Wettbewerb im Juli 2025
Was hebt ihr auf? Vielleicht liegt in eurer Jackentasche ein Bonbonpapier, das nach Karamell riecht. Zwischen den Seiten des Notizbuchs steckt ein winziger Zettel, der eigentlich nur „Klopapier nicht vergessen!“ sagt – aber in einer Schrift, die ihr mögt, von jemandem, den ihr mögt. Sammelt ihr solche Dinge? Viele von uns tun das. Auch wenn sie keinen „Wert“ haben, kein Geld bringen. Und doch fühlen sie sich wichtig an. Warum? Vielleicht, weil sie etwas in uns festhalten – ein Gefühl, ein Moment, ein Lachen.
Eure Taschen, Schubladen, Notizbücher – das sind kleine Museen. Ihr seid die Kurator*innen. Ihr entscheidet, was reinpasst. Alte Steine vom Straßenrand? Eine zerknitterte Fahrkarte? Einen Songtext, der nie laut gesungen wurde? All das ergibt ein Bild – von euch. Manchmal passt etwas nicht rein: ein Foto, das zu traurig ist, ein Brief, den man nicht lesen will. Und doch gehört auch das dazu. Denn Sammeln heißt nicht nur „bewahren“, sondern auch: sortieren, auswählen, loslassen.
Jetzt wird’s spannend: Nicht nur ihr sammelt. Ihr werdet auch gesammelt. Immer, wenn ihr im Internet unterwegs seid, hinterlasst ihr Spuren. Was ihr klickt, worauf ihr länger schaut, welches Video ihr sofort weiterwischt: Große Firmen schauen zu. Sie sammeln eure Klicks, so wie ihr Fahrkarten sammelt. Und bauen daraus ein Bild von euch, das ihr gar nicht selbst gezeichnet habt. Der Künstler Florian Mehnert zeigt in einer Kunstaktion, wie das aussieht: Aus vielen kleinen Daten entsteht ein ganzer Mensch – oder das, was Firmen über diesen Menschen denken. Und das seid ihr. Ihr werdet selbst zum Sammlerstück.
Und wie man in Gedichten sammeln kann, möchten wir euch diesen Monat mit Wolfram Lotz‘ Lyrikband „Fusseln“ zeigen. Der Band besteht aus einer Liste von Halbsätzen, Wortfetzen und Bildern, die scheinbar unzusammenhängend aneinandergereiht sind. Wie Fusseln, die an Stoff hängen. Lotz bezeichnet sich dabei selbst als „philosophischen Fusselsammler“: Er sammelt Ausschnitte und Partikel des Alltags – kleine Situationen, Gedanken, Beobachtungen – ganz ohne Ordnung oder feste Aussage, eben wie zufällige Fussel.
Werdet im Juli zu Sammler*innen oder werdet gesammelt. Was wollt ihr sammeln? Und was darf von euch gesammelt werden? Erzählt von den Schätzen, die ihr aufhebt, den Erinnerungen, die ihr hortet, den „Fusseln“ eures Alltags. Lasst eure Sprache dabei selbst zum Sammeln werden: Reihungen, Listen, eine Reihe Dominosteine, die einander umwerfen. Wörter wie Glasmurmeln in der Hosentasche. Macht Aufzählungen eurer Fundstücke. Oder eurer Fund-Gefühle. Oder der Dinge, die ihr mal verloren habt – und vielleicht irgendwann wiederfinden wollt.
Fusseln (Auszug)
Fremde Erinnerungsfotos, gefunden auf einem Bahnsteig.
Berechnungen: die Flugbahn von Asche.
Das möglicherweise tote Tier auf der Straße.
Laub auf dem Boden des blauben Schwimmbeckens.
Die zufällige Ähnlichkeit der Wörter Liebe und Leben.
Eingeschlafene Hände.
Der verzweifelt fallende Schnee, Ende Mai.
Der zumindest nach oben offene Himmel.
Fahrpläne aus der Zeit vor dem Krieg.
Schwarzweißkopien von Abendlichtaufnahmen.
Das Wachsen der Bäume, mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen.
Nicht mehr benutzte Ameisenstraßen.
Etwas Licht, schwimmend auf der Pfütze in der Unterführung.
Zeit, die der Regen zum Fallen benötigt.
Die unter den Füßen schreienden Kieselsteine.
Ungeschriebene Tagebücher.
Häuser, die nicht mehr da sind.
Das Warten der Heringe im Kühlschrank.
Die verschlafenen Erdbeben.
Haut, junge und alte.
Vom Licht gelöschte Filzstiftzeichnungen.
Die Beharrlichkeit der Flüsse und Bäche.
Gravitation und Augenlider.
Telefonbuchseiten.
Überspielte Tonbänder.
Vergessene Ortsnamen.
Die Vitalität von Krebsgeschwüren.
Längst ungültige Lexikoneinträge.
Die Statistik für schwere Autounfälle.
Das Lachen der Alkoholiker.
Vom Regen angefüllte Ruderboote.
Die Botschaft des Telefonrauschens.
Vorvorgestern.
(…)
aus: Wolfram Lotz, Fusseln, parasitenpresse – Köln 2011
Vier Fragen an Wolfram Lotz
Worauf reagierst du mit deinem Gedicht?
Ich habe die Fusseln geschrieben, als ich etwa 25 war, es war formal eine Reaktion auf meine eigenen Gedichte, bis dahin. Die erschienen mir zu kompakt, aber die Welt erschien mir so viel weitläufiger, netzartiger, das stimmte einfach nicht so richtig für mich, daraus kam dann diese andere Form: Das Aufzählen schien mir zu passen, in dem Moment. Darin lag und liegt für mich eine Sanftheit, und zugleich wird nicht über eine gewisse Heillosigkeit hinweggegangen.

Welche Reaktion erhoffst du dir von den Leser*innen deines Gedichts?
Beim Schreiben erhoffe ich mir gar keine Reaktion, da geht es nur darum, dass ich darüber, wie die Sätze zu stimmen scheinen, etwas über die Welt erfahre. Beim fertigen Text ist es aber auch nur eine unspezifische Hoffnung, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: Dass der Text hilft, Nähe zur Welt zu bekommen, und dass sie möglicher wird. So ausgesprochen ist das aber auch irgendwie schon falsch.
Welchen Ratschlag möchtest du jungen Schreibenden geben?
Ja, natürlich den alten Satz: Fürchte dich nicht! Das ist beim Schreiben wirklich die wichtigste Sache, finde ich. Allerdings ist damit überhaupt nicht gemeint, dass man sich beim Schreiben nicht fürchten darf, es ist total okay und richtig sich beim Schreiben zu fürchten, ich fürchte mich bei jedem Wort (auch wenn es mir meistens gar nicht bewusst ist). Im Überspringen dieser Furcht aber geschieht es, finde ich.
Welche Lyrikaufgabe würdest du unseren Teilnehmer*innen stellen?
Versuche, ein Gedicht zu schreiben, das nicht kurz oder „dicht“ ist, nicht kompakt, sondern ein relaxt laberiges, gern ausschweifendes Gedicht, ohne jeglichen Zwang zur Verdichtung! Verwende dazu hauptsächlich lange Zeilen.
Lesung „Fusseln“ (Auszug)

Wolfram Lotz, *1981 in Hamburg. Aufgewachsen im Schwarzwald. Er schreibt Lyrik, Theaterstücke, Hörspiele und Prosa. 2011 wurde er in der jährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theaterheute“ für das Stück Einige Nachrichten an das All zum „Nachwuchsdramatiker des Jahres“ gewählt, 2015 zum „Dramatiker des Jahres“ für Die lächerliche Finsternis. Zuletzt erschienen sind die Bücher Die Politiker und Heilige Schrift 1.
Wolfram Lotz, Foto: André Simonow