Die lyrix-Jahresgewinner*innen 2025 stehen fest!

Titelvers: Mara Genschel aus „Weibliches Genie:“

Zum 17. Mal kürt der Bundeswettbewerb für junge Lyrik lyrix die Jahresgewinner*innen! Wir gratulieren herzlich allen Preisträger*innen!

Aus 144 Gedichten, die im Jahr 2024 jeweils als monatsbeste aus der Gesamtzahl von 1.488 eingereichten Gedichten prämiert wurden, wählten zwei Jurys die 24 besten Texte aus.

Im Juni werden die Jahresgewinner*innen der Altersgruppe 15-20 zu einer fünftägigen Reise nach Berlin inklusive Schreibwerkstatt, professionellem Sprechtraining, Lesungen und weiterem literarischem Rahmenprogramm eingeladen.

Höhepunkt der Reise ist die öffentliche Preisverleihung, die am 11. Juni 2025 im Rahmen des Poesiefestival Berlin unter der Moderation von Uljana Wolf und mit Musik von Golden Diskó Ship im Haus für Poesie (Knaackstraße 97 / Kulturbrauerei, 10435 Berlin) stattfindet. Beginn ist um 14 Uhr, der Eintritt ist frei. Alle Gäste sind herzlich willkommen!

Zur diesjährigen Jahresjury der Kategorie 10–14 Jahre gehören Jan Drees (Literaturredakteur, Deutschlandfunk), Claudia Maaß (Didaktikerin und Literaturvermittlerin), Rojin Namer (lyrix-Alumna) und Arne Rautenberg (Lyriker).

Die Jury der Kategorie 15–20 Jahre setzt sich zusammen aus Thorsten Dönges (Literarisches Colloquium Berlin), Norbert Hummelt (Lyriker und Übersetzer), Clara Leinemann (wortbau e.V.) und Daniela Seel (Lyrikerin und Verlegerin).

Die Jahresgewinner*innen in der Altersgruppe 10-14

Wasser der Welt!

Nico Bihlmayr aus Ulm

Jahrgang 2014

Geh ins Hallenbad.
Setze dich auf den Startblock von Bahn 3.
Auf die Bahn deines persönlichen 50m-Kraul-Rekords.
Massiere die Kammern in deinem Herzen, die dir weh tun, seit du denken kannst.
Und jetzt die Kammern, die du verschlossen hast.

Setze Schwimmbrille und Badekappe auf.
Singe:
Wasser der Welt.
Schlage Wellen.
Bringe Bernstein.

Trage dies weg: Wochen ohne Schwimmen.
Trage dies weg: Wochen ohne Schreiben.
Trage dies weg. Die Nervigkeit meiner Klassenkameradin M.
Trage dies weg: M.s Klassensprecheramt

Bewirke dies: offene Ohren für meine Gedichte
Bewirke dies: Spiel und Spaß in jeder Schulstunde
Bewirke dies: offene Telefonzellen

Halte dies fest: die Unordnung in meinem Zimmer.
Halte dies fest: die Unordnung in unserer kompletten Wohnung.
Halte dies fest: die Erinnerungen von 7000 Kindern, die in meiner Schule gespeichert sind.
Halte dies fest: die Erinnerungen an Erwin, meinen Opa. Sie sind das Einzige, was ich noch von ihm habe.
Halte dies fest: Mein Zuhause. Bis auf das Loch in der Wand.

Ich dachte, ich hätte mehr Wünsche.

 

Zum Monatsthema: Schaff dem, was haltlos ist, eine Umrahmung

Nico Bihlmayr, *2014, aus Ulm. Fährt viel Rennrad und schwimmt viel. Bringt seine Gedanken gerne als kleine Geschichten, Rätsel und Gedichte im Kurs „Kreatives Schreiben“ am Schubart-Gymnasium zu Papier.

Gefangen in Zeilen und Erwartungen

Tom Daamen aus Gescher

Jahrgang 2009

Man sagt, er sei fleißig, intelligent und immer bereit zu lernen,
nach Noten zu streben, die doch so oft trügen.
Doch wer bin ich wirklich, fernab des Zwangs?
Ein Echo, ein Ruf, ein Sehnen, das leise in der Dunkelheit spricht.

Lehrer, Eltern, die Welt, sie rufen laut:
Erfüll die Erwartungen, sei das Bild unserer Träume.
Doch in mir wächst ein Nein, ein Sturm, ein verzweifelter Schrei,
ich möchte nicht nur ein Schatten in einem Leben sein, das nicht meines wird.

Ich träume von einem Ort, wo Lernen Flügel verleiht,
wo Schule nicht Prüfung, sondern ein Tanz der Ideen ist.
Wo ich sein darf, wer ich bin, ohne Maske, ohne Furcht, ohne Zwang, ohne die Furcht zu scheitern,
wo Identität nicht Rolle, sondern mein wahres Selbst ist.

So rufe ich Nein zu Rollen, die mich erdrücken,
zu Klischees, die binden, zu Erwartungen, die mich zersplittern.
Ich will lernen, ich will fliegen, auf den Strängen meiner Träume,
die Welt erblicken mit meinen Augen, mit einem Herzen, das nicht resigniert.

Aber die Mauern sind hoch, die Tore fest verschlossen,
meine Flügel sind lädiert, meine Träume beinahe entschwunden.
In den Hallen der Verzweiflung hallt mein stummer Ruf,
ein Nein, das verhallt in der Leere dieser endlosen Nacht.

So rufe ich Nein, ein Nein, das ungehört verweht,
ein Nein, das verfliegt, wie Laub im Herbstwind.
Ich bin mehr als eine Zahl, mehr als ein Name auf Papier,
ich bin ein Mensch, dessen Leben nach Freiheit schreit.

Leid will ich nicht mehr spüren,
will aufhören, mich ständig zu rühren.
Mein Herz ist erschöpft, mein Geist ist leer,
ich sehne mich nach Frieden und nichts mehr.

Doch tief in mir, da glimmt ein Funke Licht,
es flüstert sanft: „Gib dich nicht auf!“
Mit jedem Atemzug, den ich nehme, spüre ich die Kraft,
die mich hält und mich leitet, in die Ferne.

Und so lasse ich los, entlasse die Sorgen im Wind,
finde den Anker, der mich hält, so wie ich bin.
Ich bin mehr als ein Echo, mehr als ein Ruf in der Nacht,
ich bin der, der leise hofft, dass er bald erwacht.

 

Zum Monatsthema: übertrieben schön aber nicht vorgesehen

Tom Daamen, *2009, Gescher. Als aktiver Hackclubber entwickelt er Open-Source-Projekte und lernt täglich Neues dazu. Als sein Deutschlehrer am GMV Reken lyrix erwähnte, schrieb er ein paar Monate später einfach drauflos.

Der Papierkorb

Veronika Frank aus Halle (Saale)

Jahrgang 2009

So unscheinbar versteckt er sich in der hintersten Ecke meines Zimmers
Seit Monaten nicht geleert
Immer mehr Papier

Doch irgendwann geht es nicht mehr
Raus in den Hinterhof
Dort kommen die Geheimnisse ans Licht

Alte Zeichnungen landen in der blauen Tonne
Aufwändige Projekte und zerrissene Briefe
Schon fast verdrängt und vergessen

Jedes Mal eine kleine Zeitreise

 

Zum Monatsthema: es bis aufs Letzte kennenlernen

Veronika Frank, *2009, Halle (Saale). Liest gerne lange Romane und schreibt gerne kurze Gedichte. Am liebsten nachts, wenn die Stille ihre Gedanken zu Wort kommen lässt.

Von diesem Land in jenem Land

Munir Habibi aus Hamburg

Jahrgang 2009

Ich suche nach Friedfertigkeit
von diesem Land in jenem Land
Ich bin müde von 45 Jahren Krieg
Ich bin schuldig, weil ich immer schwieg
Ich suche nach ein bisschen Sicherheit
von diesem Land in jenem Land
Vater geht auf die Suche nach Brot
Obwohl ihm die Gefahr des Todes droht
Ich suche nach anfänglicher Freiheit
von diesem Land in jenem Land
Ich bin weit weg von Zuhaus
Ich halte das Heimweh aus
Ich suche nach besserer Möglichkeit
von diesem Land in jenem Land
Ich bin Afghane
aus einem kriegsgebeutelten Land

 

Zum Monatsthema: bin ein stringteilchen

Munir Habibi, *2009, Hamburg (ursprünglich aus Herat, Afghanistan). Interessiert sich für Geschichten der Zeitgeschichte und politische Ereignisse. Er träumt sich Geschichten aus und schreibt sie auf. In seiner Freizeit zeichnet er und liest manchmal persische Gedichte.

Goldene Stunden

Annelie Hettenbach aus Rutesheim

Jahrgang 2010

Wenn die Tage kürzer werden
Macht die Sonne Stein zu Gold
Und der Wind treibt Wolkenherden
Bis die Tage ruhiger werden
Wenn der Winter sie verfolgt.

Doch bevor der Frühschnee fällt
Wird das kleine Dorf zur Stadt.
Zu Gast ist hier die ganze Welt.
Musik, die sie gefangen hält
Macht Alltagsgräue matt.

Regen der Klänge, Musik wie ein Sturm
Wäscht die Luft von der Stille rein.
Blumen schlagen Wurzeln auf Stein
Klänge erbauen aus Farben den Turm
Die Welle lässt Träume gedeihen. 

Wenn die Töne dann verklingen
Kündigt sich der Winter an 
Und die Folgejahre bringen
Stolz und Glück und Herzenssingen
Wieder und den großen Bann. 

 

Zum Monatsthema: ab wann die Stadt zu heißen beginnt

Annelie Hettenbach, *2010, Rutesheim. Hat andauernd viel zu viele Gedanken gleichzeitig im Kopf, die aufgeschrieben werden wollen. Also sorgt sie dafür, dass sie nicht verloren gehen. Außerdem spielt sie gerne Cello und Klavier, malt, liest, hört Hörspiele und Musik, entdeckt die Natur oder verliert sich in Themen, die sie nie wieder brauchen wird.

Wirklich wichtige Erkenntnisse der Kindheit

Charlotte Jelinek aus Berlin

Jahrgang 2011

Schutzbrille raus,
Haare zurück,
Vorratsschrank auf,
Augen geschäftig 
Zusammen kneifen.

Angst ausschalten,
Teller greifen,
Pinzette nehmen,
Hoffen, dass alles gut
Gehen wird.

Rotes Pulver,
Scheint gefährlich,
Auf Teller krümeln,
Nase rümpfen und
Ängstlich gucken.

Paprikapulver,
Edelsüß,
Monsterscharf,
Vorsichtig auf
Zunge streuen.

Schlucken.
In Deckung gehen.
Warten, dass Feuer in gefährlichem Ausmaß aus dem Rachen züngelt.
Erkenntnis erhalten, dass die Sesamstraße manchmal lügt.

 

Zum Monatsthema: Kirschen sind besser als Brause

Charlotte Jelinek, *2011, Berlin. Mag es, frei erfundene Universen zu betreten oder Momente mit Worten einzufangen. Geschichten denkt sie sich schon immer aus. Sie fing Anfang 2024 während ihrer immer noch andauernden Post-COVID-Erkrankung an zu dichten. Sie ist oft mit Kopfhörern anzutreffen und lässt sich durch Musik inspirieren. Außerdem zeichnet sie gerne und lernt neue Sprachen.

Schulweg (gold edition zum Bahnstreik am 29.02.2024)

Tonda Montasser aus Berlin

Jahrgang 2011

I

Dann mal los!
Satans-Dönerladen,
Wo Obdachlose nachts
Die letzten goldenen
Pommes kriegen.
Der Asia-Blumenladen
Mit seinen besten mottenzerfressenen Orchideen.
Das Eckhaus mit seiner
Blutroten-zersplitterten
Sparkasse,
Wo ich mit 50 Cent
Türsteher bezahle
Für ihre Nächstenliebe.

II

7:20 Uhr, die Ampel
Stellt sich tot.
Noch eine goldene Mate
Am Kiosk meines Vertrauens.
Vorm 0 %-Homemade
Burger-Stopp-Pizza
Verpasse ich die letzte M10
Eine von bunten Slogans
Verseuchte Party-Tram.
„Muss wohl die S-Bahn nehmen“,
Jammer ich, stigmatisiert
Vom öffentlichen Nicht-Nahverkehr.

III

Zur Bahn vorbei an schäbigen
Luftballon-Läden.
Mit falschen Versprechen gefüllt –
Buddhas große Antiquitäten-Hölle.
Das käsig-verschnitzelte Wirtshaus.
Dann zum Kommunisten-Park.
Erinnert uns täglich.
Kämpfen sollen wir –
Gegen Nazis.
Alle zusammen.

IV 

Die betonblaue Brücke
an der Station Greifswalder Straße.
Hier kommen die Obdachlosen her
Um sich wiederzubeleben.
Da die Lost-Place-Videothek
Die zentral neben dem braunen Aldi steht.
Der wiederum zentral neben der Bibliothek steht,
Von der ich meine Videos beziehe.  

V

Im S-Bahnhof: Leerstand,
Violinen-Meister, Zeitungsverkäufer.
Ein zerbombter Geldautomat.
Ein goldgrüner McDonalds.
Die S-Bahn kommt
Immer erst in fünf Minuten.
Davor der Himmel –
Einfach nur grau, aber
Manchmal golden und
Zinnoberrot.

VI

Ich danke dir, BVG,
Für deine Streiks.
Ich danke dir, Buddha,
Der du dich zu den Obdachlosen legst.
Ich danke den geplatzten Luftballons
Voller Orchideen.
Den Seitan-Dönern und den Pommes.
Den Denkmälern und den Parks.
Den zersplitterten Sparkassen
Den Nacht-wie-Tag
Mit Menschen versorgten Läden.
Ich danke dir, Berlin
Für meine goldenen Wege.

 

Zum Monatsthema: ab wann die Stadt zu heißen beginnt

Tonda Montasser, *2011, Berlin. Begann im ersten Corona-Lockdown zu schreiben und im zweiten zu dichten. Ausgezeichnet beim THEO 2021-24, beim Treffen Junger Autor*innen 2022/24 und beim Bundeswettbewerb lyrix 2021-24. Gedichte erschienen zuletzt bei etceterapress, Signaturen-Magazin und manuskripte. 2021 und 2023 trat er auf dem internationalen literaturfestival berlin und 2024 auf dem poesiefestival berlin auf. Er liebt Actionwellen, Filme und Yu-Gi-Oh-Turniere, bingt alles von der YouTuberin Coldmirror und will später Schreiben studieren.

Tagträumer

Skylar Rath aus Waren (Müritz)

Jahrgang 2009

Alles zu fühlen und zu sehen,
so schön in der Theorie,
bis es einen Weg findet, sich in deine Haut zu nisten.
Ranken mit Dornen winden sich durch deine Zellen.
›Ruhe‹ hallt es.

Nicht wertvoll für dein Umfeld,
wie Unkraut für deine Zukunft.
Sollst Lilien und Thymian sein,
doch träumst von Vergissmeinnicht und Rosmarin.
Honigwaben statt Muttermale.

Sie wollen dich formen wie Glas,
dich mit derselben Zerbrechlichkeit zurücklassen.
Halte dagegen, egal wie schwer.
Egal wie lang.
Egal wie viel es kosten mag.

Bist mehr als ein Wimpernschlag,
trägst das Universum in dir.
Schäl Orangen, lass sie auf der Zunge vergehen,
teile mit Freunden.
Träume in den Tag, genieße

 

Zum Monatsthema: übertrieben schön aber nicht vorgesehen

Skylar Rath, *2009, Waren (Müritz). Sieht die Schönheit im Alltag und schreibt sie Seite für Seite nieder. In ihm brennt eine Passion für das Schreiben, egal ob über die fallenden Blätter im Herbst oder den Tau auf ihnen. In der Lyrik findet er sich selbst wieder und zeigt, welche Gefühle ihn plagen und wie er die Wunden mit seinen Gedichten schließt.

Randnotizen am Reißbrett

Mona Ilena Schlegel aus Kempen

Jahrgang 2010

Ich war ein eisblaues Prinzessinnenkleid hinter dem Haus
Ich war von der Morgensonne und Vogelgezwitscher erfüllt
Und zusammen ergab das Glück

Später war ich planlos, doch zufrieden für meine Zukunft
Und demonstrieren für jene der Welt

Dann war ich interessenlos
War von YouTube besessen

Vor wenig Zeit war ich Hundepflegerin
War ich Stofftierhorterin
War ich Lesende von Schullektüren

Jetzt bin ich wo bist du, wo bist du?
Ich bin warten, um meinen Joghurtbecher abzugeben
Jetzt bin ich komm zurück, zurück

Jetzt bin ich nur noch die Frage nach dir

 

Zum Monatsthema: bin ein stringteilchen

Mona Ilena Schlegel, *2010, Kempen. Ich schreibe ständig und wenn nicht, dann weil ich zu viel nachdenke. Ich war Finalistin beim Ingeborg Bachmann Junior Preis in Hermagor 2024, habe zwei Reden auf Demos für Vielfalt und Demokratie in Kempen gehalten und im April 2025 am ersten Kempener Poetry Slam teilgenommen. Zuletzt erschien mein erstes Buch auf Thalia.

Nimmerland

Evelyn Senkel aus Bernau am Chiemsee

Jahrgang 2010

Meine Mutter sagte mir immer, ich bin zu reif für mein Alter.
Damals war das noch etwas Gutes, 
ich, acht Jahre alt, trug die Worte \„Du bist ja schon so erwachsen“\ wie eine goldene Medaille um den Hals,
ich wünschte, ich könnte zurückgehen, sie mir herunterreißen und mir mehr Zeit zum Kindsein geben
und Spielzeug, anstatt des ganzen Gewichts, für das meine kleinen Schultern noch zu schwach waren.
Vielleicht wäre es besser für mich gewesen, \„normal“\ zu sein, anstatt \„älter“\,
vielleicht wäre es einfacher,
als kleines Mädchen war ich ja auch immer glücklicher als jetzt,
dass ich das damals nicht wissen konnte, ist grausam,
und ja, ich bin nicht wer ich war, obwohl ich gerne dieses Mädchen geblieben wäre, aber sie ist weg.
Ich hätte lieber mehr Kindheit gehabt. 

Ich schätze, ich bin das Gegenteil zu Peter Pan, gefangen in der äußeren Welt, ohne jemals in Nimmerland gewesen zu sein.

 

Zum Monatsthema: Kirschen sind besser als Brause

Evelyn Senkel, *2010, Bernau am Chiemsee. Bannt ihre Gefühle auf Papier und ist immer zwischen den Zeilen. Besonders gern gestaltet sie lyrische Texte.

Der Wandelstein

Emil Vieler aus Münster

Jahrgang 2012

Ich, der Stein.
Man sagt, ich bin die Ruhe in Person. 
Doch das ist eine Lüge.
Ich befinde mich im ewigen Wandel. 
Mal ein Haus, dann eine Höhle.
Ich sah alles, was euch verborgen ist. 
Ich sah den Steinzeitmenschen
Das Feuer entfachen. 
Ich sah ihn sich freuen, ich sah
Ihn sich verbrennen, denn ich war
Ein Stein, der sein Lagerfeuer umrandete.

Ich sah das erste Rad, ich sah den 
Menschen schwere Lasten leicht tragen, 
Denn ich wurde mit dem ersten Wagen transportiert. 

Ich sah die ersten medizinischen Fortschritte, 
Die Menschen retteten, denn ich war die 
Laborwand.

Was bei euch Wissen genannt wird, 
sind nur angesammelte Informationen, 
So viel habt ihr nicht überprüft,
nicht selber gesehen, 
einfach geglaubt
Einfach akzeptiert.

 

Zum Monatsthema: jetzt/ein Steinzeit-Telegramm

Emil Vieler, *2012, Münster. Träumt oft, gern, ausgefallen und bunt und reist mit seinen Freunden am liebsten durch die abenteuerlichsten Kerker-und-Drachen-Welten.

Ringelwürmer kürzen Rebellinnen

Sarah Zeiss aus Heidelberg

Jahrgang 2009

Du kannst auch
Rebellieren
Wenn du
Jede Strähne einzeln, vom
Ansatz bis zur
Ferse
Einmassierst, mit
Taft fixierst,
Haarspray kaufst.

Wenn Spitzen sich kringeln, sich locken, sich
Wellen in
Ringel und
Ringel und
Ringel und
Reih…

Immer
Mehr
L’Oreal, Langhaarmädchen,
Küss den
Himmel
Sei ein
Pfirsich,
Mangogirl
\„Pray for it, pray for it, close your
Eyes and have a look…”\

Denn
Leidende kitzeln und beißen an
Kinn
Schulter
Stirn.
Dir sein gewiss die verlorenen Jahre.

Immer mehr, immer
Teurer, Stiftung Warentest; immer
Besser, immer
Hübscher.

Dieser Wicht, der mich
Sticht, der nicht
Sieht, sich bloß
Gliedmaß für Gliedmaß in
Wille, Walle, Wolkenpracht den
Rücken runtersiecht.

Einmassieren, Shampoonieren, Augen-
Klimpern, Lipgloss, Hüftschwung und
Voilà!
Immer Per-
Fekt, immer 24/7 für euch
Skinnybüxen wert.
Sei meine Kette vergangener
Zeiten.

Ein Wurm sich
Verschlingt, die Made wird
Fad, und mit ihr das Horn der
Gedärme.

Würd mir niemals zugestehen, doch wenn sie
Bürstete, könnt nicht mehr sagen, dass das 
Anderssein Absicht ist.

Mona Lisa hatte auch keinen Conditioner.

 

Zum Monatsthema: lang und glatt oder kringelig?

Sarah Zeiss, *2009, Heidelberg. Jeder Atemzug ist voll Intensität, jeder Atemzug ist es wert, geteilt zu werden. So fasziniert es Sarah, unterschiedlichste Schicksale durch Worte zu Erfahrungen werden zu lassen. Sie liebt Freiheit, wie Lyrik sie ihr bieten kann und ist fest davon überzeugt, dass Literatur und ein Lächeln die Welt ein Stückchen besser machen. Sarah vergisst ständig, dass sie nicht am Meer wohnt.

Die Jahresgewinner*innen in der Altersgruppe 15-20

Vier Fremde

Lara Adam aus Wien

Jahrgang 2003

I: Die Großeltern

Ich bin ein Tier,
ich bin ein Kleinkind,
auf vier Beinen laufend.
Auf meinen vier Großeltern.

Auf den Jahreszeiten und
den Himmelsrichtungen, auf den
vier Ecken meines Spiegels.
Ich bin eine Vier.

Die Kanten der Tür,
durch die ich trete.
Die Ecken des Blattes,
auf das ich schreibe.

Das Kissen, in das
ich schreie. Der Koffer,
den ich packe. Das
Buch, das ich lese.

II: Die Himmelsrichtungen

Im Osten bin ich
Mutter. Mutter des Ostens,
aber Kind von niemandem.
Gebe Mi(l)ch und Honig.

Für den Norden bin
ich Tochter, ihre Tochter
und will sie nicht
sein, will meine eigene

Tochter sein. Bin des
Südens Schwester, er will
mich zum Lachen bringen,
aber ich weine davor.

Die Freundin des Westens,
vielleicht sogar seine beste.
Meine acht Augen geschlossen,
fühle ich seine Umarmung.

III: Die Jahreszeiten

Ihre kalten Tränen schmecken
nach blauen Augen, Haaren.
Das Vier-Farben-Problem,
alles ist bunt seitdem.

Ihre Dreadlocks wie Erde
über dem weißen Kleid.
Ihre Augen wie Nüsse,
ein Todesfall, vier Küsse.

Sein Lachen wie Feuer,
seine Haut wie Sand.
Die vier Buchstaben meines
Namens in seiner Hand.

Seine Luft flutet mich,
belebt und beruhigt sich.
Pflückt seine eigenen Blüten,
schenkt sie mir blutend.

IV: Das Quadrat

Wie Vivaldi und Malewitsch.
Kreiere mich selbst durch
das Erschaffen der Vier.
Mache sie zu mir.

Durch das Einteilen in
Kategorien, durch das ihnen
Namen geben, sie zu
einer realen Fiktion machen.

Ihre Zungen so tief
in meinem Mund, dass
sie mein Herz berühren,
wir uns gegenseitig inhalieren.

Und wenn sie ich
geworden sind und ich
sie, dann schaue ich
in fünf fremde Gesichter.

 

Zum Monatsthema: bin ein stringteilchen

Lara Adam, *2003, Wien. Schreibt, seit sie schreiben kann – Gedichte, Geschichten, Gedanken, Gefühle. Ihre Texte: halb Autopsie, halb Traumprotokoll. Verloren in Notizbüchern oder veröffentlicht in Anthologien. Sie lebt seit 2024 in Wien, wo sie Theater-, Film- und Medienwissenschaften studiert und zwischen Kino- und Hörsälen freiberuflich als Lektorin arbeitet.

meine sprache hat noch nie geechot

Lilli Biller aus Berlin

Jahrgang 2005

nicht in der stadt habe ich sprechen gelernt
aber die stadt hat mir gezeigt
wohin mit meiner sprache
in meinen augenwinkeln sitzt sie
ich weine sie in stillen tränen in die straßen
durch die wir gekommen sind
sie fließen den ganzen weg
nachhause, wo
in tälern, auf hügeln, in sand versandet, an weiße steine gelehnt,
in olivenbäume gehangen
meine sprache keine lügnerin war

meine sprache gab es schon, bevor es feuer gab
sie wurde leise geboren und hat die stille beendet, aber
auf gerader fläche, in kaugummi gekaut,
an fahrende autos gelehnt, von straßenlaternen gehangen
ist meine sprache eine verräterin

in der stadt gibt es ein sprache
die andere dunkelheiten kennt als meine
die gegen das ratatata ratata ratata,
das quietschen der bremsen, das schaben von gummi auf asphalt
ankommt
das harte K und P und T prallt von den glasfassaden ab
meine sprache hat noch nie ge
echot

ich rief um hilfe in meiner sprache
meine sprache rief mich nicht zurück

 

Zum Monatsthema: ab wann die Stadt zu heißen beginnt

Lilli Biller, *2005, Berlin. Wurde 2023 für ihre Texte „meine oma ist am feministischen kampftag gestorben“ und „Als sie das Frieren lernten“ beim Treffen junger Autor*innen ausgezeichnet. Seit Herbst 2023 studiert sie Literarisches Schreiben, Medien und Theater in Hildesheim. 2025 wurde ihr Text „trockene lippen“ mit dem THEO – Berlin-Brandenburgerischen Preis für junge Literatur ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift BELLA triste.

viel schwerer als viel-leicht

Anna Sophie Born aus Konstanz

Jahrgang 2004

vielleicht bekommen sie einmal die märkte zu sehen
vielleicht angstfreie händlergesichter
granatäpfelstapel ohne bombenalarm
i’m scared, anna, really scared
immer wieder bombenalarm 
immergleiche fragen
how is the current situation 
are you safe
vielleicht sehen sie das meer wann sie wollen
vielleicht können sie immer draußen sein
someone from my neighbourhood died 
not even twenty
they couldn’t find him till yesterday
vielleicht muss man nie ihre körper suchen
my friends are fighting and i’m just so sad 
vielleicht sagen sie nie stilles europa 
weil auch ihre straßen still sein werden
how are my children supposed to grow up 
vielleicht können sie durch die straßen laufen
als könnten sie ewig durch tel avivs straßen gehen 
don’t look too much 
there are some scary videos I don’t want you to see 
vielleicht werden sie eine wahl haben wie ich
today we went picking up strawberries 
i don’t know why it makes me think of you 
it was so nice i really enjoyed it 
vielleicht entsenden sie grüße von erdbeerfeldern 
vielleicht bekommen sie einmal die märkte zu sehen 

 

Zum Monatsthema: der nächste Halt

Anna Sophie Born, *2004, Konstanz. Studiert Psychologie. Nutzt den Bodensee zum Schwimmen, Schreiben, Lesen und zur Beruhigung. Sie ist zu nachtaktiv, würde alles für eine Katze tun, wenn sie eine haben könnte und hält die Entscheidung, sich Ohrlöcher stechen zu lassen, für eine der unhinterfragbarsten ihres Lebens. Sie würde gerne nach Südafrika und in Kappadokien Heißluftballon fahren.

nein

Selin Erdogan aus Leipzig

Jahrgang 2004

in der ecke hält er sie in seinen armen wie sonst niemand, reibt und quetscht die neurodermitishaut so zart, bis sie trieft und in schuppen schicht für schicht auseinanderfällt. blut mischt sich mit speichel und schweiß und vor ihr liegt das fragment des nie wieders, das sie jetzt ist. seine bohrend-flache hand färbt dann weiter die pigmente ihrer haut, blaue flecken und ihr lachen füllen dann den saal voller dinge und ihm. nein, schreit sie in sich selbst hinein, fällt auf die knie und blickt in einen himmel, der nicht existiert. im fallen sehnt sie sich
gleich, sammelt auf dem boden gekrümmt ihre schuppen, um sich wieder ganz zu nähen, als die schuppen dann in ihren händen zerfallen, fällt sie wieder in die arme, die sie häuten, stürzt sie wieder in die ecke, die sie auseinandernimmt, sie ganz behutsam, schicht für schicht zerreißt. das nein aber, es rennt jetzt, drängt vor, will eindringen, penetrieren, kaputt machen. ihre stimme suchend in allem der ecke findet sie nichts, kriecht ein stück aus seinem dunklen licht und sagt tonlos so
ihr erstes
nein.

 

Zum Monatsthema: übertrieben schön aber nicht vorgesehen

Selin Erdogan, *2004, Leipzig. Aufgewachsen in Unterfranken, liest und schreibt sie zwischen Literatur und Wissenschaft sowie zwischen Prosa und Lyrik irgendwo in Würzburg oder Leipzig. Ihre Themen kreisen um das nie ganz Greifbare des Zwischenmenschlichen und den wiederkehrenden Formen seiner Aufrechterhaltung. Neben Kulturschaffung und -vermittlung organisiert sie Literatur- und solidarische Denk- und Schreibräume, u.a. als Mitwirkende an der Kollektiven Literaturzeitschrift Würzburg und im Verlag Rotscheibe.

99 namen meiner geschwister

Souat Eslek

Jahrgang 2003

wir waren alle reinlich gekleidet. josi und mara mit dem langen rock, jessi, die mich schon als kind im korb gehalten hatte, als die strömung mich wegtrug, wie bei miriam und moses, nur dass ich ein mädchen bin und die zehn plagen auf das herz meines vaters legte, bevor ich das trockene ufer betrat.

es war winter, aber die häuser sahen sehr warm aus. wenn wir zu ihnen zurückkehrten, würden wir unsere häupter gegen die unserer männer und brüder tauschen, unserer ältesten, wir würden schweigen und das essen machen und nicht weinen, wenn sie uns die teller zurück ins gesicht werfen würden, wenn sie unsere kinder wegnehmen würden, im gebet, wenn alle die augen geschlossen halten und es keine zeugen gibt, wir würden nicht an ihnen zweifeln. wir würden sagen: in jesu namen. und so sei es. und würden unser leichtes joch aufnehmen und uns von den männern pflügen lassen, so wie es sittlich ist.

und ich nannte mich jael, und ich gab meinen feinden milch zu trinken in meinem zelt, und ich schlug sie mit dem zeltpflock, so wie debora es prophezeihte.
und ich nannte mich ozan, und jetzt singe ich darüber.
und ich gab mein haar den dschinn, für sie darin zu hausen wie sie wollten, wirr und sicher würde es sein, und mein blick auge in auge mit gott.
und er nannte mich glück, und ich nannte mich ein ewiges bekommen, und meine füße sind blutgesalbt wie frauenfüße, und mein geist losgelöst wie einer zwischen leben und tod.
und gott hat uns glück genannt, und die erde hat uns sanft genannt, und ich nenne uns vogel huma auf einem ast, sich endlich ausruhend, schlafend, träumend.

 

Zum Monatsthema: übertrieben schön aber nicht vorgesehen

Souat Eslek, *2003. Schreibt sich der Welt mal mehr und mal weniger auf, macht Kunst und Unruhe alleine und im Kollektiv, studiert, sammelt, lernt viele Dinge.

Der Geist

Tim Grau aus Hofheim

Jahrgang 2008

das Meer auf dem
die Erinnerungen treiben wie Container
die vom Schiff gefallen
sind. manche an Land
gespült. manche 
am Meeresgrund 
wo sie von Zeit zu Zeit
aufbrechen und mit Gummi-
Enten aus Hass und Schmerz 
das Meer bedecken. dann weiß man
nicht woher sie kommen, diese Bojen
die einst
Freude bringen sollten

 

Zum Monatsthema: Körpergedächtnis

Tim Grau, *2008, Hofheim am Taunus. Schreibt seine Gedanken im Rohformat auf Papier. Kreiert Bilder, ohne zeichnen zu können. Taucht ab in Mangas, Animes und Trading Card Games. Jongliert mit Sprachen, Zahlen und Formeln. Kann Musik zu Szenen konvertieren und baut diese zu ganzen Welten aus.

Tasche

Moritz Grevel aus Ulm

Jahrgang 2005

 

Zum Monatsthema: bin ein stringteilchen

Moritz Grevel, *2005, Ulm. Macht noch kurz Abi, aber studiert innerlich schon Literarisches Schreiben. Seine Worte, die er über ganz alltägliche Dinge wie Social Media, das Klettern auf Kräne und Dächer oder auch mal über echte Schopenhauerfans verliert, finden viele ganz witzig.

Der Pfirsichbaum

Yasmin Hisir aus Gießen

Jahrgang 2006

Mein dede hat einen Garten
in der Mitte steht ein Pfirsichbaum
eine Frau stiehlt die Früchte
sie lacht immer
außer auf Fotos
ihre Zunge hat sie
in den Bergen gelassen
wo Dinge geschahen
davon spricht man nicht
sagt meine Mutter
das ist haram
sagt meine Mutter
sürtük
sagt die alte Frau
die uns das erzählt
sie zieht das Kopftuch enger
die Kinder gab man ins Heim
zwei Söhne
mittwochs ist da Waschtag
eine große Maschine
ein Kind fällt da leicht hinein
sie hat es reingeschmissen
sagt die alte Frau
die uns das erzählt
sie zieht das Kopftuch enger
hırsız
sagt mein Amja
er deutet auf den Pfirsichbaum
sie kommt durch die Tür
wenn sie angelehnt ist
die Pfirsiche wickelt sie in ihre Schürze
mit dem Blumenmuster
ich denke an das andere Haus
in dem anderen Land
wo keine Pfirsichbäume sind
und keine alten Frauen
die ihre Zunge
in den Bergen gelassen haben.

 

Zum Monatsthema: Kirschen sind besser als Brause

Yasmin Hisir, *2006, Gießen. Lebt gerade zwischen Abitur und zu viel Kaffee. Gedichte entstehen vor allem nachts, wenn das Fensterquadrat sich lila färbt, und es anfängt nach Stille zu riechen. Freut sich über Lichtflecken, Granatapfelkerne, nassen Asphalt. Versucht, die Einsamkeit zwischen ihren Fingerknöcheln zu poetisieren. Damit etwas bleibt, nur damit etwas bleibt.

das ist der Rahmen:

Charlotte Obenaus aus Dresden

Jahrgang 2005

Tracy Chapmans Stimme und wie altes Holz riecht,
nachts, wenn du deine Stirn gegen den Türrahmen lehnst,
schwarze Löcher, Risse im Gewebe, kleine Hemdtaschen,
wenn du die Sorgen ordentlich faltest, passen sie alle hinein.

das forgive me aus Sekunde 45 hat sich in deinen Kopf gebohrt
wie der Splitter in deine linke Hand, damals, als du stundenlang
auf der Schwelle standst und den Türknauf nicht loslassen konntest,
kennst du deinen Körper noch ohne?

wenn du die Augen zusammenkneifst,
sind Holzringe und CD-Rillen und deine Fingerkuppen aus derselben Haut.

geh zu den Mooreichen, geh durch den Raum dazwischen,
das ist der Türrahmen ohne Tür, das ist der Rahmen,
aus dem dein Leben fällt, und im Fall bleibt dir nur Schall und Rauch,
das heißt: Tracy Chapmans Stimme und wie altes Holz riecht.

 

Zum Monatsthema: Kirschen sind besser als Brause

Charlotte Obenaus, *2005, Dresden. Macht derzeit einen Freiwilligendienst in der Bibliothek der Maison Heinrich Heine in Paris, wo sie sich durch die Geisteswissenschaften liest. Schreibt neben Lyrik auch Kurzprosa, Postkarten und Traumprotokolle.

schatzsuche

Angelina Schülke aus Freiburg im Breisgau

Jahrgang 2003

dreihundert meter nördlich von hier
fließt die zeit mit der frühlingsschmelze
der musst du folgen 
den gewundenen wegen und morschen stiegen 
ins wohnzimmer der buchen
seit ich altere fülle ich meine erinnerungen in phiolen
vergrabe sie unter rissigen erd- und steinplatten
und lasse die feuerkäfer sie hüten
hast du ihre botschaften noch?

 

Zum Monatsthema: ab wann die Stadt zu heißen beginnt

Angelina Schülke, *2003, Freiburg im Breisgau. Verbringt den Großteil ihres Lebens zwischen Post-It-Zetteln, Waldboden, Bleistiften, Displays und Farben. Sammelt Dinge, einfach weil sie schön sind, ganz besonders unübersetzbare Wörter. Derzeit studiert sie Liberal Arts and Sciences mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen in Freiburg im Breisgau und Rotterdam. Lieblingsbeschäftigung: Tsundoku.

longing (ritual über das stille leben)

Fanny Marek Walger aus Marburg

Jahrgang 2004

erstens.

als wäre ich alt und holte mich zurück.

zweitens.

komm ins wäldchen. komm in den wald.
du räubertochter; jeder deiner schritte zerbricht
etwas und atmet kaum, du verlorenes
ritual. erstens. zweitens. drittens.

ihr flechtet einander das haar
in den sommer. ich bin die räubertochter,
sagst du, du aber bist ein reh, ein zweig,
eine blaubeere. und ihr küsst einander,

als habe liebe nichts mit euch zu tun.
komm in den totgesagten wald,
komm mit deiner kalten welt und
schäme dich nicht, dass du angst vor der

hoffnung hast. das haben wir alle.
följ mig ut i skogen. und spüre
deine stiefel auf dem boden: irgendwie schön,
wie prosaisch du stehst und alles an ihr barfuß ist.

halsketten und den nebel auf den lippen,
und es gibt noch ein gefühl,
in dem flüche euch umbringen können.
viertens: du senkst deinen kopf. ihr werdet

zarter, spürt worte im mund und wisst,
dass große männer sich vor euch fürchten würden.
fünftens: ihr zählt eure narben und für jede
gebt ihr etwas, das euch einmal wichtig war.

ihr seid liebend. ihr seid wahnsinnig und
auf eurer zunge ist die ganze welt,
i am longing, sagt ihr und betet,
dass ihr länger werdet, lebt.

i am longing. alle laute rollen von den
lippen herab in die flüsse, in die flut. too long,
to long, the longer. longer*in. du räubertochter,
sagst du, und weißt, dass du dich gerade verwünschst,

sehne dich.
ihr wartet gemeinsam den morgen ab
und seid mehr und weniger, als ihr seid.
er gebärt alles, was ihr sehnen werdet:

jemandes arme, völlige einsamkeit.

drittens.

wir nehmen ein reh, einen zweig, eine blaubeere
und um das klettergerüst bauen wir einen wald.
wir berühren unsere grauen haare,
flechten einander zusammen.

ich weiß, dass die worte, die ich sage,
endlich sind, und die gedanken, die ich denke.
ich sage:
ich wollte um den windschatten leben und

so lieben, dass niemand nach mir lieben kann,
und ich wollte die welt auf meiner zunge.
ich hätte alles und nichts gefühlt und es wäre

ein teil über unerreichbarkeit, doch stattdessen
will ich hören, wie du neben mir atmest.
du hast den wald in dir. das ist genug.

 

Zum Monatsthema: von Schnee

Fanny Marek Walger, *2004, Marburg. Stammt aus Bebra und schreibt, um das zu verarbeiten. Fanny hat fast einen Bachelor in Psychologie und große Lust, danach etwas anderes zu machen, lernt in der Zwischenzeit Sprachen und spielt Theater. Fanny Marek Walger mag keinen Kartoffelbrei.

geflügeltes Wort

Marie Helene Zwicker aus Berlin

Jahrgang 2003

tropfen versickerten im esszimmertisch
tomatenhäute platzten auf
über teppichränder stolperte man

du streutest aschgrauen kinderzimmerstaub
in meine augenwinkel
du nanntest mich sterntaler
dinge die du zu mir sagtest – geflügelte worte
heimisch in meinem planetarium

stück für stück
fange ich sie ein
die surrenden taubenbäuche beruhigen sich langsam
in meiner hand

deinen märchen
schenke ich
keinen glauben mehr

 

Zum Monatsthema: ans Ende

Marie Helene Zwicker, *2003, Berlin. Auf der Suche nach dem nächsten Luftzug oder einer Geschichte begibt sie sich in Schieflagen. Oder in Kiefernwälder. Studiert Politikwissenschaft in Berlin und schreibt vorzugsweise in dunkelblauer Wachsmalkreide.

Hier findet ihr die Broschüre mit allen Preisträger*innen-Texten zum Download: