Welche Gegenstände, die von vergangenen Zeiten erzählen, umgeben euch? Welche eurer Gegenstände sollten die Zeit überdauern? Was lohnt es zu bewahren, was würdet ihr gerne verschwinden lassen? Und was erzählen diese Dinge über eure Gegenwart? Das haben wir euch im September zum Thema „bergen“ gefragt! Eine mögliche lyrische Auseinandersetzung, das Gedicht [bergen — was ich nicht zurücklassen kann] der Lyrikerin Rike Scheffler, haben wir euch als Inspiration mit an die Hand gegeben. Die Texte der sechs von der Jury ausgewählten Monatsgewinner*innen geben einen eindrucksvollen Einblick, welche Dinge uns beim Aufwachsen begleiten und welch emotionale Verbindung wir zu ihnen aufbauen: „Die allerersten Schuhe / In einer alten Truhe“, „Die letzten Zeilen aus allen Märchen, / – in denen die Menschen lange und glücklich weiter leben dürfen.“, „Gummibärchen, die wichtigste Süßigkeit der Welt“ oder auch der Teddy, „immer on Point und […] mein bester Freund“.
Herzlichen Glückwunsch an Leo Finkenrath, Gabriel Jakob Hoffmann, Linus Jepkens, Johanna Lammers, Tonda Montasser und Johanna Wohlfahrt!Unsere Gewinner*innen im September 2022
In Erinnerung geborgen
Leo Finkenrath
2010
Bergen werd´ ich mein Leben lang
Die Dinge, die mir gut getan:
Die allerersten Schuhe
In einer alten Truhe,
Im Herzen meinen besten Freund,
Das Schönste, was ich einmal träumt´.
All das will ich verewigen
Bis alle Häuser im Schnee liegen.
Der Schnee der goldenen Zeit
Leuchtet überall, weit und breit.
Später findet jemand mich
In Zeiten verschlossen,
In Tränen gegossen,
Meine Jahre tragend in den Händen.
Ich werd´mich nicht mehr ins Vergangene wenden.
bergen – viel, genug und wenig
Gabriel Jakob Hoffmann
2011
Die Zahlen sollten versinken in der unendlichen Leere.
– Niemand braucht sie.
Es reichen Wörter
– viel, genug und wenig
Und eine Lieblingsmelodie.
Die Kriegsanfänge und deren Enden sollten verschwinden,
– auch die Laubbockkäfer, die unsere Wälder nicht übel finden.
Das sollte überdauern:
Die letzten Zeilen aus allen Märchen,
– in denen die Menschen lange und glücklich weiter leben dürfen.
Amphoren aus alten Sagen, befüllt mit Milch und Honig,
– um die Träume zu versüßen.
Die Ersatzreifen der Spielzeugautos,
– Man weiß nie, auf welchem Weg man einen Platten bekommt.
Ein Plüschschaf und sein loser Nasenknopf,
– Jeder will mal durchschnaufen, wenn es zu viel wird.
Braune, schrumpelige Kastanien
– für die leeren Jackentaschen.
Viele weltbewegende Erinnerungen:
– solche, wo man als kleines Kind den Eltern berghoch hinterherhechelt und
– solche, wo man die Eltern überholt…
Die Frühlinge mit blühenden Krokussen an einer vermoosten Almhütte,
Die Fußspuren der Tiere im Schnee…
Der Blick nach oben und die Jahreszeiten auf dem Mars,
– damit wir nicht vergessen,
– wie schön,
– wie viel,
– wie wenig und genug
– wir hier und jetzt alles haben.
Von groß zu klein und er ist dein
Linus Jepkens
2009
Ein kleiner Jung mit großem Schwung hat einen Teddy bekommen und ihn angenommen.
Als ich ihn bekam war er noch groß und saß auf meinen Schoß.
Seitdem ist er überall hin mitgekommen und er hat sich auch meistens benommen.
Eine Nacht ohne ihn hat damals nichts gebracht.
In einem Leben ohne ihn würde mein Herz nicht mehr beben.
Im Kindergarten musste ich immer auf ihn warten.
Egal wann Teddy ist immer für mich da hurra!
Er ist immer on Point und ist mein bester Freund.
Immer als ich traurig war war er für mich da deswegen ist er mein Star.
Mein Teddy trägt keine Kleidung das war seine Entscheidung.
Spuren der Vergangenheit
Johanna Lammers
2008
Wüsst ich, es käm ein großes Unglück auf Erden,
So würd ich vorher noch einige Dinge bergen.
Ohne meine Familie würde ich niemals gehen,
Müsst ich dem Unglück dann auch ins Auge sehen.
Auch einige Kindheitserinnerungen und Fotos würd ich nicht zurücklassen,
Sie später meinen Kindern zu zeigen, möchte ich nicht verpassen.
Mein altes Stofftier pack ich ein mit bedacht,
Denn es hat schon immer über mich gewacht.
Gummibärchen, die wichtigste Süßigkeit der Welt,
Damit sie mir den Tag erhellt.
Typisch, die Schokoküsse.
Gern mag ich auch gesalzene Nüsse.
Verlorene Träume lass ich liegen,
An Ort und Stelle, damit sie mich nicht mehr um den Schlaf kriegen.
Alles schlechte werf ich ab.
Jetzt zieht es mich nicht mehr herab!
Es umgibt einen so viel aus alter Zeit,
So viel erzählt aus der Vergangenheit.
Manches muss der Zukunft weichen,
Doch niemand kanns aus unserem Gedächtnis streichen.
Aal-Familie
Tonda Montasser
2011
I
Das utopische,
dekonstruierte,
das weiße Zimmer.
Gold-gelbe Kleiderschränke,
durchsichtige Streichel-Spiegel,
meine YU-GI-OH-Sammlung,
UFO-Motten, die alles essen,
sogar unser Klavier.
II
Mein Aluminium-Schwert
mit den unlesbaren Textzeilen,
die ganzen Bilder
meiner schlammigen Aal-Familie:
Meine Laktose-intolerante Schwester
mit der tollen Stimme,
Kafka, die schwarze Katze
mit den grünen Augen.
Der süße Vater.
Die liebe Nerd-Mutter.
III
Meine Familie und ihre Lesungen
sind bedroht:
Vom Kapitalismus, von der Korruption,
der Dummheit unserer Scheren,
von den Milchplantagen
des Klimawandels.
Dazu kommen Augenschmerzen,
(Nimm das, Vincent Borko!),
Moralapostel vom Planeten Snob,
der Krieg zwischen unseren Köpfen,
das Zu-viel-Streicheln der Katze,
der Rausschmiss mitten in der Krise,
Machtmissbrauch von Zecken–Bissen,
Tik-Tok und der Wandel des Humors,
#metoo und andere Belästigungen,
und noch mehr, was wie Dürre ist:
Krebs und Hungersnöte,
der Tod von Freunden.
IV
Was wir tun: wir aalen uns,
geborgen im
Mittel-Scharf-Senf-
farbigen Bett.
Decken drunter
und drüber, wie Erinnerung.
Das weiße Zimmer
voller Spiegel und Utopie.
Ich liebe es.
V
Meine Aal-Familie.
Wir heizen nicht.
Essen kein Fleisch.
Glauben keine Verschwörung.
Leben unser Leben.
Lesen Gedichte
der Terrassenmassakerkinder.
Zukunft – das ist Vergangenheit
Johanna Wohlfahrt
2009
Eine riesen weiße Halle, aber mit so viel Müll, oder ist das Müll? Eine große Wiese mit Zelten und mir, Freunde, abends ein gemütliches Abendessen vom Grill, Mais, Fackeln, Salate und bei Dunkelheit Stockbrot am Lagerfeuer. Ein Stück weiter in der Halle noch viel mehr Kinder mit Schultüten und Tornistern. Eine ältere Frau führt uns in eine Klasse und erzählt so viel Neues. Nach den ersten Stunden in der Schule gingen wir nach Hause es wurde Kuchen gegessen, Geschenke ausgepackt und Fotos gemacht mit Oma, Opa, Tante, Onkel… und so viel mehr. Ein paar Schritte weiter ein wunderschönes weißes Kleid, dass ich an meiner Kommunion trug. Dicht daneben der Grundschulabschluss viele Tränen aber auch viel Vorfreude auf die neue Schule, und dann der erste Schultag als 5.-Klässler. Nach ein paar Schritten viel gekleckert, Mehl wirbelt in der Luft, Zucker rieselt auf den Boden und Eierschalen landen mit in Teig. Trotz so viel Geklecker war mein erster Kuchen ein voller Erfolg, darauf folgte Nachtisch zubereiten, Kartoffeln schälen und Brote backen. Ein Geruch von Kühen, Pferden und Hühnern stach mir ein paar Schritte weiter in die Nase, das erste Mal eine Kuh streicheln. Am Ende der Halle sieht man eine dunkle Ecke, es wirkt, als würde es regnen. So Viele weinen, Mama, Papa und alle trugen schwarz. Ich sehe Oma krank im Bett, doch warum? Warum steht sie nicht auf? Ein wunderschönes Grab mit so bunten Blumen, so vielen Kerzen. Doch wo ist Oma? Und warum steht ihr Name auf dem Stein des Grabs?
Als man die dunkle Ecke verließ, hörte man schon ein lautes Lachen und sah viele glückliche Gesichter. Die schönsten Urlaube, egal ob am Strand oder auf den Skipisten, die besten Ausflüge und die besten Freunde, mit denen man so viel erlebt hatte, sprang einem ins Auge. Das Weihnachtsessen mit der Familie und die Silvester feiern mit Freunden, alles bis ins kleinste Detail war in dieser Halle. Alle meine Erinnerungen. Als ich die Halle verließ, ging ich durch einen kleinen sehr gut beleuchteten Gang und sah 5000 Fotos an den Wänden, für jeden Tag seit Beginn ein Bild. Ich öffnete eine weitere Tür und erblickte all die Menschen, die ich bis jetzt in meinem Leben kennenlernen durfte. Dahinter eine noch viel größere weiße Halle, komplett leer für all die Erinnerungen und Personen, die ich noch kennenlernen werde oder auch verliere.