Wettbewerb im April 2025
Nicht jeder Versuch, einander zu verstehen, gelingt. Habt ihr auch schon mal die Erfahrung gemacht, euch einfach nicht verstanden zu fühlen, egal, wie gut ihr versucht, etwas zu beschreiben? In welchen Situationen versagt die alltägliche Sprache als Ausdrucksmöglichkeit? Und wie können Gedichte vielleicht dabei helfen, diese Sprachlosigkeit zu überwinden?
Hannah Arendt, politische Theoretikerin und Publizistin, nannte es „dichterisches Denken“: In der Poesie wird Unsichtbares sichtbar. Indem Gedichte nicht an eine feste Form gebunden sind, Begriffe neu und frei verwenden und bilden können und immer wieder eigene Bildwelten schaffen, haben sie eine Kraft, die sie über scheinbar Unaussprechliches sprechen und Sprachlosigkeit überwinden lässt.

Mit der Frage, wie ganze Gesellschaften Zustände von Sprachlosigkeit verarbeiten können – nach Traumata ausgelöst durch Krieg, Vertreibung oder Verfolgung – hat sich vor einiger Zeit die Ausstellung „Sprachlosigkeit. Das laute Verstummen“ im Japanischen Palais Dresden beschäftigt. Und auch hier wurden Gedichte als verbindendes Element und zur Überwindung des Schweigens eingesetzt: Eine Gedichtspur kommentiert dabei die Ausstellung, die vom Kollektiv „kaboom“ konzipiert wurde und von der ihr euch rechts einen Eindruck verschaffen könnt. Für diese Gedichtspur wurden ausgewählte Gedichte künstlerischen Positionen sowie einzelnen Objekten aus dem Archiv des Ethnologischen Museums gegenübergestellt und nach Möglichkeiten der Überwindung eines Schweigens befragt, das bis heute unsere Gegenwart prägt.
Wie man mit dem Nicht-Verstehen und den Grenzen von Sprache im persönlichen Kontext lyrisch umgehen kann, zeigt uns Verena Stauffer diesen Monat mit ihrem Gedicht „GOAT Talks“. In dem Gedicht versucht das lyrische Ich mit einer toten Ziege zu kommunizieren und herauszufinden, was die Ziege ihr*ihm sagen will. Beim Versuch eine gemeinsame sprachliche Ebene zu finden, dichtet das lyrische Ich der Ziege eine „fremde“ Sprache an, die auch Elemente von Jugendsprache aufgreift.
Seht ihr auch eine Möglichkeit darin, andere Sprachen oder Sprechweisen hinzuziehen, wenn man vorher keine gemeinsame Verständnis-Ebene finden konnte?
Schickt uns im April eure Gedichte zum Thema „dein inneres Licht, yo“! Schreibt darin vom Nicht-Verstehen und Nicht-Verstandenwerden! Dabei könnt ihr konkrete Situationen beschreiben, in denen ihr oder jemand anderes sich nicht verstanden gefühlt hat oder sich nicht verständlich machen konnte, ihr könnt aber auch das Nicht-Verstehen selbst zum Thema eures Texts machen und darüber schreiben, wie es sich genau anfühlt oder wie man es vielleicht sogar überwinden kann. Vielleicht mögt ihr mit eurem Gedicht auch zeigen, dass es mithilfe von (einer bestimmten) Sprache doch möglich ist, eine scheinbare Sprachlosigkeit zu überwinden. Wir sind gespannt auf eure Einfälle!
GOAT Talks
Ein Wandern am schroffen Strand, zwei Füße Verstand
Bewegen sich weg von den andern. Wildheit, offen
Was liegt plötzlich da, im Zerklüfteten? Leib, Leichnam
Abseits der Zivilisation, nah am nassen Rand des Ozeans
Ein Affe im Sand. Lebt er, schläft er? Zitternd nah ran
Braunes Fell, trockene, zu Leder gewordene Haut
Hauch des Meereswinds, Salzatem. Hin zu ihm
Die Augen geschärft. Wer liegt da, die Beine gen Himmel?
Du, tote Ziege. Körper im Vergehen. Ewige Seele
Was immer auf der Erde passiert, ich bin da
Zieh mich aus, leg mich neben die Ziege, bin da
Ihr Blut gesickert ins Tiefe sich mit meinem verband
Was immer auf der Erde passiert, ich sehs klar
Ich bin da, GOAT, ich sehs klar, GOAT, ich sehs
Rote Striemen, weiße Flecken, blaue Fahrer
Picasso legts dar, ein Ziegenbauchei, ja
An der Höhlenwand, Hieroglyphen der Zeiten, Gebet
Sags mir, GOAT, Ziegengöttin, ich bin da
Nicht weit entfernt entscheiden Präsidenten
Zünden Raketen, zielen in Herzen
Mauern zerbersten mit den Geliebten
Ziege, bitte, Liebenswerte, sag klar, legs dar
Die Ziege wendet sich am Screen mir zu, oh
1 neue Nachricht von ihr, wie cool, Bro
Sie sagt: Glaub an dein inneres Licht, yo
Glaub an den Lauf der Geschicke, glaub an die Brücke
Ich liebkose dich virtuell, Ziege
Es kommen immer die falschen zu mir, GOAT
Ich hol mir immer die falschen ins Boot, GOAT
Dann schicke ich sie fort, GOAT
Weil ich dich will, GOAT
Sag mir, was soll ich tun, Ziege
Sag mir, wie kommt es, dass ich die besten aller Zeiten
Verliere. So dass ich am Ende
Auf deinem Leichnam liege
Mäck, Mäck, Mäck, hör ich dich von fern
Ich verstehe. Auf der Brücke geh ich auf mich selbst zu
Werde die am Horizont sich senkende Sonne, yo
Das Becken, in dem das Meer schwimmt, bro
Der Bogen am Himmel, die Salzwüste Persiens
aus: Verena Stauffer, Kiki Beach, Kookbooks, Berlin 2025
Über die Lyrikerin

Verena Stauffer
Geboren am 8. Februar 1978 in Kirchdorf an der Krems, aufgewachsen im oberösterreichischen Molln. Studium der Philosophie an der Universität Wien. Absolventin der Leondinger Akademie für Literatur und der Lyrikkritikakademie des Hauses für Poesie zu Berlin. Mitglied im Literaturverein Manuskripte. Lebt in Wien. Als Max-Kade-Stipendiatin hielt sie 2021 eine Gastprofessur für „creative writing“ am Liberal Arts College Allegheny, in den USA. Ihr Gedichtband Ousia, Kookbooks 2020, war 2020 für den österreichischen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen:
Kiki Beach, Kookbooks Berlin, 2025.
Publikationen:
2014 erschien ihr Lyrikdebut „Zitronen der Macht“, bei hochroth Wien
2018 ihr erster Roman „Orchis“, bei Kremayr & Scheriau, Wien
2020 „Ousia“, Gedichte, Kookbooks, Berlin
2021 „Geschlossene Gesellschaft“, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt
2025 „Kiki Beach“, Gedichte, Kookbooks, Berlin