Die 12 Jahresgewinner*innen 2019 stehen fest!
Wir gratulieren Nina Baum, Ruta Dreyer, Selin Eslek, Helena Finn, Lukas Friedland, Daniel Kalak, Anna Sophia Merwald, Cosima Paul, Tom Niklas Pohlmann, Kerstin Uebele, Anne Magdalena Wejwer und Selin Yazici! Zum elften Mal hat die lyrix-Jahresjury Jahresgewinner*innen ausgewählt, die im Rahmen des poesiefestival berlin ausgezeichnet werden.
Die Preisverleihung findet am 20. Juni 2019 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg in Berlin statt. Rund um die Preisverleihung werden die 12 Jahresgewinner*innen zu einer fünftägigen Reise nach Berlin eingeladen: für den Austausch untereinander und mit der jungen Lyrikszene. Vom professionellen Sprechtraining über eine ganztägige Schreibwerkstatt mit den Lyrikern Anja Kampmann und Norbert Hummelt in der Brotfabrik bis hin zu einer gemeinsamen Lesung mit der Lesereihe „Kabeljau&Dorsch“ dreht sich an diesen Tagen alles um junge Lyrik.
Preisverleihung:
Donnerstag,
20. Juni 2019,
14 Uhr
mit anschließendem Empfang
Moderation:
Josefine Berkholz
Musik:
Eddi + Elma
Wo:
Akademie der Künste,
Clubraum,
Hanseatenweg 10,
10557 Berlin
Gäste sind herzlich willkommen!
Ausgewählt wurden die Preisträger*innen von unserer lyrix-Jahresjury, die sich aus Malte Blümke für den Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise e.V., Thorsten Dönges vom Literarischen Colloquium Berlin, Matthias Gierth als Leiter der Hauptabteilung Kultur im Deutschlandfunk, dem Lyriker Norbert Hummelt, der Direktorin des Museums für Kommunikation Berlin, Anja Schaluschke, sowie der Autorin und Verlegerin Daniela Seel zusammensetzt. Wir danken an dieser Stelle allen Juror*innen für ihr Engagement!
ein bisschen wie unter Wasser
Am schönsten bin ich,
wenn ich beide Augen schließe
Dort, wo unser Zuhause ist
tragen wir das Licht in uns
und wir klammern uns mit beiden Händen
am Rand der Toilettenschüssel fest
und kotzen es aus
bis nichts zurück bleibt außer verschmierten
Farben, rot, schwarzblau, Ruß, im Abfluss
weil – was ist schon Licht gegen ewige Verachtung?
wie die Therapiestunden
Unser Licht und die geheimen Paradiesgärten hinter unseren Augenlidern
Ich lüge zu viel, lache aus Verzweiflung und
verschmiere mir die Lippen in den Farben der Nacht
so wie Graffiti
in leer stehenden Häusern oder
Bahnhofshallen
und schlafe zu wenig –
sich mit dir an der Hand in der Stadt
oder im Tag zu verlieren zwischen
leerstehenden Kinosesseln, abgerissenen Busfahrtickets,
der Nacht, unseren Träumen, die sich wie
Luftballons dem Himmel nähern, ist
wie geborgenes Da-sein, Hochhäuser Zeitungskiosks
Spielplätze nach Einbruch der Dämmerung
dein Heimweg von der Schule
oder Kinderheime Verkehr
der Himmel, der sich über Straßenkreuzungen zwischen Hausdächern und Verkehrsschildern aufspannt
oder lernen, auf Grashalmen zu pfeifen Kirschkern-Spucken
– ich schlafe zu wenig
Am schönsten bist du
wenn du mit angezogenen Knien auf deiner Matratze sitzt
und den Rauch von deiner Zigarette inhalierst
Dann färbt sich dein Brustkorb tiefenblau
wie verblichene Tinte
wie der Seetang zwischen deinen Rippen, die Silberfische
in deinem Inneren, wie die
Meerjungfrauen und schlafenden Delfine, die verzauberten Schiffwracks
so wie Atlantis – das Aquarium in deinen Lungenflügeln
ist mein geheimer Planet,
aber immer wenn du lächelst
und dich zur Seite drehst, um den Rauch auszupusten
ist alles wieder verschwunden
(ich bin das, was von dir übrig bleibt
wenn du nicht mehr da bist)
Am schönsten ist die Nacht
wenn sie uns zum Glitzern bringt
und zum Frieren
wie auf dem Weg zur Tankstelle
oder Silvester auf Asphalt
Wir sind
Wir sind beide noch zu jung, um dieses ewige Wach-Sein zu inhalieren
wie das Flackern des Bildschirms durch die Nacht oder oder
Einschlafgeheimnisse und Schuld
Sind wir beide schön
Aber deine Tattoos und die Narben unter deinen
Fingern haben mir ihr verbotenes Leugnen zugeflüstert
Sie wissen alles über dich
Jetzt bin ich zu alt, um ohne Angst einzuatmen
und wieder ausatmen
einatmen
ausatmen
…
Zigaretten sind mein Oxygen
und du bist mein Zuhause
am schönsten bin ich mit geschlossenen Augen
am schönsten bin ich mit geschlossenen Augen.
Monatsthema: Ich bin kein ElitePartner
erblinden
in Moskau ist es kalt
sie haben den Kragen hochgeklappt
und sich ein Visier aus eisernen Tränen gebaut
unter ihre Fittiche die Matritzen der einsamen Erkenntnis
eingekerkert fahren sie mit den Fingern über die Spalten
dazwischen verstummen sie
wie ein Maulwurf den es aus seiner
Festung treibt der Entblößung der
Dekadenz entgegen während die kleinen
roten Tropfen sich in den Falten
einnisten so dass die Fingernägel nicht mehr fassen
können
ein Treiben zum Fallen hin
auf den hauchdünnen Scherbenschatten liegt dein
leerer Körper Majakowski
es ist kalt in Moskau
sie haben den Kragen hochgeklappt
und durch das Visier der eisernen Tränen erblicken sie
deinen weißen Körper der sich blass vor ihnen erstreckt
die roten Tropfen die dazwischen fahren dehnen sich
nach deinen Armen aus
wie ein Fächer
ein Treiben zum Fallen hin
und der Maulwurf sah nur das Sonnenlicht um daran zu erblinden
Monatsthema: Sprung mit Raketenrucksack
weißt du, dass ich Geige spielen kann?
es dreht sich ein Haar mutig über deine Oberlippe. jeden moment bereit, deiner Spucke auszuweichen. seine artgenossen (ich weiß, du lehnst diesen begriff ab. also gut, für dich: seine Barthaargenossen gebaut auf Gleichheit in Haut und Blick und Herz) halten beim anblick des schwierigen manövers den Atem an. dir krümeln die sätze aus dem Mund, den Zehen, geleitet von deinem Kopf, Finger in gesten, Poren in duft, der Wind weht und vermischt sich, mitgerissen von deinen Worten, mit deinem Fleisch, verwischt den Menschenkontrast. das ist die Erfüllung deines Sinnes. du lässt dich vom Wind ganz hoch tragen. höher als alle anderen während du immer weiter deinen alten Buchstaben nachhängst und dich dunkle augen von unten anstarren. du bist aufgegangen. nun wollen sie auch fliegen lernen.
auch ich ma(rx) wie du sein, auf den Wolken sitzen wie ein engel(s) entschuldige, ich habe Engel gesagt aber ich wollte nur lustig sein. Schuldig. Schuldig.
wir blicken also hinauf zu dir und deine Worte sind verwegen und neu und drastisch und wunderbar. du schaust uns zu. wie alle anderen Augenpaare ziehe ich zuerst meine jacke aus. dann das hemd, hose, unterhose, socken, schuhe. wir frieren zwar ein bisschen, aber das ist okay weil du sagst, wenn die Unterschiede der Kleidung erst einmal weg sind, dann wird es uns besser gehen. dann holen wir uns spitze Zweige und fangen an, uns die Haut abzuziehen. das ist zwar etwas unangenehm, aber du sagst, wenn erst einmal die Unterschiede der Haut weg sind, wird es uns besser gehen. aus den Jacken nähen wir also eine ganz große riesenjacke für uns alle zusammen. und auch ein riesenhemd und eine riesenhose und – unterhose und riesensocken und -schuhe. aus all der haut nähen wir ein einziges neues organ in dem wir alle platz haben. du schaust zu und wir sind stolz, dass wir dich stolz machen. in der neuen haut der genossen ist es warm und kuschelig. das war eine gute Idee. also machen wir weiter, als du sagst, dass es uns noch besser gehen wird, wenn wir alle gleich stark sind. so nehmen wir die zweige von vorhin und trennen unsere Muskelfasern vom Fleisch und platzieren sie zu großen muskelhaufen an verschiedenen orten in unserer haut. damit haut und muskeln nicht austrocknen, entnehmen wir unsere adern und verlegen sie zu wunderschönen neuen blutbahnen. damit alle alle unserer zellen auch genug luft bekommen, stecken wir unsere lungenflügel zusammen bis sich eine einzige lunge geformt hat. langsam kann sich unser konstrukt nicht mehr alleine halten und so sagst du, dass wir schon ein paar knochen opfern müssten damit es hielte und es uns so besser gehen könnte. das brechen der knochen klingt hässlich. es fließt auch viel blut, aber das ist okay.
nach und nach entnehmen wir uns sämtliche organe und fleisch, um die lücken zu füllen. finger- und zehennägel. zähne und augen. bis nur noch unsere frierenden gehirne übrig sind. du bist glücklich und lächelst von oben auf uns nieder. es ist ziemlich kalt hier unten. also drängen wir uns ganz eng zusammen. wir, die köpfe, in den letzen freien platz in der neuen haut. wir vereinigen uns. zu einem Menschen.
es schwankt ein bisschen. als es aufsteht und in den Himmel blickt. doch dort findet es nichts, als den Wind, welcher es leise auslacht. um es herum liegen blutige Zweige. erst jetzt merkt es, dass es schmerzt. es setzt sich hin. es kotzt seine widerlich großen organe aus und deckt sich mit ihnen zu. es schläft ein.
ein kleiner Marienkäfer mit raketenrucksack. benutzt seinen leeren Bauch als Startplatz für seine Weltraumexpedition.
Monatsthema: sprung mit raktenrucksack
Konfetti
Mein Vater hat ein Locher
manchmal am Wochenende O darf ich ihn nehmen
wenn O ich ganz vorsichtig O bin
in das O weiße Papier kleine runde Löcher stanzen.
das Konfetti sammel O ich in einer O Tüte
heimlich O weil Mama mag O das nicht
wenn Papierschnipsel O auf dem Boden liegen.
Mein Vater stößt den Ball ins
L o ch
mit ganz viel Schwung
auf der großen grünen Wiese mit seinen Freunden
und er freut sich und schwingt mich durch die Luft
und ich darf seine Golfkappe tragen
auf dem ganzen Weg nach Hause.
Mein Vater hat ein Schlüsselloch
durch das man nicht gucken kann
weil ein Schlüsselvon innen steckt
und aufmachendarf ich es auch nicht
das will Mama nicht
nur einmal
da bin ich nachts aufgestanden
weil ich aufs Klos musste
und da war die Tür offen
und es waren ganz viele Bücher überall.
Ich hab ein Loch im Ba . uch
aber Mama sagt wir müssen noch warten
bis mein Vater von der Arbeit kommt
obwohl ich Hunger habe
und der große Zeiger auf der Küchenuhr
sich nur ganz langsam bewegt.
Meine Mama klebt ein Pflaster auf das Loch in meinem Knie
es brennt ganz fürchterlich
Blut läuft mein Bein hinunter.
ich bin mit dem Fahrrad hingefallen
das wollte mein Vater mir beibringen
aber er muss arbeiten
sagt Mama
und dann habe ich es selbst versucht
jetzt flickt Mama das Loch in meiner Jeans
und ich darf so viel Kekse essen wie ich will.
Ich verkrieche mich in das Loch
in den Decken und Kissen
und stelle mir vor Alice zu sein
wie im Wunderland
um die Stimmen nicht zu hören
und die Schreie und das Streiten.
das Konfetti in der Tüte in meinem Geheimversteck
sieht gar nicht mehr so schön aus.
Mama buddelt ein Loch im Garten
und Tränen fließen über ihre Wange.
sie wirft Zettel und Briefumschläge hinein
die Flammen brennen Löcher in das Papier
immer größer
bis nur schwarze Asche übrig bleibt.
und dann sitzt sie im Wohnzimmer
und starrt Löcher in die Wand.
Ich darf mir ein Ohrl ch stechen lassen,
funkelnde Perlen
die das Loch verdecken
das sich langsam entzündet
und anfängt zu eitern.
Wie haben ein Loch Zuhause
ein schwarzes Loch
das alle W o r t e verschluckt
nur die Gedanken nicht
die schweben über uns
unausgesprochen.
das Konfetti werfe ich weg
Papierschnipsel sind was für Kinder.
Mein Vater hat ein Loch
gerissen in meine Familie
ich versuche mich zu erinnern
wie es früher war bevor
ich ein Loch in
meinem Herzen
hatte
.
Monatsthema: Mein Vater hat ein Loch
ein abc des andersseins oder was ihr nicht sagen solltet
aspergers alternative abendbeschäftigung: antidepressiva aufsaugen
beunglückung bestärkt betriebsamkeit
clownesker chloroformgetränkter cayennepfeffer
damals dachte dackel dyskalkuliert
ebenenmangel erschwert existenz
faktisch fakebeziehungen
SIE SIND AUTIST? DAS KANN NICHT SEIN.
gott gurrt grotesken gay-hate
heule halt holunderbüsche
ICH DACHTE, AUTIST*INNEN SEIEN GEISTIG BEHINDERT?
irgendwas ist immer
jetzt jauchzen jagende jahrzehnte
kommunikationsproblematiken kennen keine komapause
UND WAS IST IHRE INSELBEGABUNG?
labile leere lachender löcher
manchmal motiviert momentane magie
WARUM REISSEN SIE SICH NICHT EINFACH ZUSAMMEN? AM THEATER HABEN DOCH ALLE PROBLEME. MIR WIRD AUCH MANCHMAL ALLES ZU VIEL.
nonsens nutzen
ocpd offenkundig onomatopoetisch
perversion pornografischer parshipprofile
DANN SIND SIE DOCH EIN INFORMATIK-GENIE? SIE KÖNNTEN MIR NOCHMAL ZEIGEN, WIE ICH EINEN TERMIN BEI OUTLOOK EINTRAGE.
quecksilber quillt quicklebendig
ACH, SIE HABEN NUR ASPERGER? SIE SIND ALSO GAR KEIN RICHTIGER AUTIST.
ruhe rauscht rosig
DANN HABEN SIE ALSO KEINEN HUMOR?
suizidalität schlüpft samt spontaner soziophober stunden
SIE KÖNNEN KEIN AUTIST SEIN, SIE HABEN JA GEFÜHLE!
tja torte
AUTISMUS IST DOCH EH NUR SO EINE MODEDIAGNOSE.
unglück unkt untergehende u-boote
WIE VIELE ZAHNSTOCHER LIEGEN HIER AUF DEM TISCH?
vielleicht vergeht vergangenheit
AUS GESUNDHEITLICHEN GRÜNDEN MÜSSEN WIR SIE LEIDER ENTLASSEN.
wann war winter wunderbar
SO WAS GAB ES EINFACH NOCH NIE AM THEATER.
xerografierte xerodermie xenophober xerokratie
SIE BRÄUCHTEN SONDERBETREUUNG, DAS KÖNNEN WIR UNS NICHT LEISTEN.
youngster-ytterbiums yay-yamashita
HABEN SIE EINFACH IRGENDWO KREUZE GESETZT ODER WIE KAMEN SIE AUF DIE IDEE, AUSGERECHNET ANS THEATER ZU WOLLEN?
zerfall zersetzt zeitzonen – zermürbte zahnsplitter ziehen zum zuggleis
Monatsthema: die verdrehen was ich bin
gnielka gnielka
im klammergriff die finger um die maschen
des zauns die nägel tief im fleisch der hände
(das stigma thomas fass) der rücken hohl
sich reckend richtung himmel (gott mein gott)
noch halb im kriechen an den armen hängend
der kopf im nacken blutig leises röcheln
die unbewegten lüfte kaum durchdringend
durchdrungen nur der körper ganz durchlöchert
von blei und schwer wie blei das blut der schweiß
kein bravo von den göttern kein applaus
ein schwarzer vorhang (lema sabachthani)
die zähe luft durchstechend dann der schrei
durchfahrend mark und bein ein riss im vorhang
metallisch schrilles kreischen stöhnen ächzen
ein gurgeln und ein würgen blei und blut
das räderknarzen der maschinerie
zermalmend nicht nur körper sondern menschen
das tote kind die ungebornen enkel
und alle ängste enger noch vermengend
ein obertongesang für gottes ohren
nach südamerika in sein exil
in sein geheimversteck in seinen urlaub
die arie verschallend keine ohren
kein publikum allein der regisseur
verstummt nach vorn gebeugt ambrosisch kotzend
entehrend seine uniform das werkzeug
noch immer in der hand und eine zweite
auf seiner schulter toll gemacht die dritte
und vierte schweigend schreibend im bericht
nur auf der flucht erschossen zu den akten
Monatsthema: Obertonsingen für göttliche Ohren
hei hei! mat
was will ich sehen
berge so klein wie streichhölzer
auf meinem schoß wachsen
knorrige wurzeln so starr wie
der busfahrer an der rotkreuzstraße
sich um meine beine schlingen
…
hei hei! der fernseher leuchtet bunt
ist das eine hetzjagd in meiner heimat?
ich höre was ihr brüllt aber
das ist nicht meine sprache
where are you from?
…
no, i am not from germany
tyskland klingt viel schöner
the same ist nicht das gleiche
…
hvorfor er du her? warum?
unnskyld! i don’t know
jeg vet ikke versteh nicht
des is der größte schmarrn
den ihr da verzählts! da war
kein mob, keine jagd
…
hierzulande begrüßt man sich
med hånd und schaut sich in die
aug um aug
…
ha det!
ja, ade!
…
i try to act like i am not german
holocaust? i don’t know…
aber damit bin ich so nah
meiner heimat so nah
hab ein mutterländer
keine vatersprache
nur orte ohne namen
…
war vielleicht alles einfacher
als die filme noch stumm waren
alle die gleichen schauten
hab beobachtet wie meine familie
zerbrach die geographischen grenzen
lieg ich jetzt zerstückelt da
als erschreckende schlagzeile in großbuchstaben?
wird jetzt gezogen an allen meinen
enden in verschiedene richtungen?
wird mich schon jemand heimbringen…
ah, hitler, nazi…right…?
…
durch vier schichten jacken
pullover wolle kannst du mich
begreifen bin ich quasi taub
auf dem herzen hat sich ein abszess
drangemacht mich aufzufressen
…
hab ich ein anderes gesicht
wenn mich keiner versteht
oder macht ihr krumme münder
weil die wörter sich nicht wohlfühlen
…
wie suchst du dir den ort aus
wo du das gras am liebsten
wachsen hörst
Monatsthema: legen neue Kapitel an
HALT! GRENZE! ein lustiges flüchtlingsgedicht in elf strophen.
I.
pass auf! die worte fließen aus dem mund
die grenze ist nicht nur im kopf.
el pasaporte, por favor
i better hide my secret thoughts!
II.
dort hinten steht ein grauer mann
was der nicht alles sehen kann.
la chance sourit aux audacieux
don’t move too fast, don’t move too slow!
III.
noch hundert meter bis zum zaun
die hundezungen hecheln braun.
dal frutto si conosce l’albero
phew! that was close you filthy scum!
IV.
schutzstreifen – sperrzone – lebensgefahr
buchstabenkrieg ohne notar.
het leven is geen zoete krentenbol
i should have known, should not have gone!
V.
jetzt hat er ihn geseh‘n, der hund
und eilig speichelt er den kropf.
bo ostatnich gryzą psy
but i am faster, you will see!
VI.
die kalte kugel trifft mit wucht
sie kann und darf nicht stoppen seine flucht.
RATATATA! RATATATA!
nice try – you missed me, imbecile!
VII.
bemærk! jetzt hat er’s gleich geschafft
mit allerletzter willenskraft
o bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao
my quest for liberty and love: i’ll never give it up!
VIII.
doch plötzlich wird die nacht so rot
wie’s röslein auf der heide.
die blanken stiefel frisch gewichst
ÁLLAMHATÁR! bis hierher und nicht weiter!
IX.
der schweiß tropft rasend von der stirn
urin läuft in die schuhe
la vie en rose it’s over now
kein lächeln, keine freiheit!
X.
POZOR! spricht da der graue mann:
no matter what you’re thinking
the bastard got what he deserves
glaubt ihr, der kann uns linken?
XI.
c’est drôle! how funny, dieses fremdgesicht
refugees welcome? sicher nicht!
wir lassen ihn hier liegen
solln fressen ihn die fliegen.
Monatsthema: when I speak
Kreuzfeuer (kaffeevollautomatik)
zwei hülsen
voll von schwarzpulver
begraben unter bleichen händen
deren eingestürzte kuppen
dem giebel einer ruine glichen
noch warm knisternd
zwirbeln die revolver auf und ab
färben die rillen
der rauen finger am lauf
mit staub und malz
eiserne bohnen
von hellster röstung
gepresst durch den filter
in schallgeschwindigkeit
treffen sie auf augen wie unter koffein
Rauschend in tropfenform
zerbersten die austrittswunde
denn diese bohnen sind nicht dazu erdacht
einen neuen keimling zu säen; nein
sie werden allein mit ihrem zermahlenen werk unter die erde gebracht
// ein begräbnis von bitterem abgang.
Monatsthema: Der Morgen war von heller Röstung
rituale
ich muss bei zelten an holunderbüsche denken
vater und ich schlugen die zweizimmerwohnung für drei
in die wurzeln hinein
stellten klappsitze ins morgengrau
brühten kaffee auf blauer flamme
pusten trinken pusten trinken trinken heiß
er ruft: französischer dichter todesjahr ’40
ich bin in schal jacke schuhen schon halbgegangen im flur
sage einen namen mit akzenten und gewissheit
sehe zu wie er
zeile um zeile um spalte um spalte füllt und
bei manchen fragen zögert (kennst du 7 waagrecht?)
die sonst jemand anders weiß
vater ist zweiundfünfzig jahresringe
alt und gemasert wie ein esstisch
wenn das bein wieder wegbricht stelle ich zur stütze
eins von meinen drunter
damit sonntagmorgen an ort und stelle bleibt
alles ist gerecht geteilt
die fotos von früher in der mitte
geschnitten dass jeder eine hälfte kriegt
sie hängen jetzt hoch- statt querformat
als ob es immer so war
wenn ich vater besuche sitzen wir
auf neuen sesseln vor alten wänden
er reibt sich manchmal noch über die stelle
an der einst ein ring in die haut schnitt
ob da eine kerbe sei
ein letzter kuss ein letzter brief? ein
abschied vielleicht
Monatsthema: Mein Vater hat ein Loch
das zwischen den seiten
schiller ist doch scheiße
hast du gesagt damals
und zugegeben
es war absurd
sich mit kilometerlangen balladen
über die pubertät
hinweg zu trösten
aber da war sonst nichts
was half
und dann kamst du
schütteltest den kopf über mich
wie man den kopf schüttelt
über kleine kinder
aber ich war kein kleines kind
ich war vierzehn
eine woche später
trafen wir uns wieder
zufällig auf dem gang
aber es war kein zufall
denn du hattest ein buch
in deiner hand
ein ganz anderes und fremdes
eins von denen an denen man
in der buchhandlung vorbeigeht
ohne hinzuschauen
aber es war ein buch
ein buch für mich
und es war als wäre dieses buch
die tür in eine neue welt
und zwischen den leerzeilen
tummelten sich worte
die nur auf mich warteten
worte die blieben auch dann noch
als um mich alles verschwand
und zwischen den seiten
wohnte das gefühl nicht ganz so sehr
allein zu sein
jetzt bin ich erwachsen
und liebe schiller
noch immer
aber manchmal
wenn ich nachts nicht schlafen kann
streiche ich mit den fingern
über die vergilbten worte
und frage mich
was du wohl machst
Monatsthema: Im Buch den Daumen die Dame hat
Schatten die uns begleiten
Um 4 Uhr 20 steigen 4 einsame Seelen
in einen Kasten aus Metall,
um sich von A nach B zu stehlen.
Ihre Ohren blockiert,
mit ihren Knöpfen aus Plastik
und durch Alkohol oder prekäre Gedanken
ist die Luft um sie schwer und kopflastig.
Keiner spricht miteinander,
obwohl es viel zu sprechen gibt
und keiner beachtet den anderen,
obwohl doch jeder jeden sieht.
Deshalb liegt zwischen jedem
die größtmögliche Distanz,
für diese Bilanz sorgt
die Diskrepanz aus Interesse und Angst.
Außer einer Tasche,
die jeder von ihnen mit sich trägt,
trägt jeder noch ein Leben mit sich
mit Geschichten, die er gelebt,
und anderen Leben, die er geprägt,
und Verzweigungen, die er verfehlt,
und Entscheidungen, die er gewählt,
und Ideen, die er gesät,
und Gedanken, die er gezähmt,
und Wunden, die er genäht,
und Herzen, die er bewegt hat.
Denn immer ein wenig dicker
als die andere ist jede Biographie,
aber wie will man sich weiterentwickeln,
wenn man immer nur die eigne liest?
Und somit sitzen alle 4,
stillschweigend aus dem Fenster schauend,
um sich eine raue Mauer bauend,
die ihre Einsamkeit untermauert.
Es ist 4 Uhr 25,
als die Bahn ratternd zirkuliert,
eine Frau ihre Nägel manikürt,
der Student Rechnungen kalkuliert,
während der ganz rechts im Kopf Parolen rezitiert,
während er den mit der schwarzen Haut anschaut,
welcher seinen Kaffee mit Milch heller meliert.
Zwei von ihnen fahren zur Arbeit hin,
einer von ihnen nach Haus,
einer fährt zum Flughaufen
für eine Pause von dem Rausch.
Auf dem Weg rauschen verschwommen an ihnen
Bilder von ihrer Stadt,
tote Blätter fallen von Bäumen ab,
zwei von ihnen wünschten sich, sie wären wie ein Blatt.
Einer von ihnen ist unglücklich verliebt,
einer ist glücklich vergeben,
trotzdem ist er insgesamt unzufrieden,
und nur einer lebt ein glückliches Leben.
Zwei von ihnen könnten gute Freunde sein,
doch sie werden es nie erfahren,
und sie fahren buchstäblich an ihrer Freundschaft vorbei,
aber darüber sind sie sich nicht im Klaren.
Es ist 4 Uhr 29 und ich steige in die Bahn,
ich gehe an jedem von ihnen vorbei
und ich lächle jeden von ihnen an.
Ich sehe eine alleinerziehende Frau,
die mit ihrer Feile am Kummer feilt,
deren Anteil an Arbeit ungeteilt,
sie doppelt so schnell wie andere ereilt.
Ich sehe einen Jungen, der unermüdlich
sein Studium selber finanziert,
der gerne mehr Zeit für seine Freunde hätte,
für den sich zu vieles aufaddiert.
Ich sehe einen Mann, der voller Verzweiflung
in falschen Kreisen rumkutschiert,
der sich durch Hass animiert, in falsche Ecken verirrt
und letzten Endes sein Gefühl für sich selbst verliert.
Es ist 4 Uhr 31
und ich sehe einen Mann,
der seinen Kaffee eifrig trinkt,
damit er diesen Tag durchstehen kann.
Und im Spiegelbild des Fensters
sehe ich mich selber an,
und ich sehe einen Schatten,
der sich um meine Schultern spannt.
Ich leg ihn ab, als ich mich setze
und für einen ganz kurzen Moment
höre ich das Rattern und Feilen und Schlürfen und Urteilen,
und spüre wie Licht sich auf meine Haut einbrennt.
Monatsthema: Licht und Schatten
Nina Baum, geboren 2000, macht momentan ihr Abi in der 11. Klassenstufe von einem Gymnasium oder probiert es zumindest. Sie erzählt Geschichten, um nicht zu lügen und um sich nicht die Lippen zu zerbeißen und um die Glasfasersplitter unter ihrer Zunge nicht zu fühlen – sie braucht mehr warmes Licht.
Ruta Dreyer, Schülerin aus Hannover, Jahrgang 2002 – Man findet Ruta auf Konzerten, Demos, zwischen Graffitis, in Museen und bei der Jugendantifa. Ihre Welt spielt sich irgendwo zwischen Schreibtisch, Straße und Saturn ab. Hauptsache, es ist bunt, und Hauptsache, da bewegt sich was. Sie wurde für den THEO 2016 und 2018 nominiert und ist Preisträgerin des Treffens junger Autor*innen 2018 sowie Teilnehmerin des Literatur Labor Wolfenbüttels 2019. Ihre Texte handeln von Postkarten, Handrücken und Fertigteigtüten. Unter anderem.
Selin Eslek, Jahrgang 2003, Schülerin, wird ab und an bei Spaziergängen mit ihrem Hund von Wortströmungen erfasst, die sie nicht loslassen, bis ihnen ein Platz auf Papier zugewiesen wird. Ansonsten betrachtet sie den Himmel, liest oder lackiert sich die Nägel.
Helena Finn, Jahrgang 1998, Kiel – Wenn ihr das Psychologiestudium und die Arbeit an der Uni Zeit lassen, bestückt sie ihr neues Zimmer mit Möbeln von Ebay-Kleinanzeigen, um das kunterbunte Chaos unter Kontrolle zu bekommen, spielt mit Freunden Gesellschaftsspiele oder Gitarre, backt fantastischen Apfel-Streuselkuchen, klettert oder macht es sich beim Telefonieren auf der Fensterbank gemütlich.
Lukas Friedland, Student*, Jahrgang 1999 – Postavantgarde, postgender, postpostmodern, Versuchskünstler*. Schreibt vor allem (unmögliche) Theatertexte, aber auch weirde Prosa und Lyrik. Mixed Media. Ihn* interessieren Zer- und Verfallsprozesse, opulente Bildlichkeiten sowie neuroqueerer Stuff. Manchmal ist er* totally lost in Cyberspace oder verheddert sich in den Löchern der Realität.
Daniel Kalak, Student in Heidelberg, Jahrgang 1999 – Machte das Graecum an einem naturwissenschaftlichen Gymnasium, begann ein halbherziges Jurastudium und hofft, stattdessen besser als Philologe (oder so) aufgehoben zu sein. Versteht Dichtung als Bilderbuch und/oder Versteckspiel. Mag „altes Zeug“, Conlangs und Formalitäten, vor allem metrische.
Anna Sophia Merwald, geboren 1998 am Rande Bayerns, Tschechien war nah. Steckt im Endstadium eines Journalistik-Studiums. Freunde und Sonstige bezeichnen sie als ideenbelastete Köpfin mit nihilistischer Neigung. Schreibt nicht gern über sich selbst in der dritten Person. Schiebt lieber andere vor.
Cosima Paul, Abiturientin in Lindau, Jahrgang 2001 – Lässt gerne Buchstaben tanzen und freut sich, wenn aus Wörtern Worte werden. In ihrer Lyrik hält sie der Gesellschaft manchmal einen Spiegel vor, um sich dann voll Entsetzen selbst darin zu sehen. Gelegentlich experimentiert sie auch mit Prosa. Andere Sprachen und Kulturen faszinieren sie, auch wenn sie an diesen nichts Fremdes erkennen will.
Tom Niklas Pohlmann, Student der Industrie 4.0, Stuttgart, Jahrgang 1999 – legt Gedanken gerne auf die Waagschale und balanciert zwischen Fremdwort und Wortspiel. Beschäftigt sich mit der Frage, ab wann Intelligenz künstlich wird. Schreibt digital, liest aber auf Papier. Begibt sich unlängst auf die Pfade von fremden Sprachen bis zu den außergewöhnlichsten Métrostationen.
Kerstin Uebele, studiert bis Juni 2019 Public Relations, Hannover, Jahrgang 1997. Schreibt hauptsächlich: Lyrik. Lieblingswort immer noch: plakativ, Lieblingsfarbe mittlerweile: gelb. Größter Erfolg bisher: zweiter Platz im Kinder-Skirennen 2006.
Magdalena Wejwer studiert Mathematik, Deutsch und Musik, Trossingen, Jahrgang 1997 – Macht Poesie aus allem, was ihr über den Weg läuft, egal ob aus Buchstaben, Tönen oder Zahlen. Als sie mit lyrix angefangen hat, war sie der Meinung, sie würde niemals hauptberuflich Autorin werden. Jetzt ist sie sich da nicht mehr so sicher… Derzeit sucht sie nach einem Verlag für ihre Lyrikmanuskripte. Ihr erstes Jugendbuch erscheint im Herbst.
Selin Yazici, heißer Schlitten aus dem Baujahr 2000, Hamburg. Fühlt den Dingen gerne auf den Zahn und trifft jedes Mal den Nerv der Zeit, mehr aber auch nicht. Schreibt gerne in dritter Person, allerdings nicht über mich selbst.