Unsere Gewinner*innen im Mai 2024

Wettbewerb im April 2024

Vier Fremde

Lara Adam

2003

I: Die Großeltern 

Ich bin ein Tier, 
ich bin ein Kleinkind, 
auf vier Beinen laufend. 
Auf meinen vier Großeltern. 

Auf den Jahreszeiten und 
den Himmelsrichtungen, auf den 
vier Ecken meines Spiegels. 
Ich bin eine vier. 

Die Kanten der Tür, 
durch die ich trete. 
Die Ecken des Blattes, 
auf das ich schreibe. 

Das Kissen, in das 
ich schreie. Der Koffer, 
den ich packe. Das 
Buch, das ich lese. 

 

II: Die Himmelsrichtungen 

Im Osten bin ich 
Mutter. Mutter des Ostens, 
aber Kind von niemandem. 
Gebe Mi(l)ch und Honig. 

Für den Norden bin 
ich Tochter, ihre Tochter 
und will sie nicht 
sein, will meine eigene 

Tochter sein. Bin des 
Südens Schwester, er will 
mich zum Lachen bringen, 
aber ich weine davor. 

Die Freundin des Westens, 
vielleicht sogar seine beste. 
Meine acht Augen geschlossen, 
fühle ich seine Umarmung. 

 

III: Die Jahreszeiten 

Ihre kalten Tränen schmecken 
nach blauen Augen, Haaren. 
Das Vier Farben Problem, 
alles ist bunt seitdem. 

Ihre Dreadlocks wie Erde 
über dem weißen Kleid. 
Ihre Augen wie Nüsse, 
ein Todesfall, vier Küsse. 

Sein Lachen wie Feuer, 
seine Haut wie Sand. 
Die vier Buchstaben meines 
Namens in seiner Hand. 

Seine Luft flutet mich, 
belebt und beruhigt sich. 
Pflückt seine eigenen Blüten, 
schenkt sie mir blutend. 

 

IV: Das Quadrat 

Wie Vivaldi und Malewitsch. 
Kreiere mich selbst durch 
das Erschaffen der vier. 
Mache sie zu mir. 

Durch das Einteilen in 
Kategorien, durch das ihnen 
Namen geben, sie zu 
einer realen Fiktion machen. 

Ihre Zungen so tief 
in meinem Mund, dass 
sie mein Herz berühren, 
wir uns gegenseitig inhalieren. 
 
Und wenn sie ich 
geworden sind und ich 
sie, dann schaue ich 
in fünf fremde Gesichter. 

(anschrift?) ofw

Meera Charlotte Bhagwati

2004

am zoo schauen alle geradeaus 
so sind es ungebrochene schienen, 
die jeden schritt bestimmen 
es schnürt der luft die kehle ab 
und die kehle der erde öffnet sich laut, 
da steht ubahn 
und keucht nach milde 

oft bist du mir begegnet und doch nie 
weder auf noch neben dem weg 
wie lange, warum, wie oft, immer hier? 
wie voll wird der becher, wer gibt, 
wie oft muss man ihn füllen, 
bis du dir dies und jenes (was?) 
allein oder in gesellschaft holst? 

so viele beine bevölkern den gehsteig 
schuhe auch, an denen nichts gerissen ist 
und es ist kein weg, es ist ein steig, 
dessen seiten steil herunterlaufen 
ganz so, dass er sich zwischen bett 
und fingernagel schiebt 
und dann reißt alles 
deine decke, dein haar, deine jacke, was noch? 

und man beharrt auf den contrat sociale oder 
homo homini lupus und rationalisiert 
das gesehene zum unkenntlichen 
und man schließt nachts die tür 
und mit alle (s.o.) seist nicht du gemeint, 
denn man lebt anders und hört nicht zu, 
ich kann nicht über dich schreiben, 
weil ich dich nicht kenne – so. 

man will nicht über armut reden 
mitleid ist doch so einfach – 
es ist deine versehrtheit 
in angesicht meiner unversehrtheit 
nur mitleid haben, geld sollte man nicht geben 
man kann nicht reden, über das übersehene 
das unpässliche im zoo geht’s die treppe run 
ter und wieder hoch 
wer bleibt lang genug abseits der züge 

wenn du schläfst, versteckst du leben (koffer) 
in einer ecke, hinter zwei gefallenen gittern 
und deine zeitung ist nass, die tinte verläuft 
und mit ihr das verschiftlichte gespräch aller anderen 
immerda und unausweichlich 

 

in die oberste hautschicht unserer finger fädeln wir gebete an keinen gott

Lilli Biller

2005

in die oberste hautschicht unserer finger 
fädeln wir gebete an keinen gott 
durchkreuzen mit nadeln die linien 
die verraten wer wir sind 
mit identitätslosen fingern  
fassen wir zum ersten mal 
unsere körper an 

ich finde deine gesichtsknochen schön 
also male ich dir schwarze balken auf wangen und stirn 
zu lieben bedeutet unkenntlich machen 
bei uns 

niemand soll sich ein bild von dir machen 
wenn sie dich sehen 
dann sollen sie uns alle sehen 
wenn sie uns sehen 
vergessen sie 
dich 
sehen sie nur eine farbe 

später  
lutsche ich sekundenkleber und glitzer aus den falschen rillen in deinen fingern 
google nach bildern 
die zeigen, was ich erlebt habe 
finde nichts, sehe nur mit geschlossenen augen 
du steckst deine zunge unter meine augenlider 
um die muster zu ertasten 
die dort eingeritzt sind 

wenn ich meine augen schließe 
und spreche 
dann denke ich 
das bist du 
die spricht 

Tasche

Moritz Grevel

2005

auf die schwach beleuchtete 
Parkbank (Farbe abgeblättert) 
legt er 
Messer (einhändig zu öffnen) 
Zipbeutel (suspekter Inhalt) 
Fünfzigeuroscheine (verknittert) 
die Welt als Wille und Vorstellung 
beruhigt schlägt er es 
leicht zerlesen
auf 

Muschel

Charlotte Obenaus

2005

die Scheinwerfer der Autos 
über den Wänden, verirrtes U-Boot-Licht, 
und ihre Augen meereskatzengrün. 
Nähe ist, wenn die Hände nicht 
weiter graben können, wenn auf Sand 
Stein folgt, und danach nur 
das Herz der Erde: ein flatterndes 
Fossil in ihrer Brust. 
in sauerstoffarmen Gehirnen wächst 
der Wahnwitz, gern würde ich 
sagen: ich kenne sie meeresgrundtief, 
mit Haut und Haar, wir könnten 
uns einen Namen teilen, Thetys vielleicht 
oder Oyashio, wie sollen sich 
aufeinandertreffende Ozeane 
unterscheiden können, 
und warum auch, gern würde ich 
sagen: das Fremde ist eine Lüge. 
und fast wäre das die Wahrheit, 
läge ihre linke Gesichts- 
hälfte nicht immerzu verborgen 
vor Licht und Berührung auf dem Kissen, 
wie eine Muschel 
an der Unterseite eines Wracks, 
der Teil von ihr, der mir auf ewig 
tiefseedunkel bleiben wird. 

mareike

Fanny Marek Walger

2004

I 

sitzt alleine hinter hohen fenstern; 
nicht-mehr-manic pixie dream girl 
spielt gitarre, fühlt sich nicht schön dabei. 

sagt den fenstern: ab morgen fühle ich das richtige. 
wakes to a ball of shame. 

kann vier sprachen und 
auf keiner sagen, was geschehen ist; 
es gibt worte, von denen einem schlecht wird 

und worte, die erinnerungen wahr machen. 
zu den fenstern: wenn man erzählen könnte, 
dann hieße das, dass es einen gibt. 

II 

mareike, 
mareike: 

sie ist das blut. 
sie ist die narbe. 

sie ist der see. 
sie ist das ufer. 

sie ist der stolz. 
sie ist die scham. 

sie ist das wort. 
sie ist die stille. 

III 

es gibt mutterworte. es gibt sätze, 
da wird aus einem man ein ich, 
aus einem bruchstück ein gedächtnis. 

es gibt frühling, den man auf der haut spürt, 
weil man einen körper hat, den man zeigt. 

vor den fenstern, denen sie nichts zu sagen hat 
(das wäre seltsam): mareike. 
sie ist die flut. sie ist die bergung, 

ein kindof-happy pixie dream girl. 
fühlt sich nicht schön dabei. 
aber lebendig. 

Schreibe, um zu träumen.