Unsere Gewinner*innen im Dezember 2022

Wettbewerb im Dezember 2022

Im Dezember haben wir euch gebeten, in euren Texten Kleines ganz groß werden zu lassen: Wo findet ihr eine Welt im winzig Kleinen, die sich eröffnet, wenn man sich darauf einlässt und ganz genau hinschaut? Das fragten wir euch und stellten euch dazu ein Gedicht der Lyrikerin Hannah Schraven vor. Aus allen Einsendungen wählte die Monatsjury die Texte von Banu Beinhauer, Valeria Klara, Merle Koch, Sophia Nichol, Mona Ilena Schlegel und Freya Werner aus. Herzlichen Glückwunsch zu eurem Monatsgewinn! Ihr schriebt Gedichte über ein kleines Mädchen, Jesus‘ Schwester, eine Modellstadt, graue Wunder, rote Füchse und Ameisen –  wir wünschen allen viel Spaß beim Lesen dieser Interpretationen des Themas „eine leichte verschiebung des strömungsverlaufs“!

Irgendwo kannst du fühlen

Banu Beinhauer
2008

Ein kleines Mädchen
Allein
Allein inmitten von so vielem,
was sich Leben nennt.
Steht einfach nur da
Jegliche Kontrolle verloren
und doch
so im Reinen mit sich selbst

Die braunen langen Haare,
hin und her geworfen
Die ersten Locken in den sonst
so glatten Strähnen
Der silbergraue Anorak durchgeprustet
Aufgebläht
wie ein Ballon
Hüllt ein
den kleinen zierlichen Körper
voller Stärke
Luft

Zwei nackte Beine
Nass
bis zu den knorrigen Knien
Umschlagen von Wellen
Wellen, so tosend
so laut
Wird ihre Seele
nur an diesem Ort
friedlich und ruhig
Die kleine, runde Brille
stolz auf ihrer Stupsnase
Unter Tropfen versunken
Sehen vergessen
Doch hier im Moment
braucht sie nicht sehen
braucht sie nicht schauen
Hier im Moment
braucht sie nur spüren
Wasser

Füße unter der Oberfläche vergraben
Umgeben von Sand
Umgeben von Muschel und Stein
Sinken tiefer und tiefer
Mit jeder Welle, die kommt
Jeder Welle, die geht
Fest verankert
Zwei kleine Wunder,
die sie immer gehalten haben
immer halten werden
Erde

Ein kleines Mädchen
Allein
Allein und doch so glücklich
An diesem Ort, an dem sie
Sie selbst sein kann
Feuer

Krippengeschehen

Valeria Klara
2011

An einem heiligen verschneiten Ort
Ganz ohne des Segens Wort
Hatten sich Josef und Maria lieb,
Dass Jesus nicht mehr alleine blieb.

Plötzlich Maria vor Freude schrie:
„Josef, es ist ein Mädel, SIEh!“ 
Der Vater noch total verpennt 
Geschwind aus dem Hause rennt.

Ruft zum Himmel und schickt den Stern
An die heiligen drei Könige ganz fern
Damit diese zur Krippe finden die Route
Und eilen herbei zur selben Minute.

Doch erscheinen die drei Weisen ohne Präsent
In diesem so holden Familienmoment.
Anstatt Gold, Weihrauch und Myrrhe
Gibt’s nur noch elende Dürre.

Alle begriffen wohl nach einigen Weilen
Nun müsse das Jesuskind seine Gaben teilen
Mit dem winzigen Schwesterlein im Krippenbett –
Das fand er allerdings gar nicht so nett.

Jedoch wäre Jesus nicht ohne Grund Gottessohn
Wenn er nicht Wunder vollbringen könnte als Erbe vom Thron
Ein Zauber sollte her um die Gaben zu mehren,
Um seine neugeborene Schwester gebührend zu ehren:

Ein wenig Heu, gemischt mit Kuhmilch und Stallgeruch,
Das zusammen ergibt unerwartet einen schlimmen Fluch
Es kracht und Rauch steigt hinauf und dringt in die Seelen
Aller Menschen auf Erden: Sie würde niemandem fehlen.

So mögen sie auf immer das kleine Mädel vergessen,
Gerade geboren und auf ewig gelöscht infolgedessen,
Von aller Erinnerung und den Geschichtsbüchern verbannt
Die Welt hat sie nicht als Jesusschwester erkannt.

Wir haben im Herzen immer nur an Jesus gedacht,
Seine Schwester wurde aber ausradiert über Nacht.
Nie hat sie selbst in ihrem Leben erfahren, 
Dass sie und ihr Bruder göttlichen Blutes waren.
So stelle ich mir ich vor die verborgene Sage,
– für die Menschheit immer noch vage-
Doch als ich zur Krippe hinuntersah
Zeigte sich die Wahrheit ganz offenbar.

Staublandschaften

Merle Koch
2008

Miniaturmodelle markanter Bauwerke. Szenarien. Reelle Objekte ohne Bedeutung. Gebäude, nur Zentimeter groß. Menschliche Wesen ohne Nationalität. Eine Urwaldszene. Modelleisenbahn. Irgendwo ein USB-Kabel. Ein römisches Kolosseum. Heftklammern. Bleistiftminen. Komplexe Nachbildungen. Historische Schlachten. Kunststoff Modelle.

Zum ersten Mal seit letztem Frühjahr. Ein Staubsauger. Gebäude erzittern und zerfallen. Die menschliche Bevölkerung ausgelöscht. 

Graues Wunder

Sophia Nichol
2011

So grau, so trist von außen,
Doch wirfst du einen Blick,
Etwas genauer auf die Steinstange,
Die da so nutzlos aus dem Boden ragt,
So erblickst du eine Welt,
Voller Risse und Schluchten,
Und auch manchmal ein Kaugummi,
Mal plakatiert, mal voller Dreck,
Steht sie da,
Die Säule.

So alt wie Stein von außen,
Doch hast du eine Minute,
Und lässt dir etwas Zeit,
So bemerkst du ein Wunder,
Einfach und unscheinbar,
Wie ein Fels in der Brandung,
Wie ein Gegner der Erosion,
Hart wie Diamant,
Steht sie da,
Die Säule.

So stabil und massiv von außen,
Doch willst du ein Graues Wunder sehen,
Mit etwas Zeit,
Und einem genauen Blick,
So siehst du es auch,
Und schaust in die Welt,
Der Säule.
 

Die Ballade der (roten) Füchse

Mona Ilena Schlegel
2010

Es begab sich an einem Ort,
an welchem klang kein Wort,
nur ein bellender Schrei.

Ein erster Blick,
erblickt zwei Füchse.
Ein zweiter dann:

Einen Rotfuchs mit Beute,
ein Bild gerade heute,
ein Bild wie jeden Tag.

Zuletzt dann ist es ein Körper,
einstmals weiß, ein Polarfuchs.
Zwischen den Fängen des anderen nun rot geworden.

Zwei Tiere, die sich nie hätten begegnen dürfen.
Doch der Mensch will immer tiefer schürfen –
in den Rohstoffen der Erde.

So wurde es immer wärmer,
bis der rote Fuchs sich aufmachte,
in die Gebiete anderer.
Nun sind der beiden Füchse Felle rot,
des einen erst im Tod,
des anderen schon ein Leben lang.

Beide stehen sie auf weißer Erde.
Es heißt, Wasser erinnert.
Schnee auch?
BO;M :;LKGF
Eine Erwärmung von 1,0 Grad,
schien in der Tat,
nur eine kleine Verschiebung im Strömungsverlauf.

Was nicht zählt

Freya Werner
2008

Was nicht zählt, sind kaum sichtbare Flecken auf weißen Pullis,
die Gefühle anderer Leute und Ameisen.

Was scheren mich winzige eusoziale Insekten:
kollektive Intelligenz, fehlende Individualität.

Was bringt ein Leben in blinder Aufopferung
als bedeutungsloses Zahnrädchen, leicht zu zertrampeln.

Doch was brächten ihnen andauerndes in die Luft Starren,
gehauchte Zweifel, abruptes Stehenbleiben?
Nur Ärger.

Schreibe, um zu träumen.