lyrix im Wortvent – der lyrix-Adventskalender 2025

Im Dezember haben wir bei lyrix Wortvent gefeiert. Jeden Tag haben wir ein Türchen unseres Online-Adventskalenders auf dem lyrix-Instagram-Kanal (@lyrix.wettbewerb) geöffnet, um euch mit weihnachtlich-winterlichen Zeilen unserer Jahresgewinner*innen, Ausschnitten von Monatsgewinner*innen-Gedichten und Buchtipps durch die Adventszeit zu begleiten.

Hier im Blog möchten wir die Texte noch einmal gesammelt veröffentlichen und allen danken, die mitgemacht haben! Auch die Buchtipps unserer Preisträger*innen möchten wir euch an dieser Stelle natürlich nicht vorenthalten:

Fanny Walger empfiehlt den Gedichtband „Kalbskummer / Phantomstute“ von Lucas Rijneveld (erschienen bei Suhrkamp, 2023). Anna Sophie Born hat den Band „Skizze vom Gras“ von Silke Scheuermann (Schöffling, 2014) als Buchtipp ausgewählt und Angelina Schülke „Der Winter dauerte 24 Jahre“ von Marie T. Martin (Poetenladen, 2024). Autorin und Kuratorin unseres diesjährigen Online-Adventskalenders Ivy Nuss empfiehlt „nach eden“ von Daniela Seel (Suhrkamp, 2024).

Wir wünschen viel Freude beim Lesen der Texte und allen schöne Feiertage!

märchenland 

Anna Sophie Born

puer natus / alt

Fanny Walger

was wohl geworden ist aus mir, und ob ich 
komme zu weihnachten. ich will ehrlich  
antworten, doch weiß nicht, wie das geht: 

die stimme gebrochen, fast ein tenor, und dennoch  
hört man dich in allen hohen tönen. denkst du, 
wie ich die kerze trage, ein glockenläuten singe,  

im mittelgang, im seitenschiff. mamma wird sich  
sorgen um die flamme und die haare und matsch  
hängt an den schuhspitzen so wie im hemd  

der abschied hängt, von dem ich noch nichts weiß.  
die ehrlichkeit wohnt in einem raum,  
in dem alle tiefe stimmen haben. 

ich werde jemanden auf der empore sehen, 
der nicht dort ist, und tagelang verstört sein.  
denkst du, wie mamma mich vor den toren 

hält und uns kein schnee erreicht.  

Angelina Schülke 

kalt  
alles ist kalt 
schneematsch ziert die straßen  
und die leere mein herz 
alle sind bei ihren familien 
nur ich nicht bei dir 
kalt  
so kalt 

Nicolas Scheid

winter in lappland
schkalt  
alles ist kalt 
schneematsch ziert die straßen  
und die leere mein herz 
alle sind bei ihren familien 
nur ich nicht bei dir 
kalt  
so kalt

Anastasia Averkova

zwei minuten vor dem fotoshoot 
balanciert die mum schon den goldenen teller 
die drei typis sind noch nicht da, denn verspätet 
der nicht-dad raucht ‚wie die normalen männer auch‘ 
er zählt mit ihnen schäfchen, das kindlein schreit zu laut 
für ein schläfchen und zum überhören 
schmollige wolken bedecken den himmel 

Munir Habibi

Es schneit, 
es kommt die Zeit, 
der Schnee knirscht leis’ unter den Füßen. 
Es ist nicht weit, 
den Winter zu grüßen. 

Alles ist rot, geschmückt wie Kirschen, 
Glocken klingen aus fernen Kirchen. 
Die Erde trägt ein weißes Kleid, 
die Schuhe schlittern — ach, wie weit!  

Die Erde friert, 
der Wind sie ziert, 
die Bäume krallen wie Katzen im Eis, 
der Schnee bedeckt den Boden ganz weiß. 

Es kommt die Zeit, 
wir sind bereit — 
der Winter ist unterwegs, 
Weihnachten duftet nach Keks. 

Der Geist vergangener Weihnacht

Lara Hombrecher

Die Erinnerung, alles, was bleibt 
Wärmereste in der Ecke des Zimmers 
der leichte Hauch von Lebkuchen 
Zeit vergeht schneller, als ich dich einfangen kann 
schmelzend wie Schneeflocken an meinem Fenster 

london

Angelina Schülke

auf den straßen mehr lichter als menschen  
ich ernähre mich jetzt von opern und chai 
irgendwann werden nur noch die farben bleiben  
aber in den gallerien warten die götter  
nackt auf den frühling 
und auf dem rückweg nach bloomsbury 
riecht es nach blättern und leder  
und ein bisschen nach schnee 

Tropfen 

Sarah Zeiss

Blut ist dicker als Wasser als  
Brom- 
Beergelee. 
Verdünnt sich im Regen, 
Wählt. 

Wer träumt noch von 
Glukose fixiert Lächeln in Fältchen, 
Kalorienrückfuhr und 
Ersten Küssen? 

Vor zwei Jahren vielleicht, aber nicht 
Zwischen Einmachgläsern, ganz zaghaft. 

Blick auf den Säntis

Anna Sophie Born 

Das ist das Neujahrslicht, wie es Bäume und Straßen eintaucht 
wo der Sommer den See bald erwärmt, es sind die Stellen des Sees,  
an denen die Schwäne am längsten verweilen bevor sie Ruhe auf Steinen suchen 
hier liegt die Stadt hinter Milchglas, die Algen im See 
das sind die grünen schwimmenden Inseln im Licht will ich sagen aber du sagst schaut mal, der Säntis im rötlichen Nebel  

La Vague

Charlotte Obenaus

die blaue Sofadecke wie Matisses Pinselstrich 
in La Vague, 1952, ich verlerne zu schwimmen, 
ein Winter unter Wolle und Wasser, und träume 
von August und älteren Frauen und einem Sommerhaus, 
in dem ich auf hundert Namen höre; 
sogar die Mücken könnte ich ertragen, wenn das heißt, 
dass es wieder einen Himmel gibt, sogar die Stare wenn Kirschen, 
sogar das Ohne-Dich

(Monatsgewinnerin aus dem Januar 2025) 

linie 8

Katharina Scheipner

von permafrost umschlossen an neujahr von den galapagosinseln träumen. wie man immer nur im nachhinein merkt: das war die gute zeit. das leben ereilt einen. aber frieden damit finden, nur noch ab und zu an ihn zu denken, z.b. an roten ampeln, in der straßenbahn, wenn ich mir im spiegel selbst in die augen schaue, wenn ich betrunken bin oder traurig, beim haustüraufschließen oder wenn der nachbar nachts leise gitarre spielt. eigentlich ziemlich oft, aber wenn, dann in eckigen klammern, um die stellen abzuklemmen, an denen es wehtut. eigentlich auch keinen frieden damit finden. eigentlich die zeit zurückdrehen wollen, um es anders zu machen. sich eigentlich wünschen, dass es anders wäre. 

(Ausschnitt; Monatsgewinnerin aus Januar 2025)

die grünen teile des sees

Anna Sophie Born

das ist, was der winter scharfstellt in den tagen 
des zwielichts im unterholz hier lauert ein kleines 
einsames kind wie es zittert im unterholz 
ein igel im laub. hier warten lange einsame wellen 
aufs brechen die strömung  
hier flüstern die entenkinder bei schneideneden winden 
in den grünen teilen des sees.

Ausläuten meiner Täubchen

Carolin Simon

Deine Katze riss meine Singvögel, 
zerrte sie vor deine Türschwelle. 
Verbliebenen Odem hauchend, entschlafendes Gurren 
Verkehrter Vogelzug 
Die martialische Jägerin im Schnee 

(Ausschnit; Montagsgewinnerin August 2025)

Fanny Walger

manchmal muss man sich erinnern, 
dass in diesem winter drei gimpelpaare  
in mutters garten leben. 

Angelina Schülke 

dem morgenwind ein schwall butterduft  
spitzbuben engelsaugen  
rote wangen hinter glas 
als hätte es eine zeit gegeben 
in der wir nicht durch die adventszeit rannten  
könnte ich sie in behälter füllen 
hielte sie mich den ganzen winter lang warm  

Anastasia Averkova

wir erziehen schnee zum nicht-mehr-schneien, 
‚schschsch – sei bitte leise! die welt kriselt schon laut.‘ 
wir nehmen ihm den kreisel, geben ihm einen beißring 
doch kriecht er einmal nachts zu uns, greift unsre hände 
sind wir bereit, zu verzeihen 

Kranzrand

Christine Henne

in der mitte meiner leeren zirkeltritte vielleicht, vielleicht nicht 
träum ich mir, bedenk  
eine stele in gestalt von gestern  
ein offener brief an meine liebsten 

(Ausschnitt; Monatsgewinnerin, Juli 2025)  

Zwischen den Fliesen

Tijen Inci

Ich träume von ungezogenen Linien, 
von Uhren ohne Zeiger, 
von Tagen, die  noch nicht wissen, was sie wollen, 
und von Orten, die ich nur im Internet seh 
Doch wenn ich wirklich geh – 
wer wartet dann auf meine Schritte? 
Wer rührt den Tee? 
Und wenn ich mich verlaufe? 
Vielleicht beginnt es mit leisen Füßen auf gewohntem Boden 

(Ausschnitt; Monatsgewinnerin, Juni 2025)  

Die Vorm-Vorbei-Zeichnung

Carla Westendorf

Werft weg! 
Seid kalt wie die Steine, 
ignoriert den leeren Platz, 
den Teller mit dem Foto und das Bild mit dem Baum, 
in der Stube vorm Weihnachtszimmer.  
Den Flur ohne Rollstuhl, 
verschenkt die Zeichnung vom letzten Mal vorm Vorbei.  
Bestuhlt den Platz, 
so sollt ihr den grässlichen Sommer 2024 
und kranken Winter vergessen.

(Ausschnitt; Monatsgewinnerin, Dezember 2024)