Unsere Gewinner*innen im Dezember 2019
„nur ein Gedankenstrich, der den Schwung ihrer Braue mitgenommen hat“ lautete das letzte Monatsthema im Jahr 2019. In dem Gedicht „Das Leben meiner Großmutter war trocken bis hart“, aus dem diese Zeile stammt, reflektiert die Lyrikerin Miedya Mahmod Facetten ihrer Familiengeschichte. Es hat euch inspiriert zu eigenen poetischen und sehr persönlichen Einblicken in familiäre Beziehungsgeflechte, die Kommunikation zwischen Generationen und die Suche nach der eigenen Rolle inmitten von Großeltern, Eltern, älteren Brüdern und Schwesterherzen. Bildreich und in großer sprachlicher Vielfalt erzählen eure Beiträge von lebendigen und verblassenden Erinnerungen, von offenen und verborgenen Konflikten, von Schmerz und Verlust, aber auch von Zuneigung und festen Banden.
blindgänger
in der nacht in der bruder sein gesicht verlor war der himmel besonders hell
wir hatten uns nicht viel zu sagen, ich stand abseits
und er versuchte die luft fernzuhalten
bruder hatte geschickte hände, er konnte es gut
es roch nach qualm und zunder,
bruder mochte das, er kannte den rauch
hatte dieser doch einen festen platz in seinem jackenfutter
vater stand abseits, er sah uns nicht zu
bruder hatte schon viel in die luft gejagt
das kartenlesen lehrte mich bruder
früher blätterten wir gemeinsam in atlanten, schauten auf
linien und kreise die menschen orte nannten und jeden morgen
beim ersten blick aus dem fenster sahen, so fern waren sie
bruder war immer besser als ich, doch nun lese ich viel in dem was er verlor
oft stelle ich mir vor die wülste seiner wangen entlangzufahren, die seine mimik ersetzten
die umstülpungen seiner haut zu spüren unter den fingern und die kleinen knubbel
es wäre als würde man seine hand auf eine landschaft legen
ist er glücklich, kräuseln sich die bergketten seines kinns
und bei verärgerung schlägt seine stirn tiefe abgründe
würden da leute wohnen würde für sie die erde beben
und die landschaft, die sie sähen, wäre jeden morgen anders
eine karte zu zeichnen, wäre schwer
es gäbe stetig neues zu entdecken
ich frage mich manchmal wo bruder sein gesicht gelassen hat
vielleicht schwebt es irgendwo, ewig eingefroren in der sekunde zwischen
zündung und start, mit den hochgezogenen augenbrauen, die auf die
himmelfahrt warteten
in der nacht, in der der himmel besonders hell war, verstanden wir uns nicht gut
es war laut und wir hatten nichts zu reden,
und bruder war älter und durfte mehr als ich
und es roch nach qualm und bruder sah vorbei
ich halte meine hände still
bruder sieht es nicht
er ist jeden tag woanders
bruder, sage ich, bruder
ist für dich der himmel noch hell?
Ein Hut/Ein Stock/Ein Regenschirm
Mein Opa
Verschmitzt lächelt er mich an
Hände zittrig von der Last
der letzten fünfundsiebzig Winter,
der Kaffee nur noch warmes Wasser
seit dem vorletzten Herzinfarkt.
Wir zwei
Das wären vier D-Mark
sagt er.
Neben ihm die günstigste Schokolade,
die man sich von der Rente als Maurer
eben noch leisten kann.
Zweitausenddrei
März
Meine kleinen Füße auf
seinen großen Lederschuhen,
Disco Fox zur Schlager-Parade.
Wie eine Prinzessin fühlte ich mich,
in jeder Drehung
so hoch gewirbelt/
fast losgeflogen/
da waren Flügel
die Erwachsenen
haben
nur
weggeschaut.
Mein Pfennigprinz
von dreizehn Kindern
der jüngste/
Flucht nach Deutschland
in den schützenden Armen
der Mutter
die nie dachte
sie wäre mal alleine
mit den Kindern
Ankommen
Nur noch zu zehnt/
Die Wellen trugen sie Nachhause,
erzählte er mir manchmal/
Mittlerweile nur noch ein
Gedankenstrich/
der den Schwung
seiner Augenbraue mitnahm,
seit die Erinnerungen
in seinem Kopf verblasst sind.
Zweitausendachtzehn
März
Stein um Stein
Jahrzehnte lang
baute er
die Mauern,
mit denen er seinen Kindern das Schulbrot kaufen konnte.
Mittlerweile zieht er
auf seinen Stock gestützt
zu den Blumen
auf dem Grab seiner Tochter
und er tanzt immer noch.
Er tanzt wie damals mit ihren kleinen
auf seinen viel zu großen Füßen.
Sie fühlte sich wie eine Prinzessin,
sie war es für ihn.
Nur noch er, an ihrer Stelle Erde.
Es war ein sonniger Tag,
an dem er sie zum letzten Mal in seine Arme nahm.
Nur noch er,
an ihrer Stelle Erde
ein Hut/
ein Stock/
und ein Regenschirm.
seespaziergänge
manchmal verschwindet sie
dann sitzt sie da
starrt mit ihren dunklen augen
in die ebenso dunkle kaffeetasse
der weiße schaum löffel für löffel
sorgfältig auf den teller gehäuft
und sie nun fragend auf die offene see vor ihr blickend
der schaum knistert dann leise
wir beide bekommen bauchschmerzen davon
doch trinkt sie ihn jedes mal wieder so
als gehörte zu jedem schluck eben auch ein wenig unannehmlichkeit
und ich sage nichts
suche mit dir nach antworten in einer viel zu kleinen kaffeetasse
du nach welchen die ich dir nicht geben kann
ich nur nach welchen die es vielleicht nicht gibt
aber wenn sie hustet ist es immer noch da
literweise hat sie verschluckt
zum glück bist du eine gute schwimmerin
das musste sie früh lernen
zuerst in den großen milchkrügen
der alten molkerei
beim fische fangen im karpfenteich
dann nochmal in echt als du eigentlich schon
nicht mehr schwimmen wolltest
in einem meer
das die hälfte der zeit nicht da ist.
von beidem bekam sie bauchschmerzen
das einzige was dann hilft
sind seespaziergänge
an den ausgefransten rändern
einer viel zu kleinen kaffeetasse entlang
immer und immer wieder
bis der letzte schaum abgetragen ist
und man von einem ende des ufers aus
das andere erkennen kann
dann schüttelt sie wieder ihren kopf
und nickt dabei
so wie es großmütter tun
ihre brauen geschwungen wie die flügel einer möwe
die gefalteten hände bereit jederzeit aufzubrechen
neun stille wortwechsel meiner familie beim abendessen
I.
Bezüngeln der warmgemachten suppe am abend, als papa zu spät heimkommt + so tut als ob die suppe schmeckt. Grundlos zum boden schlürfen; noch mit gabeln löffeln während mama papa nie ansieht ein
ganzes glas voll weint
& papa trinkt es aus.
II.
schwesterherz isst nicht, papa sieht das und fragt nach mama sagt ok (vergessend, dass das gestern nicht so war) schwesterherz als eine eins-a einsame schülerin, sie macht die familie stolz.
III.
Meine mutter gebar einen elefanten, sie stellte ihn in den raum, ich war der elefant. Ich zerdeppere ihre dünne porzellanhaut haut (typisch elefant) mama brüllt mich an mit dem zorn einer mutter und ich weine
ein ganzes glas voll
& papa trinkt es aus.
IV.
papa stellt fest: mit mama hat er sich vermenscht. Papa kippt mir noch suppe nach, tunkt brot ein und
schluckt auf.
V.
wie in einer schlechten sitcom starren alle wie choreographen zeitgleich auf die teller als mama sagt:
wir müssen mit euch reden.
VI.
papa und mama haben sich nicht lieb.
VII.
da fliegt ein glas an die wand (typisch elefant im porzelanladen) – schwesterherz tränt sich leer, papa wringt sie aus und wischt den tisch sauber, als wäre nie was danebengegangen.
VIII.
vorrübergehend liege ich unter dem tellerand und ecke an. der tischkante zum beispiel. mama und papa füllen nach; beziehungsstreit. da ist nicht nur eine fliege in der suppe; da ist ein elefant.
IX.
Es gibt noch nachtisch( kalt geworden und von allen ignoriert)
Bist du mama oder papakind?
heimatgedanken
auffanglager mutterarme
wärme licht wärme licht wärme
heimkehren und wieder dieses fötusgefühl
wie die hoffnung auf die rückkehr zum anfang
eingenistet und noch so unbestimmt
kälte licht kälte licht kälte
willkommen zu hause
die nase will einen heimatgeruch selektieren
doch nur mottenkugeln altes holz vergilbtes papier
und die gute stube schimmelt in der abstellkammer
draußen das blut meiner kinderknie von den bürgersteigen gewaschen
nabelschnur gekappt und kein hinweis mehr auf heimatstadt
nur zufällig im vorbeigehen mein elternhaus hier fallen gelassen
ich ertrage das gastgefühl dieser stadt nicht
weltflucht
weil heimat wohl keine stecknadel auf der landkarte ist
sondern ein tränenschimmern beim wiedersehen
und ein moja córka in die haut geflüstert
und wärme in der magengrube
und licht
Gegenbewegung
Neben mir im Kinderwagen träumt sie der Sonne entgegen. Lichtstrahlen, die auf ihrem Näschen tanzen. Les Goudes. Zu dritt zwischen Meer und Marseille.
Ma petite-fille, verloren in der wohligen Dämmerung des Mittagsschlafs.
Ihre Lider geschlossen, die Welt vergessen. Aus den Augen aus dem Sinn.
Ich hol sie zurück, zwei Sekunden vergehn‘ bis sie weiss wo sie ist, wer ich bin.
Grand-mère! Ihre Augen sagen‘s, zu sprechen wird sie noch lernen.
Sie hört mir zu, versteht sie mich?
Ihr Händchen packt und hält meinen Finger mit aller Kraft.
Ich reich ihr den Löffel, sie schleckt ihn ab.
Meine Tochter, ihre Mutter, unsere Brücke
löst den Blick vom Meer
und schaut zu uns, eine erste Falte hat sie
von stillenden Nächten ohn‘ Schlaf.
Nur ein Gedankenstrich, der den Schwung ihrer Braue mitgenommen hat.
Was wird werden?
Neben mir im Fauteuil roulant döst sie im Gewolke des Nebels. Wassertröpfchen, die ihre Wangen benetzen. Fischmarkt. Zu dritt zwischen Hafen und Hamburg.
Ma grand-mère, dämmernd im Klang des Dazwischen.
Ihre Lippen geschlossen, die Welt verstummt- sonst lag ihr das Herz doch auf der Zunge.
Ich schau sie an, zwei Stunden vergehn‘ ohne dass sie weiss wo sie ist, wer ich bin.
Du, geliebte Unbekannte! Ihre Augen sagen‘s besonnen, zu sprechen hat sie verlernt.
Sie hört mir zu, versteht sie mich?
Ihre Hände liegen ganz ohne Kraft in den meinen, ich weine.
Ich reich ihr die Gabel, ihre Lippen umschliessen sie.
Meine Mutter, ihre Tochter, unsre Brücke
löst den Blick vom Meer
und schaut zu uns, Falten hat sie
von wachenden Nächten ohn’ Schlaf.
Nur ein Erinnerungsfaden, der ihre Locken verweht hat. Was vergangen ist…
Wir danken allen Teilnehmenden sehr für die zahlreichen Beiträge und wünschen viel Freude mit den Gedichten der Monatsgewinnerinnen Rosa Engelhardt, Kim-Alina Kläve, Vivian Knopf, Ronja Lobner, Lena Riemer und Viviane Ruof.