genadelt gerendert dirty

[[deadline:2025-08-31 24:00:00]]

Die Stadt gilt vielen als Ort des Menschen. Asphalt, Architektur, Infrastruktur – alles scheint auf den urbanen Alltag des Homo sapiens zugeschnitten. Doch wer mit wachem Blick durch Straßen, Parks und Hinterhöfe geht, merkt schnell: Die Stadt lebt anders, als wir es manchmal glauben. Zwischen Einkaufszentrum und Bahnlinie, Mülltonne und Altbaufassade bewegen sich Tiere: sichtbar, verborgen, beiläufig, widerständig. Was bedeutet es, einem Tier in der Stadt zu begegnen? Und wie verändert das unseren Blick auf urbanes Leben, auf Natur und auf uns selbst?

Wir nehmen sie meist nur am Rande wahr: Tauben, die sich an Fast-Food-Resten satt essen, Möwen, die kreischend ihre Kreise über Parkanlagen ziehen, oder Ratten, die zwischen Gebüsch und Gullideckel verschwinden. Weniger offensichtlich sind die Marder, die sich in Motorhauben einnisten, Fledermäuse, die mit Ultraschall durch die Nacht jagen, oder Füchse, die in der Morgendämmerung ungerührt über den Zebrastreifen spazieren. Diese Tiere widersprechen dem verbreiteten Bild einer klaren Trennung zwischen Wildnis und Zivilisation. Sie leben mitten unter uns – nicht als Haustiere, nicht als Nutztiere, sondern als eigenständige Akteure in einem System, das wir zwar geschaffen haben, aber längst nicht allein bewohnen.

Eine einfache Frage, die sich erstaunlich schwer beantworten lässt: Wenn ihr ein Tier wärt, was wärt ihr? Ein Spatz auf dem Strommast, der die Gespräche der Passanten belauscht? Eine Katze, die nachts auf dem Dach sitzt und in tausend Fenster sieht? Eine Kröte, die geduldig an der Bordsteinkante wartet, bis der Verkehr nachlässt? Und vor allem: Wo würdet ihr euch einnisten? In einem alten Kino, zwischen den roten Samtsitzen? Unter der Rolltreppe in der U-Bahn? In einem leerstehenden Büro?

Dass Tiere in der Stadt nicht nur biologische, sondern auch narrative Akteure sein können, zeigt Ingeborg Bachmanns Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ (1958) auf faszinierende Weise. Darin sind es Eichhörnchen, die in das Leben zweier Liebender eingreifen. Sie beobachten, berichten, zerstören. Als tierische Mittler zwischen höheren Mächten und menschlichem Begehren zeigen sie: Tiere sind nicht nur passive Mitbewohner, sondern symbolisch aufgeladene Figuren, die in poetische Systeme eingreifen können.

Auch Maren Kames’ Lyrikband „Halb Taube Halb Pfau“ kreist um Zwischenräume – sprachlich, symbolisch, urban. Der Titel selbst spielt mit Ambivalenz: Die Taube – urban, unauffällig, gewöhnlich. Der Pfau – extravagant, laut, außergewöhnlich. Wer ist das lyrische Ich? Irgendwo dazwischen, in einem Zustand ständiger Verwandlung. Stadt erscheint hier nicht als klar strukturierter Raum, sondern als schillerndes Gewebe aus Stimmen, Geräuschen, Bewegungen. Ein Lebensraum, in dem auch Tiere auftauchen, verschwinden, wiederkehren. Und immer steht die Frage im Raum: Was sagt das über uns aus?

Eure Schreibaufgabe im August:
Die Stadt ist ein Raum, in dem Tiere ihren Platz finden – heimlich oder sichtbar. Sie sind nicht nur Kulisse, sondern Teil des Ganzen. Sie leben mit uns. Und manchmal sogar gegen uns. Wie viel Tier steckt in euch? Was würdet ihr tun, wenn ihr keine Wohnung hättet, aber ein Nest bauen müsstet? Wenn ihr eure Routen nicht nach Busfahrplänen, sondern nach Duftspuren legen müsstet? Wie sehen wir Tiere in der Stadt? Und was bedeutet es, wenn wir sie nicht sehen? Was passiert, wenn wir Tiere als gleichberechtigte Stadtbewohner begreifen? Welche Geschichten könnten sie über uns erzählen?

[Findest dich]

Maren Kames

Findest dich, Sonntagmorgen halb acht, bei den Haubentauchern an den
Gestaden stierst in die Schlieren säufst die Aussicht bis blindlings stehst
knietief im Siel rings schluckst Wasser vom Rand ab haust schlaff auf die
Planken liegst aus da wie Pfandgut – gestrandet auf deiner halbtauben Haut
gelandet im halbgaren Licht hier    
genadelt gerendert dirty       
verplempert im Tau und        
halb Taube halb Pfau             
halt das mal aus so  
ste(h)ts

aus: Maren Kames, Halb Taube Halb Pfau, Suhrkamp – Berlin 2024

Über Maren Kames

Maren Kames wurde 1984 in Überlingen am Bodensee geboren und ist in Baden-Württemberg und Hessen aufgewachsen. Sie studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Theaterwissenschaft in Tübingen und Leipzig, anschließend am Institut für Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim. Mit Auszügen aus Halb Taube Halb Pfau gewann sie 2013 den Jurypreis für Lyrik sowie den Publikumspreis des 21. Open Mike in Berlin. 2016 erschien das Buch im Secession Verlag für Literatur. Ihr zweites Buch Luna Luna war 2020 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde vom Schauspiel Leipzig als abendfüllendes Stück auf der großen Bühne inszeniert. Beide Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und als Hörspiele umgesetzt. Hasenprosa, ihr erster Roman (Suhrkamp Verlag 2024), stand unter anderem auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Sie lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. 

Maren Kames, Foto:  Max Zerrahn/Suhrkamp Verlag

Video-Clips zum Monatsthema:
Schreibimpulse und Gedichtlesung