Die lyrix-Jahresgewinner*innen 2024 stehen fest!

Zum 16. Mal kürt der Bundeswettbewerb für junge Lyrik lyrix die Jahresgewinner*innen! Wir gratulieren herzlich allen Preisträger*innen!

Aus 144 Gedichten, die im Jahr 2023 jeweils als monatsbeste aus der Gesamtzahl von 1.669 eingereichten Gedichten prämiert wurden, wählten zwei Jurys die 24 besten Texte aus.

Im Juni werden die Jahresgewinner*innen der Altersgruppe 15-20 zu einer fünftägigen Reise nach Berlin inklusive Schreibwerkstatt, professionellem Sprechtraining und weiterem literarischem Rahmenprogramm eingeladen.

Höhepunkt der Reise ist die öffentliche Preisverleihung, die am Mittwoch, 12. Juni 2024 unter der Moderation von Uljana Wolf in der Kulturbrauerei stattfindet (Beginn ist um 14 Uhr in der Knaackstraße 97, 10435 Berlin).  Alle Gäste sind herzlich willkommen!

Zur diesjährigen Jahresjury der Kategorie 10–14 Jahre gehören Jan Drees (Literaturredakteur, Deutschlandfunk), Claudia Maaß (Didaktikerin und Literaturvermittlerin), Rojin Namer (lyrix-Alumna) und Arne Rautenberg (Lyriker).
Die Jury der Kategorie 15–20 Jahre setzt sich zusammen aus Thorsten Dönges (Literarisches Colloquium Berlin), Norbert Hummelt (Lyriker und Übersetzer), Clara Leinemann (wortbau e.V.) und Daniela Seel (Lyrikerin und Verlegerin).

Die Jahresgewinner*innen in der Altersgruppe 10-14

das sieht doch falsch aus 

Banu Beinhauer aus Münster

Jahrgang 2008

in
formen
gepresst, ohne es
zu merken, manipuliert
erzogen, um der gesellschaft
dienen zu können, um in die formen
zu passen, die sie für einen ausgesucht haben

trau dich was, aber tu niemals etwas verbotenes
sei brav, aber sag nicht nur „ja“ und „amen“
schreib gute noten, aber sei kein streber
sag deine meinung, doch verletze nie jemanden
sei dünn und schlank, aber kein skelett ohne fett
sei glücklich, aber bitte lach nicht so laut
mach sport, aber nicht zu viel, als mädchen
sollte man nicht aussehen wie ein bodybuilder
gönn dir mal pausen, aber sei nicht faul
hab erfahrung im bett, aber sei keine schlampe
versink nicht in deinen Klamotten, aber zeig ja nicht
zu viel haut. das kann andere ablenken und anziehen
sei laut, aber auf keinen fall nervig und zu viel

sei leise, aber niemals langweilig und unscheinbar
geh deinen weg, aber spring nicht aus dem rahmen
bleib immer du selbst, aber pass dich an dein umfeld an

zwölf
jahre lang habe ich
all das mitgemacht, ohne es je
zu hinterfragen, ohne es zu merken
zwölf jahre, bis ich mich verloren habe und somit
auch meine form, meine form, von der ich nicht einmal weiß,
ob es überhaupt meine form gewesen ist, ich glaube nicht,
sonst hätte ich sie nicht verloren, hätte mich nicht
verloren, jetzt werde ich mich neu finden,
werde eine neue form finden, in die
ich so reinpasse, wie ich bin,
in der ich immer
platz habe
zu sein

Ich                                                                                                       bin

                                                   keine form                                    Ich bin                                                ganz

            viele                                                              formen                                      ganz                                                     

                                                                                 viele

       

 

   muster                     Ich                                                              bin                                                             wand
                                      elbar

                                                                               Ich                                bin                      

                          einfach                           nur                                                                                              ich

 

Zum Monatsthema: das sieht doch gut aus

Banu Beinhauer, *2008, aus Münster. Träumt gerne und zu viel von mehr als ihrer eigenen Welt, inklusive Existenzfragen und Chaos, sowohl tags als auch nachts. Schreibt am liebsten über alles und jede*n irgendwas, was man im entferntesten Sinne als Lyrik bezeichnen kann. Ansonsten ernährt sie sich von Erdbeeren und Kuchen und Erdbeerkuchen und mag wilde Wiesen mit einzelnen, einsamen Mohnblumen.

zombiink

Vera Esser aus Rösrath

Jahrgang 2009

Dröhnen regnet ausm weckman, kraftpolster bodenlos. Der Wecker klingelt laut, seine Schläger sind mies für mich.
Darthvadert zombie corners tür. Mein Vater lässt seine Macht raushängen in der Tür in der Ecke.
Versiffte foots du hast diggah groß. Kumpel, du hast große, dreckige Füße.
Will nur einwrapen. Ich will mich nur in der Decke wie ein Wrap einkuscheln. 

Smombie callen dida mick. Sie nennen mich schon jemanden, der nichts von seiner Umwelt mitbekommt.
Rolle straightda durch den flohr. Müde gehe ich gerade durch den Flur.
Bag on back mit sahne, gut cremig, wisat dreck. Tasche auf dem Rücken, Schaumfestiger in den Haaren, cool, sauber.
Cloudde dorch thoß strässen- düs. Gehe durch diese Straßen in den Wolken- Beeilung.

Klotz- in bunkern bunkern die dings for fermentirn, aber nofrönt. Die Schule- in Klassenzimmern lagern die Lehrer Dinge, um uns leiden zu lassen, aber sie meinen es anscheinend nicht böse.
Krotz- horstige lauchpfosten bullien unk smashies. Groß- idiotische Trottel (Lehrer) mobben uns, mit welchen man, im Gegensatz zu ihnen, etwas anfangen kann.
Kringer- peter selbs gekornert lasnigh- röönt. Zum Fremdschämen- Peter (ein Lehrer) hat letzte Nacht selbst in der Straßenecke getrunken- rennt.
Kronker- raller hr m klotz, tuts uff playya. Kranker- Trinker (Peter) hier in der Schule, tut so, als wäre er ein gutaussehender Junge, so wie wir.

Psiko. Alles verrückt.

Zurug auf teppich, sicht auf in mixxaa. Zurück in der Gegend, in Sicht auf den Beamer.
Ald SIMs saugen, ommer n opper hoch zum fleischdesign. Zu den alten Kontakten runtergehen, Oma und Opa hoch zu der OP bringen.
Alls för sa so cellfonig sein builtn för sa. Alles für sie so altmodisch machen, wie mit Smartphones- nur für sie.
Jetpackmäßig die olds Google Driven. Langsam und altmodisch wie mit Jetpack die Alten hochbringen.

Tucka. Uff. Langsam und laut. Anstrengend und nervig.

On claudsuga roaden withthi Homies, jufos algebra durch marsig oceansapart. Auf den Wolken fahren mit den Freunden, mit den Ufos schräg durch den Himmel, am Meer, also durch das, wofür ,,Oceansapart” früher stand.
Schlitten boughten nohomi no jetlack. Niemand kauft mehr teure Autos, jetzt gibt es keine unmögliche Reise.
Keine war be like oldos dünk, waff ar daaark. Es gibt keinen Krieg, wie die Alten ihn kannten, es gibt keine Waffen.
Dates rollos pä kable flo. Wir kommunizieren und tauschen uns auch ohne Kabel aus.
In nen nonvakum snacken. In den Himmel fliegen.

 

Up tür im cagey. Zu der Tür meines Hauses.
Alde peppa wutz mommeyhommey scheibenwischn. Der alten Mama, die sich um alles kümmert, winken.
Babobashen wit zombiebeef wit rutmaul. Den Vater, den Verrückten, im Streit besiegen, während er rot und zornig wird.

UHU haus leften h`bibi crush`n. Das kaputte, alte Haus verlassen und den Liebling treffen.
Amuspark no righ, ibims hartzen. Heute ist der Freizeitpark nicht richtig, ich bin es, und wir hängen ein bisschen ab.
Beymsenn in vakum, sencen, sencen, `spiriencen. Wir teleportieren uns in das Weltall, reden, reden, erfahren.
Cruisen throa kries n tuth`s. Unsere Stimmung wechselt zwischen Trauer und Weinen und Lachen und Freuen.

Basbalig boingen thu all mormeln. Wir bewegen uns schnell und so wie wir wollen zwischen allen Planeten herum.
Upn lik oldie UPS beatyfullynessy lanten, lit. Wir landen oben so wie früher der alte UPS-Lieferdienst es schön tat, sehr cool.
Audiobook FRKDS hiörn, bot semy tallenn. Wir hören ein Gespräch von Kindern, aber wir reden über das gleiche.
Wrongsen dida, wrongsen wik, nowrong dere. Sie sagen, unsere Sprache wäre falsch, wir sagen, ihre, aber eigentlich gibt es nirgends einen Fehler.
Cis spak jevri spak reih. Denn Sprache, jede Sprache, ist richtig.

 

Zum Monatsthema: bedeutet mich viel

Vera Esser, *2009, Rösrath. Findet sich selbst und ihre Gedanken in der Lyrik wieder und lässt sie in Bildern klingen. Einfach mal loslassen und losschreiben, umschreiben und auch mal verwirren- Lyrik ist die Kunst, in der sie sie selbst sein kann.

 

 

Der Spiegel

Valentina Gartke aus Essen

Jahrgang 2012

Der Spiegel, er sieht dich, wie du verschlafen aus dem Bett kommst.
Er sieht, wie du dich fertig machst.
Nicht nur du bist verschlafen, auch der Spiegel ist es.
Der Spiegel hat auch eine Familie.
Der Vater hängt groß im Flur.
Die Mutter hängt im Bad.
Der Kleine ist der Handspiegel.
Man klappt ihn auf und zu
und er sagt: „buhhh!“

 

Zum Monatsthema: ein faden führt

Valentina Gartke, *2012, Essen. Valentina lebt ihre Kreativität und Fröhlichkeit in Sprache und Kunst aus. Ihre Leidenschaft gilt außerdem dem Reiten und Tanzen.

Nur der nicht angespitzte Bleistift

Gabriel Jakob Hoffmann aus Grünwald

Jahrgang 2011

Achtung! Radiergummi! Bitte
nicht daran kauen.


Das interessiert doch kein
bekümmertes Schaf!


Nun ist er weg. Jetzt hat man
nichts, womit man all die
ganzen Fehler wegradieren
kann.
Es bleibt nur der metallische
Geschmack der
Stressknospen auf der
Papierzunge kleben.
Nur die Wut wächst auf den
Wiesen der Erde.


Alles andere wurde auch
abgegrast.


Die Wolle schert sich nicht
über die schlaflosen,
hungrigen Schafe.


Das Licht der verwobenen
Sonnenstrahlen fällt auf die
Mondlandkarte. Einmal die
Augen zu und mit einem noch
nicht angespitzten Bleistift
einen Umsiedlungspunkt zu
bestimmen…



Das ist deine
Lebensaufgabe:


Antimongraue Weiden und
silbrig glänzende
Schafsherden am Ufer des
Mare Crisium.


Du grübelst noch nach,
während die Schafe
crescendo zu den Sternen
bölken.

 

Zum Monatsthema: das sieht doch so gut aus

Gabriel Jakob Hoffmann, *2011, Grünwald. Schreibt kurze Geschichten, die manchmal zu lang werden und irgendwann zu einem Gedicht zusammenschrumpfen. Inspiriert von dem Weltraum landet er oft mit seiner Lyrik irgendwo im All. Aus seiner Sicht sind die Gedichte wie Bilder, die keine Wände und Nägel brauchen, um einfach im Kopf rumzuhängen.

News Case *75

Yami Lee aus Berlin

Jahrgang 2008

Bett so hart wie Marmorplatten
Haut am Kribbeln, Hand am Kragen
rechte Wand, weiß
linke Wand, weiß
dunkel wie die Außenwelt
Zigaretten brennen
Benzin im Magen
Hand sagt


Stengel gebroken
wavyyy
Nashorn is cool, wat geschluckt
Leipzig hat Beerbelly
ruft: kom a Kluft


Alles schweben
sehen wie Hund
ins Grabb legt
gucken
sehen
gewarten
cryen
Ich bin haha pie heureux


Poppy sieht gut
aus, Kerne come out
Está un poco loco
por siempre, mi cariño
Tropft auf Löffel
nach Brandschutzgefahr
Holes im Kopf
s,s,sleep


Meine Herren und Damen
Asexuelle und Non-Binäre
Post im Tele ist vorüber
schalten sie morgen
in 5 Jahren ein


Name,
meiner?
was, keiner
nein, ganz kurz
Zwei Null Sieben Fünf

 

Zum Monatsthema: bedeutet mich viel

Yami Lee, *2008, Berlin. Spielt E-Gitarre und schreibt eigene Alternative-Rock-Songs, gern kontrovers mit dem Finger in der Wunde und mit Herz für die Dinge, die Teens tangieren – von Freiheit bis Eifersucht, von Wut bis Melancholie. Neben der Musik lebt sich Yami auch künstlerisch kreativ in Zeichnungen (vor allem Portraits) und Videos aus.

Alle meine Worte

John Frederik Lindenberg aus Hamburg

Jahrgang 2010

Alle meine lebendigen Worte
Hab ich in eine fremde Form gegossen.
Dort sind sie schon bald
Erstarrt und tot und kalt
Für immer in sie eingeschlossen.
Und ob ich die Form zerschlage,
Sie behalten die fremde Kontur.
Sie werden nie wieder meins,
Keins!
Und bleiben trotzdem unter meiner Diktatur.
Sie sind an sich gefesselt
An ihr Form und ihr Geschicht’.
Die Worte aus dem Wortekessel
Sind nun ein Gedicht.

 

Zum Monatsthema: das sieht doch gut aus

John Frederik Lindenberg, *2010, Hamburg. Schreibt Gedichte am liebsten abends. Wenn er nicht gerade schreibt, spielt er in seiner Freizeit Fußball, Schach und Klavier. Das Wichtigste an Gedichten ist für ihn, mit wenigen Zeilen seine Leser*innen zum Nachdenken und manchmal auch zum Lachen zu bringen.

Wer zu lange abtaucht, ertrinkt

Tabea Liß aus Bottrop

Jahrgang 2008

Paddeln Wasser durchstechend zwischen Bäumen dahingleiten und Mücken verscheuchend das Kanu lenken. Mit wasserdichten Beuteln vor den Füßen und den Griff fest umklammert sich zurücklehnend Baumstämmen ausweichen. Brennende Hände, die den Rand umklammern und über Wurzeln und Steine zum Ufer klettern.

Möchtest du vielleicht mal mitkommen? Ich hab noch einen Platz im Boot und einen in meinem Kopf. Aber pass auf, zieh bitte deine Schwimmweste an, nicht dass du untergehst. Halt dich gut fest, nicht dass der Sturm dich verweht. Die Strömungen reißen dich mit sich, Vorsicht, sonst reißen sie dich auseinander. Lass dich nicht treiben, du musst paddeln, sonst schwemmst du ab.

Stille. Wasser durchnässt den Stoff, umspielt Haut, bewegt Haare, gleitet zwischen meinen Fingern hindurch. Luftblasen steigen nach oben, drängen an die Oberfläche, platzen. Strömung zerrt an mir. Lässt meine Knie auf Steine schlagen, meine Arme in Bäumen verheddern, meine Füße auf Grund treffen. Mein Herz schlägt-schlägt-schlägt wieder, es ist so ganz.

Möchtest du vielleicht mal mitkommen? Ich hab noch einen Platz frei im Fluss und einen in meinem Herzen. Kanten werden deine Haut aufkratzen und deine Lippen werden blau zittern, dafür wird die Kälte schon sorgen. Vielleicht kommst du nicht mehr raus. Du musst gegen die Strömung schwimmen und mit Wassermassen kämpfen, riskierst du das?

Wellen überrollen Landmassen, Salzwasser durchnässt den Sand. Auf dem Rücken liegend treibe ich ab, lasse mich treiben, lasse meine Gedanken treiben, gehe nicht unter. Seetang streift meine Beine und lässt mich erschrocken zurück. Es ist so mächtig, es könnte mich verschlingen.

Möchtest du vielleicht mal mitkommen? Ich hab noch einen Platz im Meer und einen in meinen Armen. Vergiss die Sonnencreme nicht, sonst verbrennst du dich, wirst verbrannt, bis deine Haut sich rosig abpellt und du drinnen bleibst. Lass dir von den Wellen nicht die Beine wegziehen, nicht den Boden unter den Füßen wegziehen, schwimm nicht zu weit raus. Schluck nicht zu viel Salzwasser, sonst wird dir schlecht, bauen wir eine Sandburg mit Wassergraben?

Wenn du am Wasser bist, bist du immer viel glücklicher, sagt Mama. Und ich kann es spüren. Es ist, als könnte ich wieder atmen, obwohl ich vorher fast erstickt bin. Das Gefühl, von Wasser umgeben zu sein, ist so intensiv, ich möchte es in diese komischen Infusionsbeutel abfüllen, die aussehen wie durchsichtige Capri-Sonne auf den Kopf gestellt, und über eine Nadel direkt in mein Blut laufen lassen. Wenn das Glücklichsein ist, bin ich süchtig und möchtest du vielleicht mal mitkommen? Ich glaube, wir brauchen beide eine Dosis Glücklichsein.

 

Zum Monatsthema: Jedes blaue Objekt eine Art brennender Dornbusch

Tabea Liß, *2008, Bottrop. Findet es komisch über sich selbst in der dritten Person zu schreiben. Häkelt, liest, spielt Gitarre und skatet in ihrer Freizeit. Ansonsten ist sie mit Kopfhörern oder auf Poetry Slams zu finden.

die Narzissen vom letzten April

Jule Maxeiner aus Hamburg

Jahrgang 2008

nur der verbrauchte geruch eines zu lang gebrauchten zimmers – ich rieche an den Narzissen vom letzten April
die kleine narbe an unseren daumen – eine brücke zwischen dir und mir
doch eine brücke ist gebrochen
und du bist verblüht
so wie die Narzissen vom letzten April.

der winter kam und du ranntest
weg von der dunkelheit weg von der kälte
und ich rannte hinterher
doch eine brücke war gebrochen, du warst blind –
jetzt steh ich hier mit dem rest von dir gefangen in mir
in der hand 
deine Narzissen vom letzten April.

 

Zum Monatsthema: eine viertelstunde versucht dein lachen zu imitieren

Jule Maxeiner, *2008, Hamburg. Träumt davon in anderen Welten zu leben und erweckt diese Träume über Gedichte und Geschichten zum Leben. Wenn sie nicht selbst schreibt, dann liest sie gerne, schaut Filme und hört Musik.

„This is no love song, this is a crane song“

Tonda Montasser aus Berlin

Jahrgang 2011

Schwester, für dich


der Nackenbereich
der Geodreiecke.

Im golden-delicious
Himmel

bewegen sich
in rechten Winkeln

wie altgriechische Kraniche
Kräne, blaugraue

Wachsamkeiten.
Gittermastkräne

Portalwippkräne,
Dreh-, Lenk-, Bock- und Brückenkräne,

Kräne auf Schienen,
Kräne auf Schiffen,

Raupen- und Goliathkräne,
mit sich drehenden Säulen

mit sich streckenden
Teleskoparmen

Kräne in x-beliebiger Höhe,
ihre Y-Achsen

Zentral im Mittelpunkt,
wie du.

Dein schlafloses Schauen
auf Trümmerstädte.

Kräne zeigen den Weg.
Schleudern Dunkelheit weg.

Meine Schwester und die Kräne
Gottheiten gleich

singen in Sonnensonaten-
Tattoos

den Einsturz alter Gebäude:
I’m A Wrecking Ball.

 

Zum Monatsthema: ein faden führt

Tonda Montasser, *2011, Berlin. Begann im ersten Corona-Lockdown zu schreiben und im zweiten zu dichten. Ausgezeichnet beim THEO 2021, 2022, 2023, beim Treffen junger Autor*innen
Seine Gedichte erschienen zuletzt bei etceterapress, Signaturen Magazin und manuskripte. Er liebt Actionwellen, Filme und Yu-Gi-Oh-Turniere, bingt alles von der Youtuberin Coldmirror und will später Schreiben studieren.

Gewächshaus

Skylar Rath aus Waren (Müritz)

Jahrgang 2009

Verlassen, um zu bleiben.
Ein verworrenes Netz aus zu vielen Fragen, mit zu wenig Antworten.
Bist du gegangen aus reinem Trotz? Aus simplem Sein?
Dein Feuerzeug noch immer auf der Tischkante im Wohnzimmer.
Hättest du nichts hinterlassen, wärst du noch hier.
Man kann nicht vollkommen verschwinden.
Nicht ohne alle Sterne vom Himmelszelt zu reißen
und sie mit vertrockneten Samen zu ersetzen.
Diese Pflanzen können im Weltraum nur ersticken.
Gehen, laufen, schleichen. Verstecken.
Jeder Versuch des Entkommens bringt mich an eine verschlossene
Tür.
Spinnweben, Staub. Leere.
Den Staub zu entfernen führt nur zu dichten Wolken.
Ich verliere dich in ihnen.
Verwelkte Blumen sprießen aus meinen Fingern.
Du hättest ihnen Wasser geben können. Ihre Sonne sein.
Ich sitze, von Blattläusen übersät, ruhig auf der Türschwelle.
Die Beine im Gewächshaus,
der Rest ertrinkt im Sommerregen.
Komm zurück, such nach mir. Finde mich noch ein Mal.

 

Zum Monatsthema: Warum gestern Nacht

Skylar Rath, *2009, Waren (Müritz). Sieht die Schönheit im Alltag und schreibt sie Seite für Seite nieder. In ihm brennt eine Passion für das Schreiben, egal ob über die fallenden Blätter im Herbst oder den Tau auf ihnen. In der Lyrik findet er sich selbst wieder und zeigt, welche Gefühle ihn plagen und wie er die Wunden mit seinen Gedichten schließt.

D-N-A

Clara Scheid aus Hamburg

Jahrgang 2009

DNA
ist nichts
sie bedeutet doch
nur deine unvermeidbare Zukunft
die dich immer
einholen wird
DNA
verbindet dich
auf ewig mit
Menschen die du sogar
manchmal vielleicht gar
nicht kennst
DNA
ist ungewiss
und auch nicht
alles was dich ausmacht
aber möglicherweise ja
irgendwie doch
DNA
bist du
und du bist
mehr als ein Haar
ein Fingerabdruck in
einer Polizeiakte
DNA
bedeutet nichts
du entscheidest selbst
wer du bist denn
da ist mehr
als deine
DNA

 

Zum Monatsthema: das sieht doch gut aus

Clara Scheid, *2008, Hamburg. Weiß nicht, was hier zu schreiben ist, weiß nichts über sich selbst und versucht doch immer wieder, übertriebene, halbwahre und irrationale Gefühle in Worte zu fassen. Frust frisst Selbstbewusstsein und er einen ganzen Kuchen an einem Tag.

Theater

Freya Werner aus Egling

Jahrgang 2008 

das Gesicht mit einer 0,28 cm dicken Farbschicht bedecken
es als professionelle Selbstbefremdung zum Allgemeingut
degradieren
Schleife mit Doppelknoten
Haare hochbinden
verknoten
nein
das sind die falschen Schuhe
(Ich weiß ja
dass du unter chronischer Logik leidest
aber versuch doch bitte
dich zusammenzureißen)
Worte als kleine Brocken aus der Identität reißen
mit ihnen jonglieren
sie anderen schenken
bis man offensichtlich ist
Lippen korrekt verziehen
Arme im richtigen Winkel zum Boden
synchron
nicht so laut stampfen

 

Zum Monatsthema: bitte wie geht vorbereiten

Freya Werner, *2008, Egling. Spielt Klavier und Geige und besucht neben der Schule Informatikvorlesungen an der LMU in München. Sie ernährt sich von Zitronenkaugummis, Evanescence und Romanen. In ihren Gedichten versucht sie, ihre Gedanken einzufangen und zu veranschaulichen.

Die Jahresgewinner*innen in der Altersgruppe 15-20

statt der vorbereitung auf eine klausur

Anastasia Averkova aus Dresden

Jahrgang 2003

wer hält die vögel im käfig und das nichtschreiben
wer gibt die antwort; es gibt einen buchstaben
o-tonisch aufgelöst und eingelegt
die bindehaut ist möglich ii
es gibt schrift, die ich brauche und gebrauche
et cetera
das hämoglobin gibt es, das geschwollene gibt es, die hemm-
schwelle auch; nur
zufällig, arbiträr und konventionell natürlich
dieser spatz ist zu früh in diesem gedicht
es gibt dinge, die müssen vorbereitet werden; für vorbereitung
vorschriften
sich bitte setzen und dabei siezen; die rolle der augen verstehen
oder sehen zumindest und ihre meinung begründen
es gibt fleischfarbene lügen, frauen, den guten wein als katalysator
gibt es auch; weinen kann ich
rühr mich nicht an, ich bin kein salat
ich kann bereiten oder nachher beschreiben
es gibt otter, die sich verloben, überloben also; nattern, die sich
ringeln
tänzerinnen und blumen im haar; monotones
lügen, die luft nur zum lachen; und ottern
eine alternative leichtigkeit gibt es nicht
ich laiche nie; ich lache ohne tüpfel und ohne i
probleme und der frieden müssen vorbereitet werden
lacht der wind, wie schreibe ich das auf
aufwachen und bewachen stilisieren
es gibt eine frau in ihrer rolle; eine schriftrolle
es gibt stürme, die lungen erobern
es gibt mich, die wieder lacht; dich, der herumlungert
wir straucheln perfektiv; verschwinden
und schwindeln ist nicht das gleiche
ich leg mich aus, ich leg mich ein; werde ich haltbar
454415–20
halt mich doch
doch du hörst nicht zu
die kirche verkuppelt; denkmal wird aufgestellt
und es gibt thesen; ton lässt sich performen
ich stilisiere den spatz einfach mit
ich alphabetisiere mich; fürs nachher hinterlasse ich
gebrochene blumen, cocktailtomaten und regeln; zusammenzu-
fügen
nur durch aufzählung

 

Zum Monatsthema: bitte wie geht vorbereiten

Anastasia Averkova, *2003, Dresden. Stabt, personifiziert sich und reimt nur in Ausnahmesituationen. Einzelne Gedichte sind veröffentlicht in der Anthologie des Treffens junger Autor*innen, dem Jahrbuch der Lyrik und dem Magazin „manuskripte“. Sie studiert Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften in Dresden.

Kassiopeia und Kallisto

Marie Bruschek aus Göttingen

Jahrgang 2003

neujahr, mondjahr, jahr des hasen;
ich suche im kalten glas des spiegels nach antworten statt fragen
in staubpartikeln, die wie sternenkonstellationen mysteriöse zufallsformen
angenommen haben
von kassiopeia über kalliope zu kallisto
bitte, wie geht vorbereiten?
auf miniröcke, gierige blicke, untergewicht?
dysmorphobie schmeckt wie heroin chic,
verweile irgendwo zwischen melancholie und ekstase, zwischen zuviel und
nicht genug, intervallfasten und kalorien zählen –
„nothing tastes as good as skinny feels“ – ein mantra aus dem mund von moss:
halleluja.
eisengeschmack verteilt sich in meinem mund, überzieht wie ein spinnennetz
meine zunge und schleimhäute,
bis ich einen teil herunterschlucke,
rote rubingroße glitzernde edelsteine, kristalle zwischen stimmbändern:
i’m a million dollar baby
braune haare bilden grob umrissene ungeheuer auf dem billigen pvc-boden
rorschachtest: ich erkenne nichts außer spliss und trockenen spitzen
augen fahren prüfend an mir herab:
hängende brüste, rillen ziehen sich wie schlangen entlang, pickelige mondkrater
warte auf meine metamorphose – nicht zum schmetterling, sondern zu samsa
perlige tränen verschleiern meine sicht, teilen die welt in farbtupfer
morning sun von hopper –
ich löse mich in einzelne pinselstriche auf, ein windzug trägt mich davon:
buntes herbstlaub im januar.

 

Zum Monatsthema: bitte wie geht vorbereiten

Marie Bruschek, *2003, Göttingen. Göttingen. Studiert in Göttingen Weltliteratur. Sie reflektiert in ihren Texten das Welterleben durch den weiblichen Körper, Identität, Melancholie, Neuanfänge und alte Schmerzen. Mythologie und Literatur sind häufige Referenzen in Gedichten und da, wo sie anfangen: als Beobachtungen und gekritzelte Notizen.

Berg in Anatolien

Yasmin Hisir aus Gießen

Jahrgang 2006

Sag mir wie die Sterne wandern
hinter deinen Ohrläppchen
Fleisch der Tulpenblüten
deine Lippen
tragen Abdrücke von Sommer und Meer
Lichtritzen auf den Unterarmen
schau ich in die Dämmerung
schwarze Innereien flattern an der Wäscheleine
Schwalben
graben Umbrüche in die Wolken
Was macht das schon?
Burgen aus Haut
wie Eis wie blaugefrorene Körper in der Nacht
deine Rippen
brechen aus den Wänden
ein Schuppentier ist die Stadt
vor deinen Füßen
aus Lichtern genietet
aus Kinderhänden
die damals Kenger wie Sand aus deinen Augen pulten.


ich kaue diese Kaugummis nachts
und weine dann
manchmal


hörst du mich?

 

Zum Monatsthema: die rakete eine dekade später

Yasmin Hisir, *2006, Gießen. Fing vor allem an zu schreiben, weil sie die Narben an ihrer Zimmerwand zählte. Weint manchmal wegen der Löchern im Himmel, aber freut sich dann wieder, weil ihr Handrücken voller Sommersprossen ist. Möchte im Leben irgendwie glücklich werden. In ihrer Freizeit setzt sie sich manch- mal in Cafés, um die Menschen zu beobachten. Sie lachen. Wie aus Wachs.

Vrüher war alles besser

Lara Hombrecher aus Eppelborn

Jahrgang 2004

Es klagôn die Menschen auf der straza
dass vrüher alles besser war

Die Sprache ist im Downfall
und nichts mehr macht noch Sinn

Es gammelt die Ausdrucksweise
yolo vor sich hin

Doch si ez alles glich wie dar
dann kûnne die Menschen nicht klagôn

Dass vrüher alles besser war

 

Zum Monatsthema: bedeutet mich viel

Lara Hombrecher, *2004, Eppelborn. Studiert Bioinformatik und versucht in ihrer Freizeit, die logischen Formeln ihres Alltages zu verstehen, alle Quantoren umzudrehen und Äquivalenzen aufzulösen. Dabei entstehen manchmal Gedichte, Kurzgeschichten und Romane.

(___)

Enna Körner aus Münster

Jahrgang 2002

in der hintersten ecke des badezimmers eine packung aus papier, nach scham rufend, sorgfältig, in
ihr, aufgereiht (___)
ich greife hinein, sehe nicht hin, möchte es hinter mich bringen, schnell, gewaltsam,
ich löse das plastik, bedacht, ein handgriff.
ziehe das band,
die baumwolle, sanft
(behalte es für dich)
ich schließe die tür des badezimmers

ich öffne sie
nun beginnt der wahre akt. es schmerzt, meine hände bewegen sich, sie kennen das, ein faden führt,
alles verkrampft –
ich trete hinaus, lächle, blicke dir in die augen, doch du weißt
nicht, wovon ich spreche,
unbeugsam

 

Zum Monatsthema: ein faden führt

Enna Körner, *2002, Münster. Studiert Psychologie. Nach einem Jahr in Berlin sucht sie in der Sprache einen Raum für Themen, die sie sprachlos stimmen. Sie versteht das Schreiben als Ausbruch. Ihre Texte verweisen auf unausgesprochene Zwischenmenschlichkeit.

 

Vermissen Tote ihre Bücher?

David Lehmann aus Köln

Jahrgang 2006

Ich stehe so oft vor deinem alten Bücherregal
und blättere durch die staubbesetzten Wälzer
weil sich die Lesezeichen in ihnen
anfühlen wie Postkarten aus dem Jenseits
da ich weiß dass sie niemand mehr berührt hat
seitdem du sie zwischen die Seiten gelegt
und deine Geschichten pausiert hast
nur um sie nie zu beenden
und darauf zu warten
dass ich dir jetzt
vorlese

 

Zum Monatsthema: briefmarkengrosse nachmittagsbissen

David Lehmann, *2006, Köln. Ist momentan Schüler, woraufhin er Philosophie studieren möchte. Wenn Menschen ihn fragen, was er denn bitte später damit machen möchte, antwortet er entweder mit „glücklich werden“, oder einem Schulterzucken. In seiner Freizeit schreibt er – von Gedichten bis Kurzgeschichten – alles auf, was ihn nachts nicht schlafen lässt, bevor es irgendwie zu Papier kommt.

Legion

Charlotte Obenaus aus Dresden

Jahrgang 2005

Wenn ich sage, ich bin selbstlos,
meine ich nicht Höflichkeit und Türaufhalten;
wenn ich sage, ich bin selbstlos,
meine ich, dass in mir hundert Andere leben.

Ich habe die Sprache meiner Mutter gestohlen
und das Schweigen meines Vaters;
beide sitzen in meinem Mund
wie Zähne ohne Wurzeln.
Ich kopiere die Fingerabdrücke
von jeder Hand, die ich halte;
auch die Lebenslinien und die Ringe
ziehe ich über wie eine zweite Haut.

Ich stand vor einem Hopper-Gemälde
und habe das Morgenlicht eingeatmet;
was mich am Leben hält,
ist künstlerische Lungenventilation.
Ich übernehme meine Art zu lieben
aus Ingeborg Bachmanns Briefen;
es geht nicht um Max oder Magnus,
sondern um das Gedicht allein.

Ich eifere den Straßenkatzen nach,
die sich auf Motorhauben wärmen;
um die Kälte fernzuhalten,
riskiere ich den Feuertod.
Ich erlerne den Stolz von allen Bergen,
deren Gipfelkreuz ich berühre;
tiefgrün und unverrückbar
schlägt das Herz in meinen Füßen.

Wenn man mich nach meinem Namen fragt,
müsste ich antworten:
„Legion, denn wir sind viele“
und selbst das habe ich aus der Bibel.

 

Zum Monatsthema: eine viertelstunde versucht dein lachen zu imitieren

Charlotte Obenaus, *2005, Dresden. Hat 2024 ihr Abitur geschrieben und nebenbei ein wenig Lyrik. Will Philosophie studieren und aus ihrer Kurzprosa Langprosa machen. Würde gern mit Ingeborg Bachmann frühstücken gehen und neben Else Lasker-Schüler im Theater sitzen.

 

Ein Apostroph hängt neben Otto Dix’ Metropolis

Felix Polianski aus Neu-Ulm

Jahrgang 2007

Festgenagelt hängt das Triptychon der Mehrlust,
hundert Jahre grellgelb anekelnde Gedanken.
Kubus hoher Decken stemmt den ewigen August,
flechtet ein Dickicht entflammter, bald verbrannter Ranken.

In einer Zeit des Nichtsmehrzuversaufens
(hörte sie jemals auf?)
Warum schaut eine auf den andren runter –
Habt ihr nicht beide Leib und Seele lang verkauft?

Wahrheits- und beinverrenkender Aristokrat im Anzug,
warum werd ich den leeren Blick nicht los?
Sag: „It don’t mean a thing if it ain’t got that swing.“
Ich weiß, er kennt das Kaki-Elend eines Zufalls vor der Tür,
die andre Seite seiner tonnenschwern Medaille.
Warum hör ich noch immer selbes Vonobenherab dafür?

Spielt das Orchester aus der Asche denn nicht schief genug?
Dass „aus der Asche“ uns nicht mehr gefällt?
Die Zeit danach war eine Zeit davor,
Warum schrägt „nie wieder“ in diese Welt,
bis einer drüber stolpert?

Blick auf Central Park und Broadway,
doch du warst niemals in New York.
Ein Bild sagt mehr als 176 Wörter.
Warum brauchst du Metropolis zu kennen,
um Metropolis‘ zu kennen?

 

Zum Monatsthema: Warum gestern Nacht

Felix Polianski, *2007, Neu-Ulm. Wüsste gerne, was er gerne wissen würde, und findet seine Inspiration beim Fischen nach Fragen in so ziemlich jedem Gewässer, stößt dabei ab und zu auf Antworten als Beifang. Am liebsten sucht er in Gesprächen und Diskussionen, findet aber meist zwischen seinen drei Tischlampen.

 

raumforderung

Katharina Scheipner aus Wimsheim

Jahrgang 2005

I.
es gibt eine unterwasserhöhle
einen zeitraum [ich atme in ihm]
er bildet sich zwischen dem moment
in dem du meinen namen vergaßt und dem herbst, in dem ich
deine schädeldecke hielt
[gegen deine kopfschmerzen]
ich betreibe seitdem schadensbegrenzung

II.
als ich es versäumte, die objektpermanenz zu erlernen, entstand
eine phase, in der
ich es mir nicht mehr erlaubte, deine augen anzusehen
es gibt eine sich auftuende lücke, einen zustand
zwischen koma und traum,
da flüstere ich meinen eigenen namen
[eine maßnahme der palliation]
trotzdem treibt mein körper an der flussoberfläche und folgt der
strömung.

III.
es gibt eine geheime tide
zwischen ebbe und flut
da verloren wir im juli in den wellen den boden unter den füßen
und als ich beinahe ertrank im rücklauf des wassers, dachte ich
an meine mutter
[sie will immer die restwärme nutzen]
du weißt, dass sich deine blutlosen konturen mir entgegenbeu-
gen, kurz bevor ich einschlafe
sie flüstern mir zu:
zwischen heute und morgen
liegt eine nacht, die es zu überstehen gilt
eine äone lang regen,
bis die eiszeit dann wiederkommt.

IV.
zwischen dir und mir
wächst eine gutartige wucherung, die es nicht wagt, sich zu
entscheiden
ich schenke dir mein leben
nenn es verzweiflungstat, wenn dich das vor allem erratischen
bewahrt
zwischen aufwachen und traumlosem schlaf
bevor die flut kommt, bevor das blut gerinnt
lege ich dir meine schlagadern aufs fernsterbrett, du kannst sie
abholen, wenn niemand hinsieht
[ihr wisst nicht, dass ich sterbe]
remission ist auch nur das stadium vor dem rezidiv, der zustand
beim ertrinken
in dem man kurz luft holen darf
auf charons fähre denke ich zwischen den ufern ein letztes mal
an dich
du weißt, dass ich sterbe.

 

Zum Monatsthema: Raum dazwischen

Katharina Scheipner, *2005, Wimsheim. Langschläfer, Frischluftfanatiker, Grammatikfetischist. Schreibt, weil sie nicht anders kann, und um der Sprachlosigkeit zu entkommen, um Worte zu finden für das Unaussprechliche und das Unausgesprochene, um Abbitte zu leisten, Tribut zu zahlen, Kollateralschaden zu vermeiden. Mag Zitronen, Ehrlichkeit, Romane, Briefe.

man sagt

Lara Schorer 

Jahrgang 2005

tun tut man nicht sagen

& wir tuns trotzdem,

wir sind die kinder,

die wo alles klein schreiben,

sagt man zumindest so,

aber man sagt allgemein viel,

z.B. Die Sprache ist im Verfall

& dann sagen die anderen, dass es nur Wandel ist

& dass Sprache schon seit jeher im Wandel ist

& dann sagen die anderen was anderes

& die anderen wieder was anderes

… 

 

& man sagt ziemlich viel

& sagt

& sagt

& sagt

& vor lauter Schwätzen

vergisst man,

dass man ja eigentlich was tun wollte,

aber tun tut man nicht sagen,

stattdessen sagen wir hohes Workpensum

mangelhafte Work-Life-Balance

& ich muss jetzt echt mal was tun,

& ich muss in Therapie

& Burnout.

 

& stattdessen geh ich in Logopädie

& rolle wieder Rrrrs

& lerne zu reden,

also nicht nur Selbstgespräche, sondern auch Small Talk und wie man Gerüchteküchen kocht und wie man Google-Suchanfragen möglichst adäquat artikuliert und wie man aufhört in Aufsätzen „ich“ zu schreiben und wie man auf Herz-Emojis reagiert und wie man aufhört zu ghosten und wie man Leute

                                                                                                                                                            blockieren kann.

 

 

 

manchmal klebe ich Freundebuchseiten zu (und reiß sie danach wieder auf)

manchmal male ich schwarze Kringel in mein Tagebuch (und kleb es danach zu)

manchmal weiß ich nicht, wie ich reden soll,

man sagt

oder

mensch sagt

oder

ich sage

vorsichtig Dinge,

die ich ewig verschwiegen habe

und spüre ungewohnte Laute aus Luft,

erste Worte fallen au(f)s Mund

wie Milchzähne,

aber ich bin noch zu unsicher,

um sie von der Welt zerreißen zu lassen,

lieber schweigen als Shitstorm

 

ich zeig meine Milchzähnesammlung nur

Leuten, die ich liebe

& lerne dabei

zu reden

 

& ich kann sagen,

diese Leute,

die dich verstehen,

die sind wichtig

& ich versuche ihnen das zu sagen

& ich meine es auch so

 

Ganz viel Liebe

an meine Lieben

< 3

                                                                                                                                                           

 

[dieser Text wurde von Chat GPT erstellt]

 

[oder?]

 

Zum Monatsthema: bedeutet mich viel

Lara Schorer, *2005. Lebt in einem kleinen Dorf umgeben von Wald. Das Schreiben ist seit ihrer Kindheit Teil von ihr. Damals verfasste sie vor allem Abenteuergeschichten und träumte davon Autorin zu werden (oder einen Zirkus mit Hühnern zu eröffnen). Heutzutage schreibt Lara über alles, was ihr in den Sinn kommt – unter anderem über fliegende Pinguine.Sie liebt Wortspiele, Spaziergänge und Kürbisse.

 

 

 

 

 

 

 

 

der geruch von alten häusern

Angelina Schülke aus Freiburg im Breisgau

Jahrgang 2003

wir sogen den muffigen geruch der wände ein bis unsere lungen kapitulierten
vor beklemmender nostalgie
kam geborgenheit kamen honigfarbene nachmittage
kam der streit

zu ostern weidenkätzchen im flur
knotige hände entfernter verwandter
raue wangen geschichten vom feld
entbehrung damit wir es besser haben
filterkaffee vermischt mit schuld

 

Zum Monatsthema: riechen Sie

Angelina Schülke, *2003, Freiburg im Breisgau. Ist verwurzelt in Wortgespinsten, Wolkenschlössern und Waldboden. Sie verirrt sich gerne in interdisziplinären Gedankengängen und studiert deshalb Liberal Arts and Sciences mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen in Rotterdam und Freiburg im Breisgau. Sammelt Dinge, einfach weil sie schön sind, ganz besondersunübersetzbare Wörter. Lieblingsbeschäftigung: Tsundoku.

aphrasisch

Fanny Marek Walger

Jahrgang 2004

und klammeilig ist verschwunden, wer auf dem Steg nach
Tauben fütterte und fast alles zum Kentern brachte. ich habe
ihm die Kurve geschenkt,
             mi aufgebrochen ch, knackte kurz mein Wernicke-Areal
                       wie Eierschalen, dann still, fragte: und du glaubst noch immer
an den Kranich.
seither gehöre ich mich nicht; aufgehört, Kleidung meines
Bruders zu tragen (einer von uns ist mir über den Kopf gewachsen);
auf-gehört: Wasser im Ohr, Trommelschlag, Herzfell
            auf den Holzsteg getastet, aus der Stadt heraus
                             in letzter Zeit geht vieles nach zurück, nur ich kann
nicht mehr zu Hause
wo Wörterwörterwörter Indikativ Iudikat- was ich nicht sagen kann,
macht mich nicht. einen Sinn im Hals und das Gefühle
und in time city liwl I hte elvae, nun werde ich
             übersetzen: in der Zeit, mit der Zeit, rechtzeitig,
                   irgendwann, den Fluss hinüber, wo gar keine
Tauben sind

 

Zum Monatsthema: bedeutet mich viel

Fanny Marek Wager, *2004, Marburg. Studiert in Marburg, lernt Sprachen und spielt Theater. Fanny Marek schreibt Lyrik und Prosa über das Denken, Vögel und Familiendinge, er war unter anderem Preisträger*in des 36. Treffens junger Autor*innen und gehörte zu den lyrix-Jahresgewinner*innen 2023. Fanny Marek Walger mag kein Rührei.

Hier findet ihr die Broschüre mit allen Preisträger*innen-Texten zum Download:

Schreibe, um zu träumen.