Wie funktioniert eigentlich die Jury-Arbeit bei lyrix?

„Wie versteht ihr jedes Gedicht – oder müsst ihr das überhaupt?“ „Nach welchen Kriterien werden die Gedichte bewertet?“ Eure Fragen an die lyrix-Jury! Auf Instagram haben wir euch gebeten, uns zu fragen, was ihr schon immer über die Jury-Arbeit bei lyrix wissen wolltet. Rede und Antwort stehen euch nun unsere Jury-Mitglieder Rojin Namer und Norbert Hummelt. Und auch von uns gibt es einige Antworten. Los gehts!

Fragen an das lyrix-Team

Wie viele Jurys habt ihr?
Bei uns gibt es insgesamt vier Jurys: Die Monatsjury für die Einreichungen unserer 10- bis 14-jährigen Teilnehmer*innen wählt in jedem Monat sechs Monatsgewinner*innen aus allen Einsendungen in dieser Altersgruppe aus. Und unsere Monatsjury für die 15- bis 20-jährigen Teilnehmer*innen präsentiert monatlich ebenso ihre sechs favorisierten Gedichte.
Für beide Altersgruppen gibt es dann jeweils eine Jahresjury, die aus den 72 Monatsgewinner*innen der 10- bis 14-Jährigen und aus den 72 Monatsgewinner*innen der 15- bis 20-Jährigen die insgesamt 24 Jahrespreisträger*innen (12 pro Altersgruppe) kürt.

Wie stellt ihr eigentlich die Jurys zusammen?
Wir versuchen, bei unseren Jurys eine gute Ausgewogenheit herzustellen, was diverse Hintergründe und vor allem unterschiedlichen Blickwinkel auf Lyrik betrifft. In unseren Jurys sind Literaturwissenschaftler*innen ebenso wie professionelle Lyriker*innen, lyix-Alumni, Lyrikveranstalter*innen oder -vermittler*innen. Im Turnus von drei Jahren werden alle unsere Jurys neu zusammengesetzt.

Wie läuft der Auswahlprozess in den Jurys ab?
Alle Juror*innen übermitteln online hinsichtlich der Kategorien „Originalität“, „Formale Ausgestaltung“ und „Auseinandersetzung mit dem Thema“ ihre Bewertungen für die Gedichte. Dass alle Bewertungen der Juror*innen direkt einfließen, hat den Vorteil, dass sich die Jurys nicht auf einzelne Gedichte „einigen“ müssen, die dann den kleinstmöglichen Nenner bieten, aber vielleicht niemanden so richtig überzeugen. Der Nachteil bei einem solchen Auswahlprozess ist es allerdings, dass die Juror*innen sich nicht in einem gemeinsamen Gespräch über die Stärken und Schwächen der eingesandten Gedichte austauschen können. Hierzu haben sie aber mittels Kommentarfunktionen die Möglichkeit. Auf diese Weise werden pro Monat und pro Altersgruppe die sechs Gedichte mit der jeweils höchsten Gesamtwertung ermittelt und ausgezeichnet. Aus diesen wählen dann wiederum am Ende eines jeden lyrix-Jahres unsere Jahresjurys – ebenso über einen Auswahlprozess, der online stattfindet – unsere Jahresgewinner*innen.

Fragen an Rojin Namer, Jurorin in der lyrix-Jahresjury für die Altersgruppe 10–14

Wie bist du dazu gekommen, in der lyrix-Jury zu sein?
Ich habe selbst an einigen Wettbewerben teilgenommen und schließlich den Jahresgewinn erzielt. Zwei Jahre später wurde ich gefragt, ob ich an der Juryarbeit interessiert wäre. Diese Einladung war eine Ehre für mich, da ich die Möglichkeit bekam, auf der anderen Seite zu stehen und die Werke anderer genau zu lesen.

Wie versteht ihr jedes Gedicht – oder müsst ihr das überhaupt?
Es geht weniger darum, jedes Wort oder jede Metapher zu verstehen, sondern vielmehr darum, die Gefühle und Stimmungen zu erfassen, die das Gedicht vermittelt. Oft sind es die Emotionen und Bilder eines Gedichts, die direkt zu uns sprechen.

Wann lest ihr die ganzen Texte? Über Tage / Wochen verteilt, am Stück fünf Stunden lang …?
Die Lesephase erstreckt sich bei mir normalerweise über zwei Tage, wobei ich jeweils 1-4 Stunden pro Tag lese. Wenn ich merke, dass ein Gedicht nicht die nötige Aufmerksamkeit bekommt, mache ich eine gezwungene Pause.

Welche Gedichte sind für dich besonders beeindruckend oder spannend zu lesen?
Es ist weniger die Frage, welche Gedichte beeindruckend sind, sondern vielmehr die Tatsache, dass so viele junge Menschen sich bereits mit ernsten Themen wie Rassismus, Sexismus und Klimaschutz auseinandersetzen. Das ist faszinierend und beängstigend zugleich.

Wer sind deine liebsten Lyriker*innen?
Ich bin mit den Gedichten von Mahmoud Darwish aufgewachsen. Obwohl mein eigenes Schreiben nicht durch ihn inspiriert wurde, kehre ich immer wieder zu seinen Versen zurück.

Fragen an Norbert Hummelt, Juror in der lyrix-Jahresjury für die Altersgruppe 15–20

Wie bist du dazu gekommen, in der lyrix-Jury zu sein?

Ich denke, es kam, weil ich die Workshops gemacht habe, von Anfang an. Die Preisträger:innenwerkstatt ist immer im Juni im LCB, seit 2008. Christian Sülz hatte mich damals gefragt, ob ich das machen wollte, der Mitinitiator von lyrix. Ich hatte schon vorher am Deutschen Literaturinstitut unterrichtet, und früher die Autor:innenwerkstatt an der Uni in Köln geleitet.

Hast du in den letzten Jahren Veränderungen in den Einreichungen festgestellt?
Ja, deutlich. Die Gedichte sind, das ist das Auffälligste, immer länger geworden. Sie gehen oft über eine Seite hinaus, manchmal noch über mehr. Das heißt aber nicht, dass sie sich der Prosa annähern. Sie sind formal sehr frei, auch erfindungsreich, orientieren sich aber immer weniger an festen Formen. Reime und regelmäßige Strophen konnte man in den ersten Jahren noch häufiger finden, sie sind ganz selten geworden. Wichtigstes Motivfeld ist der Körper, der eigene, der genau beobachtet wird, auch spielt das Mediale eine Rolle. Manchmal Politik. Und natürlich Beziehungen, Liebe und Freundschaft sind immer aktuell. Dagegen wird selten eine Umgebung beschrieben, eine Landschaft, eine Straße, die man wiedererkennen könnte.

Nach welchen Kriterien werden die Gedichte bewertet?
Sprachgefühl, das ist für mich das Entscheidende. Das hat etwas mit Rhythmus zu tun, aber nicht nur. Etwas Zwingendes muss in den Worten sein, warum sie so sind und nicht anders. Ich merke es daran, dass ich einen Ton höre, erkennen kann, dass ein Gedicht etwas zu sagen hat, was nicht in einer Aussage aufgeht, sondern zu einer Form geführt hat, wie auch immer die aussieht. Kürze ist für mich ein Hingucker, weil sie so selten geworden ist. Gut ist in jedem Fall, dass wir mehrere Juror:innen sind, die aus ganz verschiedenen Perspektiven schauen.

Gab es mal Streitigkeiten in der Jury? Wie habt ihr euch dann geeinigt?
Nein, es gab noch keinen Streit. Wir treffen uns ja nicht, sondern jede:r gibt seine Bewertungsliste ab, und ich weiß nicht, wie die anderen abgestimmt haben. Wenn es gleiche Punktzahl gibt, müssen wir nochmals abstimmen, aber alles bleibt anonym.

Wer sind deine liebsten Lyriker*innen?
Ich nenne erstmal die Alten: Hölderlin, Eichendorff, Stefan George, Gottfried Benn. T.S. Eliot, den ich auch übersetzt habe. Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, Paul Celan, Rolf Dieter Brinkmann und Thomas Kling waren und sind mir wichtig. Manches von Sylvia Plath. Thomas Rosenlöcher. Seamus Heaney. Adam Zagajewski. In letzter Zeit habe ich mich viel mit Rilke befasst, als schriebe er neue Sachen. Unter den Lebenden: Nancy Hünger, Henning Ziebritzki, Jan Wagner, Franz Josef Czernin, Nadja Küchenmeister und immer Jürgen Becker.

Rojin Namer (*2002) wurde als ältestes von fünf Kindern in Damaskus in Syrien geboren. Rojin bedeutet »Sonnenschein«, Namer heißt »Unsterbliche«. Seit der Ankunft in Deutschland (*2015) strebt Rojin unaufhörlich danach, in Versen Heimat zu finden. 

Rojin wurde 2020 als Gewinnerin des lyrix-Wettbewerbs ausgezeichnet und ist seit 2022 Mitglied der Lyrix-Jury.

Rojin Namer, Foto: Christin Dohmeier

Norbert Hummelt, geboren 1962 in Neuss, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er ist Lyriker, Essayist und Übersetzer. Zuletzt erschienen: Sonnengesang. Gedichte (2020), 1922 – Wunderjahr der Worte (2022, beide Luchterhand Literaturverlag) und Eselsohren. Essays zur Literatur (Nimbus Verlag 2024). Er hat T.S. Eliots Gedichtzyklen Das öde Land und Vier Quartette neu ins Deutsche übersetzt und gab die Gedichte von W.B. Yeats heraus. Für sein literarisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hölty-Preis für Lyrik (2018) und dem Rainer-Malkowski-Preis (2021).

Norbert Hummelt, Foto: Laura Baginski

Schreibe, um zu träumen.