Ein Brief wird kommen von dort

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Habt ihr manchmal das Gefühl, dass das, was ihr seht, nur die Oberfläche ist? Dass direkt hinter dem Normalen etwas Anderes liegt – ein Riss, ein Flackern, ein Raum, der nicht da sein sollte?

Backrooms, Foto: Model by Huuxloc – https://sketchfab.com/3d-models/backrooms-another-level-429f3c9ea8024f5e9bb78f6649c7bd26, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=128609822

Die Backrooms: ein Unfall der Realität
Vielleicht kennt ihr dieses Gefühl: Man läuft durch ein Parkhaus, über einen Schulflur, in einen muffigen Keller und für einen kurzen Moment wirkt alles seltsam falsch. Die Luft zu still. Die Neonlampe zu gelb. Die Wände zu glatt. Willkommen in der Idee der Backrooms – ein Internetphänomen, das als kleine Gruselgeschichte begann: ein endloses Labyrinth aus gelblichen, leeren Büroräumen. Alte Teppiche, monotones Brummen, flackerndes Neonlicht. Alles wirkt bekannt, aber falsch. Als wäre die Welt beim Speichern abgestürzt und jemand hätte ein Backup aus den 1990ern geladen. Was die Backrooms so spannend macht: Sie sind nicht „magisch“ im klassischen Sinn. Sie sind eine Parallelwelt aus Fehlern, aus Wiederholungen, aus Räumen, die keinen Zweck haben. Eine Welt, in der man sich nicht verirrt, sondern aufgelöst wird. Und genau dieses Gefühl, dass „die andere Seite“ unseres Alltags näher ist, als wir denken, suchen wir in euren Gedichten.

„Weiße Nacht. Tag Fünf“ von Kim Hyesoon – Ein Brief aus einer anderen Welt
Wenn ihr nach einer poetischeren Art von Parallelwelt sucht, lohnt sich ein Blick auf Kim Hyesoons Gedicht „Weiße Nacht. Tag Fünf“, das wir euch diesen Monat vorstellen. Es stammt aus dem preisgekrönten Band „Autobiographie des Todes“ (2016), einem Werk, das in Südkorea zu ihren bedeutendsten zählt. Der Band besteht aus 49 Gedichten, die wie eine Reise der Seelen durch das Zwischenreich nach dem Tod strukturiert sind. Er entstand als Reaktion auf reale Katastrophen, darunter der Untergang der Fähre Sewol, bei dem viele junge Menschen starben. Hyesoon schreibt über Verlust, Übergänge und jene Räume, in denen die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt.

In „Weiße Nacht. Tag Fünf“ taucht ein Brief auf. Aber kein normaler Brief. Er kommt aus einer Welt, zu der wir keinen Zugang haben und in die wir nicht zurückschreiben können. Eine Welt, in der Zeit nicht linear verläuft, in der sich Licht seltsam verhält, in der alles vertraut und doch zutiefst irritierend ist. Der Brief weiß alles über euch und doch ist er von einer Wirklichkeit, die ihr niemals erreichen werdet. Genau diese Mischung aus Nähe und Unmöglichkeit ist die Brücke zu unserem Thema: Parallelwelten, die an unserem Alltag kratzen.

Eure Schreibaufgabe im Dezember:
Schreibt ein Gedicht über die Parallelwelt, die sich hinter eurem Alltag versteckt. Das Surreale, das ihr manchmal spürt. Das Abgründige, das an schlechten Tagen an die Oberfläche drängt. Oder die Version eurer Welt, die nur einen Schritt entfernt liegt. Nicht Fantasy im klassischen Sinn, sondern das, was passiert, wenn die Realität kurz den Halt verliert.

Auch wenn unser Thema euch dieses Mal durch schummrige Flure, verzerrte Räume und grelles Licht führt: Wir wünschen euch eine ruhige, helle und gute Winter- und Weihnachtszeit! Mit vertrauten Stimmen, warmem Licht und Räumen, in denen man sich nicht verirrt.

Weiße Nacht. Tag Fünf

Kim Hyesoon

Ein Brief wird kommen von dort, wohin du nicht zurückschreiben kannst

Dass du schon dort bist
Dass du dich schon verlassen hast

Ein heller Brief wird kommen aus einem Loch, das alles über dich weiß

Ein Brief wird kommen, glänzend wie das Gehirn eines Toten, das jetzt alles weiß
Ein weiter, breiter Brief, ohne Gestern und Morgen, wie die Zeit vor deiner Geburt

Wo Pferdewagen aus Licht leise mit Schellen klingen
Wo Mädchen in Hosen aus Licht kichernd an eine Welt ohne Nacht klopfen

Wo die letzte Bahn hoch an die Oberfläche fährt
Wo alle Züge gleichzeitig aufleuchten, dich im Schweigen vergessen

Wo du nicht hinkommst, weil du keine Beine mehr hast
Wo die Kinder deiner Kindheit schon angekommen sind
Wohin du nie zurückschreiben kannst mit deiner schwarzen Schrift
Ein Brief wird kommen von dort, aus diesem hellen Loch

Wo deine Kinder schon vor dir alt geworden sind
Wo du schon eingegangen bist in den Kreis der Wiedergeburten

Ein Brief wird kommen von dort, geschrieben in heller, heller Tinte

Wo keine Finsternis seit der Geburt
Wo ein Neugeborenes jetzt das gleißende erste Licht schaut

Ein Brief wird kommen von dort, ein großer, großer Brief

aus: Kim Hyesoon, Autobiographie des Todes, übersetzt von Uljana Wolf und Sool Park, S. Fischer – Frankfurt a.M. 2025

Über Kim Hyesoon

Kim Hyesoon, 1955 in Uljin geboren, ist Lyrikerin, Essayistin und Kritikerin. Sie studierte koreanische Literatur. Themen wie Emanzipation und Freiheit und immer wieder Bezüge zu historischen und gesellschaftspolitischen Fragen sind zentral in ihren unkonventionellen Arbeiten. Sie gehört zu den bedeutendsten modernen Lyrikerinnen Koreas, wurde als erste Autorin mit dem Midang Award ausgezeichnet und lehrt Kreatives Schreiben am Seoul Institute of the Arts. Für den Lyrikband Autobiographie des Todes wurde Kim Hyesoon zusammen mit den Übersetzer*innen Uljana Wolf und Sool Park mit dem Internationalen Literaturpreis 2025 des HKW Berlin ausgezeichnet. 

Kim Hyesoon, Foto:  Kritzolina, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons