Stellt euch vor, ihr wacht an einem Wintermorgen auf. Es ist still, draußen liegt vielleicht Schnee, und ihr tappt noch ein wenig verschlafen zur Haustür. Dort entdeckt ihr einen Brief. Keinen normalen Brief, wie ihr ihn sonst bekommt. Sondern einen, der so seltsam, so wunderschön oder so rätselhaft aussieht, dass ihr sofort spürt: Er kommt aus einer anderen Welt.
Vielleicht stammt er aus einer Welt, in der Dinge geschehen, die wir uns hier gar nicht vorstellen können. Vielleicht hat ihn jemand aus der Vergangenheit geschrieben, ein Kind, das in einem alten Gutshaus gelebt hat und euch etwas mitteilen will. Vielleicht kommt er aus der Zukunft und kennt Geheimnisse über euch, die ihr selbst noch gar nicht wisst. Und vielleicht schreibt euch sogar jemand, der schon gar nicht mehr auf dieser Welt ist, aber noch etwas Wichtiges sagen möchte. Es könnte sogar eine Nachricht vom Weihnachtsmann oder dem Christkind sein, die sich einen Augenblick Zeit genommen haben, um euch etwas zu erzählen, das nur für euch bestimmt ist.
Genau zu solchen Briefen möchten wir euch im Dezember einladen: Schreibt ein Gedicht darüber und lasst euch überraschen, aus welcher Welt es zu euch findet.
Ein Blick in die Vergangenheit – „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“
Vor einigen Jahren gab es eine Reality-Doku-Serie namens „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“, in der Familien in ein echtes, altes Gutshaus einziehen und dort mehrere Wochen lang genauso wie Menschen um das Jahr 1900 leben. Alles, was für uns selbstverständlich ist – elektrisches Licht, Wasser aus dem Hahn, Handys, Maschinen –, gibt es dort nicht. Stattdessen müssen sie Holz hacken, um Feuer zu machen, im Schein einer Petroleumlampe kochen, Wäsche mit der Hand schrubben und lernen, mit Tinte und Feder zu schreiben.
Während sie das tun, verändert sich etwas: Die Räume des Hauses beginnen zu erzählen. Das Haus wirkt plötzlich wie ein eigener Charakter voller Vergangenheit, voller Geheimnisse, manchmal auch voller Stille, die sich wie eine andere Zeit anfühlt. Man sieht knarrende Treppen, lange Flure, Dachböden mit staubigen Kisten, in denen vielleicht seit hundert Jahren niemand mehr war. Und man kann sich leicht vorstellen, dass irgendwo zwischen den alten Möbeln ein Brief liegt, der nur darauf gewartet hat, von euch entdeckt zu werden.
Vielleicht ist es der Brief eines Kindes, das im Jahr 1900 dort gewohnt hat und euch um Hilfe bittet. Vielleicht stammt der Brief aus einer Zukunft, in der das Gutshaus längst zerfallen oder zu etwas völlig anderem geworden ist. Wer weiß: Vielleicht öffnet ihr eine Schublade, und darin liegt ein Brief an euch, geschrieben in einer Handschrift, die niemand mehr kennt. Diese Mischung aus Vergangenheit, Geheimnis und Abenteuer kann euch eine wunderbare Grundlage für euer eigenes Gedicht geben.
„Weiße Nacht. Tag Fünf“ von Kim Hyesoon: Ein Brief aus Licht
Eine ganz besondere Inspiration kann euch auch das Gedicht „Weiße Nacht. Tag Fünf“ der koreanischen Dichterin Kim Hyesoon geben. Dieses Gedicht wirkt wie ein Echo aus einer anderen Welt, eine Stimme aus einem Ort, der nicht wirklich hell und nicht wirklich dunkel ist. Es erzählt von einem Brief, der aus einer Welt kommt, in die man selbst niemals antworten kann. Vielleicht, weil diese Welt zu weit entfernt ist, oder weil sie gar nicht mehr zu unserer Wirklichkeit gehört.
Je weiter man liest, desto stärker öffnet sich diese merkwürdige, leuchtende Welt. Pferdewagen aus Licht fahren dort leise vorbei, Mädchen tragen Hosen aus Licht und klopfen kichernd an eine Welt, in der es keine Nacht gibt. Züge steigen schweigend an die Oberfläche, als wären sie Erinnerungen, die zurückkehren möchten. Und plötzlich begreift man: Der Absender dieser Briefe könnte man selbst sein – aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben.
Eure Schreibaufgabe im Dezember:
Schreibt euer eigenes Gedicht über einen geheimnisvollen Brief aus einer anderen Welt. Überlegt zuerst, woher der Brief kommt – aus der Vergangenheit, der Zukunft oder einer völlig fremden Welt. Dann überlegt, was darin stehen könnte: eine Geschichte, ein Geheimnis, ein Wunsch oder eine Warnung. Ihr könnt beschreiben, wie sich die Welt verändert, wenn ihr den Brief öffnet, und welche Gefühle er in euch auslöst. Der Brief kann aber auch für sich stehen. Lasst euch dabei von allem inspirieren, was ihr spannend findet: alte Gutshäuser, geheimnisvolle Räume, Orte aus euren Träumen oder Szenen aus Geschichten, die ihr liebt.
Wir wünschen euch eine wundervolle Winter- und Weihnachtszeit, funkelnde Ideen und natürlich einen Brief aus einer anderen Welt, der nur auf euch wartet.
Weiße Nacht. Tag Fünf
Ein Brief wird kommen von dort, wohin du nicht zurückschreiben kannst
Dass du schon dort bist
Dass du dich schon verlassen hast
Ein heller Brief wird kommen aus einem Loch, das alles über dich weiß
Ein Brief wird kommen, glänzend wie das Gehirn eines Toten, das jetzt alles weiß
Ein weiter, breiter Brief, ohne Gestern und Morgen, wie die Zeit vor deiner Geburt
Wo Pferdewagen aus Licht leise mit Schellen klingen
Wo Mädchen in Hosen aus Licht kichernd an eine Welt ohne Nacht klopfen
Wo die letzte Bahn hoch an die Oberfläche fährt
Wo alle Züge gleichzeitig aufleuchten, dich im Schweigen vergessen
Wo du nicht hinkommst, weil du keine Beine mehr hast
Wo die Kinder deiner Kindheit schon angekommen sind
Wohin du nie zurückschreiben kannst mit deiner schwarzen Schrift
Ein Brief wird kommen von dort, aus diesem hellen Loch
Wo deine Kinder schon vor dir alt geworden sind
Wo du schon eingegangen bist in den Kreis der Wiedergeburten
Ein Brief wird kommen von dort, geschrieben in heller, heller Tinte
Wo keine Finsternis seit der Geburt
Wo ein Neugeborenes jetzt das gleißende erste Licht schaut
Ein Brief wird kommen von dort, ein großer, großer Brief
aus: Kim Hyesoon, Autobiographie des Todes, übersetzt von Uljana Wolf und Sool Park, S. Fischer – Frankfurt a.M. 2025
Über Kim Hyesoon
Kim Hyesoon, 1955 in Uljin geboren, ist Lyrikerin, Essayistin und Kritikerin. Sie studierte koreanische Literatur. Themen wie Emanzipation und Freiheit und immer wieder Bezüge zu historischen und gesellschaftspolitischen Fragen sind zentral in ihren unkonventionellen Arbeiten. Sie gehört zu den bedeutendsten modernen Lyrikerinnen Koreas, wurde als erste Autorin mit dem Midang Award ausgezeichnet und lehrt Kreatives Schreiben am Seoul Institute of the Arts. Für den Lyrikband Autobiographie des Todes wurde Kim Hyesoon zusammen mit den Übersetzer*innen Uljana Wolf und Sool Park mit dem Internationalen Literaturpreis 2025 des HKW Berlin ausgezeichnet.

Kim Hyesoon, Foto: Kritzolina, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons