Der zumindest nach oben offene Himmel

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Wettbewerb im Juli 2025

Wie viel habt ihr schon vergessen in eurem Leben? Ziemlich viel, oder? Das Interessante ist: Ihr wisst es nicht. Ihr wisst nicht, wie viel ihr vergessen habt – weil ihr es eben vergessen habt. Klingt trivial, ist aber ein Gedankenspiel mit erstaunlicher Tiefe.

Von Jason Mouratides from Portland, Oregon, USA – I lost the game, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6104090

Erinnert ihr euch an eure Einschulung? Vielleicht gibt es da ein verschwommenes Bild in euren Köpfen, irgendetwas mit Schultüte, Aufregung, vielleicht auch ein bisschen Angst. Aber euer erster Tag im Kindergarten? Euer allererster Löffel Joghurt? Oder das erste Mal, dass ihr wirklich allein auf dem Spielplatz wart? Wahrscheinlich nicht. Und trotzdem war all das mal da. Echt und wichtig.

In unserer digitalisierten Welt scheint Erinnern alles zu sein. Wir speichern Fotos, Chats, Mails, Sprachnachrichten, alles! „Erinnerungen für die Ewigkeit“, heißt es auf Werbeplakaten für Cloud-Speicher. Aber unsere Gehirne haben da eine andere Strategie: Sie löschen. Täglich. Ohne Backup. Und das ist gut so. Denn Erinnern braucht Platz, Aufmerksamkeit und Energie. Wenn wir wirklich alles speichern würden, wären wir komplett überfordert.

Vergessen schafft Raum. Es ist wie das Ausatmen nach einem tiefen Atemzug. Wie Aufräumen nach einer Party. Wie Frühjahrsputz im Kopf. Und trotzdem wird das Vergessen selten gefeiert. Höchstens bedauert.

Aus den Weiten der Netzkultur hat sich ein Spiel entwickelt, das genau diesen merkwürdigen Raum zwischen Erinnern und Vergessen betritt. Es heißt schlicht: The Game. Die Regeln sind einfach – und absurd:
1. Wenn du an The Game denkst, verlierst du.
2. Wenn du verloren hast, musst du laut sagen: „Ich habe The Game verloren.“
3. Danach darfst du versuchen, The Game wieder zu vergessen.

Das Spiel hat kein Ziel, keinen Anfang, kein Ende. Es existiert nur, wenn du dich daran erinnerst, dass es existiert. Und wenn du es tust, hast du schon verloren. The Game ist mehr als ein Internetwitz. Es ist ein Mini-Philosophiekurs über das menschliche Gedächtnis. Es macht spürbar, wie seltsam unser Verhältnis zu Erinnerungen ist. Und es erinnert uns an das Vergessen – ganz paradox – durch das ständige Scheitern daran.

Auch der Lyrikband „Fusseln“ von Wolfram Lotz, den wir euch diesen Monat als Monatslyriker vorstellen, beschäftigt sich auf vielschichtige Weise mit den Themen Erinnern und Vergessen – durch Fragmentierung, Absurdität und ein oft bewusst unzuverlässiges lyrisches Ich. Erinnern wird in „Fusseln“ nicht als linearer Prozess dargestellt, sondern als ein chaotisches, zerrissenes Geschehen. Einzelne Worte, Bilder oder scheinbar banale Alltagsobjekte (wie eben „Fusseln“) tauchen auf und verweisen auf Erinnerungsspuren, die nicht vollständig sind. Lotz nutzt Wiederholungen, Auslassungen und Sprünge, um Vergessen zu inszenieren. Durch absichtliche Sprachstörungen wird ein Eindruck erzeugt, dass etwas verloren geht oder nicht erinnert werden kann. Die „Fusseln“ selbst – oft übersehen – stehen sinnbildlich für das, was im Gedächtnis haften bleibt, obwohl oder gerade weil es scheinbar keine Bedeutung hat.

Was habt ihr aktiv vergessen wollen, und ist es euch gelungen? Welche Erinnerung würdet ihr gerne löschen? Wie fühlt es sich an, etwas verloren Geglaubtes plötzlich wieder zu wissen? Was wird euch für immer im Gedächtnis bleiben, obwohl es auf den ersten Blick total unwichtig scheint? Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass ein Spiel wie The Game Millionen Menschen verbindet – einzig durch das gemeinsame Vergessenwollen? Erinnert euch im Juli an das Vergessen! Und nicht vergessen: Ihr habt gerade The Game verloren. Sagt es weiter. Und dann: Vergesst es wieder.

Fusseln (Auszug)

Wolfram Lotz

Fremde Erinnerungsfotos, gefunden auf einem Bahnsteig.

Berechnungen: die Flugbahn von Asche.

Das möglicherweise tote Tier auf der Straße.

Laub auf dem Boden des blauben Schwimmbeckens.

Die zufällige Ähnlichkeit der Wörter Liebe und Leben.

Eingeschlafene Hände.

Der verzweifelt fallende Schnee, Ende Mai.

Der zumindest nach oben offene Himmel.

Fahrpläne aus der Zeit vor dem Krieg.

Schwarzweißkopien von Abendlichtaufnahmen.

Das Wachsen der Bäume, mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen.

Nicht mehr benutzte Ameisenstraßen.

Etwas Licht, schwimmend auf der Pfütze in der Unterführung.

Zeit, die der Regen zum Fallen benötigt.

Die unter den Füßen schreienden Kieselsteine.

Ungeschriebene Tagebücher.

Häuser, die nicht mehr da sind.

Das Warten der Heringe im Kühlschrank.

Die verschlafenen Erdbeben.

Haut, junge und alte.

Vom Licht gelöschte Filzstiftzeichnungen.

Die Beharrlichkeit der Flüsse und Bäche.

Gravitation und Augenlider.

Telefonbuchseiten.

Überspielte Tonbänder.

Vergessene Ortsnamen.

Die Vitalität von Krebsgeschwüren.

Längst ungültige Lexikoneinträge.

Die Statistik für schwere Autounfälle.

Das Lachen der Alkoholiker.

Vom Regen angefüllte Ruderboote.

Die Botschaft des Telefonrauschens.

Vorvorgestern.

(…)

aus: Wolfram Lotz, Fusseln, parasitenpresse – Köln 2011

Vier Fragen an Wolfram Lotz

Worauf reagierst du mit deinem Gedicht?
Ich habe die Fusseln geschrieben, als ich etwa 25 war, es war formal eine Reaktion auf meine eigenen Gedichte, bis dahin. Die erschienen mir zu kompakt, aber die Welt erschien mir so viel weitläufiger, netzartiger, das stimmte einfach nicht so richtig für mich, daraus kam dann diese andere Form: Das Aufzählen schien mir zu passen, in dem Moment. Darin lag und liegt für mich eine Sanftheit, und zugleich wird nicht über eine gewisse Heillosigkeit hinweggegangen. 

Wolfram Lotz während der Entstehung von „Fusseln“, Foto: Jürgen Beck

Welche Reaktion erhoffst du dir von den Leser*innen deines Gedichts?
Beim Schreiben erhoffe ich mir gar keine Reaktion, da geht es nur darum, dass ich darüber, wie die Sätze zu stimmen scheinen, etwas über die Welt erfahre. Beim fertigen Text ist es aber auch nur eine unspezifische Hoffnung, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: Dass der Text hilft, Nähe zur Welt zu bekommen, und dass sie möglicher wird. So ausgesprochen ist das aber auch irgendwie schon falsch. 

Welchen Ratschlag möchtest du jungen Schreibenden geben?
Ja, natürlich den alten Satz: Fürchte dich nicht! Das ist beim Schreiben wirklich die wichtigste Sache, finde ich. Allerdings ist damit überhaupt nicht gemeint, dass man sich beim Schreiben nicht fürchten darf, es ist total okay und richtig sich beim Schreiben zu fürchten, ich fürchte mich bei jedem Wort (auch wenn es mir meistens gar nicht bewusst ist). Im Überspringen dieser Furcht aber geschieht es, finde ich. 

Welche Lyrikaufgabe würdest du unseren Teilnehmer*innen stellen?
Versuche, ein Gedicht zu schreiben, das nicht kurz oder „dicht“ ist, nicht kompakt, sondern ein relaxt laberiges, gern ausschweifendes Gedicht, ohne jeglichen Zwang zur Verdichtung! Verwende dazu hauptsächlich lange Zeilen. 

Lesung „Fusseln“ (Auszug)

Wolfram Lotz, *1981 in Hamburg. Aufgewachsen im Schwarzwald. Er schreibt Lyrik, Theaterstücke, Hörspiele und Prosa. 2011 wurde er in der jährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theaterheute“ für das Stück Einige Nachrichten an das All zum „Nachwuchsdramatiker des Jahres“ gewählt, 2015 zum „Dramatiker des Jahres“ für Die lächerliche Finsternis. Zuletzt erschienen sind die Bücher Die Politiker und Heilige Schrift 1

Wolfram Lotz, Foto: André Simonow