Unsere Gewinner*innen im Juli 2019
Im Juli seid ihr Diebstählen und Deformationen von Wörtern, Sprache und damit
verknüpften Identitäten nachgegangen und habt die Spuren manchmal Buchstabe für Buchstabe aufgenommen und neu gezeichnet. Der Mythos der in einen Baum verwandelten Nymphe wurde Gegenwart, wie schon in dem Gedicht von Nora Zapf „dafne im federkleid“.
Eine Zeile des Gedichts „stehlen mein s beim prechen“ gab die Inspiration für viele eurer wundervollen Texte. Vielen Dank!
dach netz haut
am anfang sind es fliesen, der abguss, blätter und
meine haut. ein spatz zwischen meinen
schienbeinen gestrandet, der an meinen haaren
nagt. es regnet ein wenig, ich lechze nach den
tropfen, sie zerrinnen. ein stich in meinem magen,
ich hungere für den spatz mit. die tür bleibt
geschlossen, durch das glas verschwimmt die uhrzeit,
es spiegeln sich trübe wolken. der spatz räkelt sich,
auf dem rücken wie ein käfer.
danach sind es fliesen, der abguss, blätter, meine haut
und kein spatz. die blätter verwelken zu pflanzenkadavern,
leere hüllen. die tür wird zur front, mein atem prallt ab
und ich schiele. die fliesen verschwinden, als der durst so
groß wird, dass der abguss und ich eins sind.
der gegenstand und das wort verlieren den zusammenhang,
in meinem kopf verschwimmen bilder.
eins verschwindet nach dem anderen. dann nur noch
haut und meine zunge. die trockene zunge, die alles
verschluckt.
am ende bin ich es und die sprachlosigkeit.
mit dem bauch auf dem balkon, taub.
das gesicht auf dem boden.
ich betaste kalte federn, ich
betaste meine kälte und ich versuche es zu lassen,
loszulassen.wort für wort, dach netz haut.
erst wenn die fähigkeit verschwindet, zu sagen,
was verschwindet, kann ich wirklich verschwinden.
Streitgespräch
heute morgen führen wir ein simples streitgespräch und doch treibt
es mich in die apokalypse so schnell verliere ich
meinen zusammenhalt wenn sich der stacheldraht um meine kehle windet
meine stimmbänder unter
dem druck bersten und alles
zusammenfällt nur noch der wasserspiegel stetig steigt in meinen
augen und ich mich tausendfach verfluche
weil ich mich nie so klein fühle wie wenn ich weine. sich die sturmmaske
verzieht und mein mund ein aufgewölbter schlitz wird meine nase
trieft wenn ich mich verzerre ein monstrum werde und du dadurch nicht mehr sehen
kannst, dass sinn in meinen so karikierten worten steckt. es ist elendig.
ELENDIG will ich schreien doch die silben verrutschen mir sie ver
rutschen und nicht einmal ein ups schafft es über meine hektischen lippen
mit der syntax einer wahnsinnigen versuche ich dir klar zu machen, was mich stört, doch
ich betrüge mich, siehst du nicht? wie ich mich betrüge?
wenn die schluchzer meinen ganzen körper zum beben bringen, hören meine sätze auf,
stabil zu sein aber sieh mich
an. sieh in meine stu- sturzbachpupillen. du musst doch lesen können w-
enn du nicht hören kannst sieh – sieh
mich an. in den trümmern. bin ein gestrandeter tsunami und warte,
dass du den sinn aus diesem wirrwarr birgst, du. deine augen trocken.
ich bin eine persiflage meiner selbst vor lauter streit habe
meine fassung verloren und da stehst du so unverschämt besonnen vor mir es schlägt m
einer fass-ungslosigkeit den boden
aus
sieh in meine sturzbachpupillen. da steht geschrieben:
heute morgen führen wir ein simples streitgespräch
und darin löse ich mich auf
Schicht für Schicht
Schicht für Schicht
ge-schachtelt, ge-kachelt, ge-streift
Füße schlüpfelten in Schuhe
geh-en, geh-en bis die Zeit
nagt, klagt, stöhnt
es rieselt, pulvert, kracht
Schicht für Schicht
ge-schachtelt, ge-kachelt, ge-streift
das „Geh“ kommt mit
und aus dem „Geh mit mir“ wird
„Geh weg von mir“
und die Zeit
nagt, klagt, stöhnt
bis aus dem „Geh“
ein „Ge“ wird
Schicht für Schicht
und irgendwann
Ge- Schicht-e
entsteht
zwischen oben und unten
platzregen deiner moral ergießt sich
über mich in meinem mundwinkel
gerinnen die worte zu schweigen
deine hand zu nah als dass mein
fleckiger körper vergessen könnte
mit spitzen fingern zupfst du mir die
sil ben von den lip pen zerdrückst sie
zur gefügigkeit und reißt meinen
widerspruch in fetzen
hängt er mir vom leib ich atme
ein – aber jeder neue ver such
wird zum such en nach halt und
ver geblich die luft in den lungen
zu viel oder zu wenig um sätze zu –
nur wer bin ich noch ohne
meine stimme –
Mundraub
Gerippte Morpheme
leben fliegende Fische
unter meiner Zunge
zirkulieren in meinem Blut
Du schneidest mir
in mein Wort
mit einem Fischmesser
keilVörmig Buchstaben daraus
Du schneidest mir
in meinen Mund
quer, hebst die Zunge an
entgrätest mich
Ohne Skelett mein
Satz ohne ohne
Verb ohne Rück
rad rat grat
Klänge geschuppt
zucken auf dem Asphalt
wollen luft h h h holen, hauch
ihnen das leben aus
Meine Glossa
Sprachflosse, durchstochen von deinem
Haken, Spinner, und spinnt nicht mehr weiter
du wirfst sie in dein Becken
Du stiehlst meinen S
inn beim S
prechen, nimmst die Hälfte, das S
ignifika te
Sodass meine Sprache
kaum noch Tier ist
kaum noch Pflanze
Pilz, modriger
Aber frischer Fisch schtinkt nisch
schprach isch rheinländisch
(Schluck!
Schreib es auf.
Sie werden denken, es sei Aphasie.
Ich weiß, es war Mundraub.)
Europa flaggenfarben eingraviert, track 21.Jhd.
sie lavierungsmisslungen
uringelbe sternensegel
zitternd vor
die
durchlöchert haben
mit oder gerade die
lobbyismusblitzaugen
umwerfend angezogen ein
ruder von würde
magnetkraft
polarisierend außer kontrolle
gesetzt was
wenn das eur von opa
wegfällt
(kapitalismus oder zeit sein testament aufzusetzten?)
fragen trotzdem
es zeus
ent?tet [:] abgrundwege
auf allen mittelmeerseiten
zentaurenrücken es
rutsche
obwohl weggestohlen
(quis quisquilie sumus)
dreifach demokratisch defendiert defendiert defendiert
angeblich
gesetzt was
wenn dass eur von opa
wegfällt
(kapitalismus oder testament?)
opa und demenz dementiert
emissionen ausgestoßen
(not our mission)
verunsichtzubaren
häresie profan
terminologisch
paradox
sie stressen es
meine man
ruhelos
ich als flagge
uringelbbepisst
nach obsoleten obrigkeitsprinzipien
odorös gehandelt
frage mich, wann
zerbrochen und
sanktionen durch
welche denn wenn
wir oder sie
wird Heimat
was schon ist
und wenn nicht
ertrunken?
Ruta Dreyer, Julia König, Bernadette Sarman, Angelina Schülke, Sven Spaltner und Sarah Stemper überzeugten die Jury mit ihren Texten, die schon in den Titeln die Verflechtungen zwischen Sprache, Körper, Raum und Ich an die Oberfläche bringen: „dach netz haut“, „Streitgespräch“, „Schicht für Schicht“, „zwischen oben und unten“, „Mundraub“, „Europa flaggenfarben eingraviert, track 21. Jhd.“
Viel Freude beim Lesen!