich weine, weil Damaskus eine Mutter ist 
Die ihren eigenen Hunger stillen muss 
Nach der Nähe ihrer Kinder 
Einen wichtigen Teil von mir verdient sie  

Und das ist mein Herz  

            Durch Berlin gehe ich jede Sekunde 
            Berlin geht keine Sekunde durch mich

Dort wo dich die Kreissäge weckt

Tom Niklas Pohlmann
1999

hängen die Straßenschilder höher 
als die Giebel der Einbahngassen 
ihre Kanten des Vorstellbaren 
fest unterm Dachboden verschnürt  

wo Toleranzgrenze und Frustrationsschwelle 
das Grundstück bilden und näher beieinander liegen 
als so manche Eheleute, nur drüber geredet wird nicht 
mehr Gerüchte machen die Runde als Einsame mit Hunden  

hier wird sich noch nicht mals 
ein Dialekt geleistet Mundart verwahrlost 
entsteht da wo nicht Heimat sein soll 
immerhin wird reingeboren und rausgestorben  

wo du niemals eine Gegenfrage erwarten solltest 
wenn der Pöbel wieder verdutzt gafft sobald der Bolzplatz 
geschlossen bleibt wie die Gesellschaft Leiden 
schafft das Hochgepriesene gemein verkafft  

und als Nachtmensch wird man hier doppelt bestraft 
wenn dich morgens die Sägelaute aufrütteln 
und Nachbarn das Ende des Friedens 
das Ende der Nacht anbahnen  

ein vergangener Ort. ein Haus mit Garten 
und doch alles außer Heimat.

keiner geblieben, keiner geblieben wie er war

Pauline Weigel
2002

steine unter nackten füßen 
unter schweren gedanken 
neben den häuserfassaden, 
an denen schatten vergangener tage 
im vorrübergehen hängen geblieben sind 
plastiktüten, haben sich über die plätze gelegt, an denen kinderhände 
den vergessenen staub 
aus fugen kratzten 
leben, war wohl ertrunken in gesprächsfetzen 
geschwängertem fußgetrappel 
längst verklungen zwischen 
kaugummiflecken auf den unbekannten doch vertrauten straßen 
einsamkeit, zwischen menschen, in masse versunken 
wenn die vergangenheit geht und die zukunft bleibt 
und das heute sucht 
füße auf den särgen der träume der menschen, die hier lebten 
die nur noch 
– vergessene erinnerungen – 
sich langziehen, wie die kaugummis, fäden 
zwischen fußsohlen und bodenplatten 
fremd geworden, sich verlebt, fortgelebt haben 
durch straßen in denen geburt 
in denen leben
in denen nicht mehr zuhause ist 
fragmente einst bekannter orte durchschreitend 
keiner geblieben, keiner geblieben wie er war 
nur alleine auf dem platz in der mitte der Stadt
nackte füße auf steinen 
die letzten gedanken aufsaugend    

dann gehen.    

und sich fragen was bleibt.

Wir danken euch für eure Texte und gratulieren den sechs Gewinner*innen: Selin Eslek, Vivian Knopf, Laura Meroth, Rojin Namer, Tom Niklas Pohlmann und Pauline Weigel!

Schreibe, um zu träumen.