Unsere Gewinner*innen im August 2023

Wettbewerb im August 2023

„ein Schritt und noch einer und noch einer und noch einer / und plötzlich kann ich laufen“

Bei unserem Thema im August, „Warum gestern Nacht“, drehte sich alles um das Gehen. Ihr solltet euch überlegen, wer in eurem Gedicht geht, wohin sie*er geht und warum sie*er geht. Was nimmt sie*er mit? Welche Gedanken begleiten sie*ihn? Diese und mehr Fragen gaben wir euch als Anregung und stellten euch als zusätzliche Inspiration das Gedicht „die kunst darin straßenkatzen nicht aufzuwecken.“ von Nail Doğan vor. In euren Gedichten habt ihr das Gehen in allen Facetten beleuchtet. Ihr habt bedichtet, was Zugpassagieren durch den Kopf geht, die einfach nur raus aus ihrer Heimatstadt möchten, ihr habt über „Fluchtwege“ geschrieben, über Sommercamps, über das Verlassenwerden und über das virtuelle Gehen von Figuren in Computerspielen. Wir gratulieren Helene Franke, Mylinn Goodwin, Lucina Kraus, Johanna Lammers, Tonda Montasser und Skylar Rath! Herzlichen Glückwunsch zu eurem Monatsgewinn im August!

ein paar Schritte

Helene Franke

2008

ein Schritt und noch einer
ein Schritt und noch einer
schon seit fast 14 Jahren
Füße, die Metallketten mitschleifen
Metallketten, die Füße am Laufen hindern
ein Seil, das einen Körper umwickelt
ein Körper, den ein Seil zieht
ein Schritt und noch einer
alles furchtbar gegensätzlich, schwer
ein Schritt und noch einer
einsame Schritte auf grünem Boden
grünes Gras über einsamen Seelen
rascheln, schlürfen, gehen
mit einem Schritt und noch einem
gehe ich fort von den Fortgegangenen
ein Schritt und noch einer
-das können die nicht mehr
nachrennen, folgen
ein Schritt und noch einer und noch einer und noch einer
und plötzlich kann ich laufen

stehen gehen drehen

Mylinn Goodwin

2013

liegen sitzen stehen
Rechtsklick auf das Bett

laufen joggen rennen
Strg und W

drehen kreisen wirbeln
nach rechts wischen

schwimmen tauchen kraulen
Leertaste im Wasser

springen hüpfen bouncen
Leertaste

Fahrstuhl Rollstuhl Drehstuhl
reinstellen und Knopf drücken

Turnschuh Laufschuh Rollschuh
Schuh in der Werkbank craften

Waveboard Longboard Snowboard
Mod runterladen

Laufrad Rennrad Einrad
Mod installieren

Raumschiff Fährschiff Luftschiff
Rechtsklick auf das Boot und W

robben krabbeln gehen
updaten

starten fliegen landen
Doppel-Leertaste und W

satteln reiten traben
Mit einem Sattel in der Hand Rechtsklick auf das Pferd

winken klatschen zeigen
B und einen Emote auwählen

stehen sitzen liegen
Minecraft schließen und den Computer runterfahren

Zugpassagiere

Lucina Kraus

2009

Betritt man Abteil 3B
Vorbei an Rentnern müde von ihren langen Reisejahren
Vorbei an Enkeln gespannt auf alles, was ihnen bevorsteht
Sieht man eine junge Frau
Nicht mehr ganz das Mädchen, was sie einmal war
Noch nicht ganz die reife Frau, die sie gerne wäre

Durch ihr verzerrtes Spiegelbild
Starrt sie auf vorbeiziehende Gebäude
graue Pfeiler gegen den blauen Himmel
Blickt auf eben die Stadt,
In der sie aufwuchs
Die ihr jetzt mehr fremd als vertraut erscheint
Weder weiß sie schon, wohin sie fährt
Noch ist sie sich ganz bewusst, woher sie eigentlich kommt

Hinter ihr bleiben all jene zurück, die ihr nahe standen
Mit sich in eine ungewisse Zukunft
nimmt sie einzig sich selbst
Ihre Hoffnung nach Freiheit treibt sie
Die Größe der Welt scheut sie nur noch selten

Neben ihr ruht ein junger Mann
Zerrissene Jacke, zerzauste Haare,
Spuren seiner Vergangenheit überall
Leicht erkennbare und unsichtbare
Er weiß, wohin er will
Überall hin, sagt er ihr
Hauptsache weg
Weg von dem Ort, in dem sie aufwuchsen

Fluchtwege

Johanna Lammers

2008

Kein Weg zurück

Schreie und Bomben erfüllen die trügerische Stille der Nacht,
Was friedlich erscheint, ist nicht so wie gedacht.
Der Tod durch die Straßen fegt,
Und böse Absichten mit den Menschen hegt.

Das Zuhause in Trümmern liegt,
Während die Frau noch das Baby im Arme wiegt.
Leises Weinen und Schluchzen die Gassen erfüllt,
Und alles in schwarze Trauer hüllt.

Die Zuflucht verloren,
Die ganze Welt hat sich gegen uns verschworen.
Nicht nur das Heim, das in Trümmern liegt,
Auch alle Hoffnungen und Träume für immer versiegt.

Die Liebsten gegangen,
Vom Tod mit kalten Armen empfangen.
Was bleibt, der brennende Schmerz,
Den man für immer spüren wird in seinem Herz.

Wo sollen wir nun hin?
Wir sind alle mittendrin.
Egal wo die Bomben knallen,
Es sind doch alles Menschen, die deswegen fallen.

Der Krieg erschüttert die Welt,
Doch die Menschen interessiert nur das in ihrem Blickfeld.
Alles andere ist nicht deren Problem,
Ist das nicht extrem?

Menschen, die für immer gehen,
Wir werden sie nie wiedersehen.
Nur der leere Platz in dieser Welt,
Ist alles, was dem Zerfall standhält.

Der Krieg zerstört Hoffnung und Licht,
Wann wohl endlich jemand mit diesem Unsinn bricht?
Politiker, die die Welt regieren,
Und nicht merken, wie viele Menschenleben sie verlieren.

Wir müssen unsere Heimat verlassen,
Alles Bekannte loslassen.
Flucht in eine neue Welt,
Weil es nichts mehr gibt, was uns im Krieg hier hält.

Erinnerungen, mit Schmerz und Furcht erfüllt,
Alles, wie in einen dumpfen, grauen Schleier gehüllt.
Vielleicht wird er sich irgendwann lichten,
Doch der Verlust wird sich nie wieder richten…

Gib mir Quellfluss, gib mir Mountainflows!

Tonda Montasser

2011

Campra, Tessin, Sommercamp

Warum laufe ich allein
nachts von Kerze zu Kerze?

Was liegt
hinter mir,

vor mir,
in mir?

Wald, sehr dunkel.
Ich laufe und laufe.

Dreck unter Fingernägeln,
der nicht wegzuwaschen geht.

Trockene, zum Zerreißen
gespannte Lippen.

Bin ganz allein, von mir überfüllt.
Spüre die Flussgeister aufsteigen.

Warum zieht mich
das Wasser so nach unten?

Die Felsen am Ufer meditieren.

Wir alle sind aus Wasser.

Selbst die Berge
mit ihren rissigen Lippen. 

Berg, Wald und Fluss.
Nacht.

Mystischer geht’s nicht.

Gewächshaus

Skylar Rath

2009

Verlassen, um zu bleiben.
Ein verworrenes Netz aus zu vielen Fragen, mit zu wenig Antworten.
Bist du gegangen aus reinem Trotz? Aus simplem Sein?
Dein Feuerzeug noch immer auf der Tischkante im Wohnzimmer.
Hättest du nichts hinterlassen, wärst du noch hier.
Man kann nicht vollkommen verschwinden.
Nicht ohne alle Sterne vom Himmelszelt zu reißen
und sie mit vertrockneten Samen zu ersetzen.
Diese Pflanzen können im Weltraum nur ersticken.
Gehen, laufen, schleichen. Verstecken.
Jeder Versuch des Entkommens bringt mich an eine verschlossene Tür.
Spinnweben, Staub. Leere.
Den Staub zu entfernen führt nur zu dichten Wolken.
Ich verliere dich in ihnen.
Verwelkte Blumen sprießen aus meinen Fingern.
Du hättest ihnen Wasser geben können. Ihre Sonne sein.
Ich sitze, von Blattläusen übersät, ruhig auf der Türschwelle.
Die Beine im Gewächshaus,
der Rest ertrinkt im Sommerregen.
Komm zurück, such nach mir. Finde mich noch ein Mal.

Schreibe, um zu träumen.