Unsere Gewinner*innen im Oktober 2025
Wettbewerb im Oktober 2025
Wir gratulieren Joachim Charpentier, Christine Henne, Yami Lee, Philipp Metzler, Finn Paul Ridinger und Linda Sensenberger! Ihr seid die Oktober-Gewinner*innen in der Altersgruppe 15–20 zum Thema „Wer reist weiß nichts von Orten“! Wir haben euch aufgefordert, Zu-Hause-Tourist*innen zu werden und ein Gedicht darüber zu schreiben, wie ihr euren Alltag neu entdeckt und plötzlich Fremdes im Vertrauten findet. Inspiration kam von unserer Monatslyrikerin Athena Farrokhzad und ihrem Gedichtausschnitt „[Mein Vater sagte]“ aus dem Band „Bleiweiß“. Wir wünschen allen viel Freude beim Lesen!
Fremde Küche, 3 Uhr nachts
Joachim Charpentier
2007
„Und selbst wenn“
Sezierte Leichen auf Keramik präsentiert
„was ich nicht für einen Augenblick glaube“
Tierhaut auf Metall gespannt
„diese Insel oder ein großer Teil davon unterjocht und hungern würde“
Götzen an den IV Vertikalen und in euren Gesprächsstrudel
„dann würde unser Königreich jenseits der Ozeane“
Hühnermenstruation zwischen euren Mundknochen
„bewaffnet und von der britischen Flotte bewacht“
Schildkrötensuppe in meiner Schizomaschine
„den Kampf weiterführen“
Sitznachbar: „KÖNNTEN SIE MIR BITTE DAS SALZ REICHEN?“
„Entschuldigen Sie, was meinen Sie?“
„bis in Gottes rechter Zeit, die Neue Welt hervortritt“
Blätter in kochendem Wasser…
„mit all ihrer Stärke und Macht zur Rettung und zur Befreiung der Alten Welt“
…mit Milch-und-Zucker drin
Hmm, lecker
Meine Hoffnung ist
ein Baum auf einem Kornfeld
in Kabelbindern
– aber warum werde ich eine Krawatte getragen haben???
Hannover, 28°
Christine Henne
2005
großmutter hat blumen gebaut, bevor es mich gab
in städten kälter als hier, mit längeren wintern, dünneren wänden
großmutter gesteht, sie will persephone
nichts böses
sie zeigt mir den schuhkarton mit werkzeug
kleine seidenquadrate, draht, nadeln
und wir diskutieren die beste art blüten zu färben
wie tinte erwerben, die nachts nicht gefriert >
großmutter säht und webt und klebt stoff
der riecht
wie ein winter, der mich versucht
aber nicht kriegt
ich presse meine lippen gegen glühendes eisen
wäge ab, wie enkelluft wörter trägt,
gib mir hundert jahre und eine schublade, eine verwucherte gleichung
x der radius, in dem man meinen wolkenschloss-frühling versteht
kristalline Visionen
Yami Lee
2008
Ich frage mich ständig
wohin die Wege führen
wenn ich mich bewege
aus dem Bequemen
mein Bett, die Sitze der U-Bahn
meine Haut rauchend still
es kratzt, es juckt mich nach neuem
wie Käfer tief unter meinen Venen
Ich nehme den Tunnel
am Ende das Licht der Kanaren
von gemäßigter Zone in die Mitte der Subtropen
mit dem Bus zur Sonne
wie Amelia Earhart
Ich bin für immer Emotionstourist
ich warte auf süße Erlösung
wenn mich nochmal die Sonne beißt
bevor mein Hirn verglüht
nehme ich den Fahrstuhl
zu einem Gulli in Tokyo
Mitten in den bunten Neonlichtern
spüre ich nach Ewigkeiten wieder Angst
Kabukichos Mädchen frieren vor Einsamkeit
die Wärme stirbt in ihren Augen
doch ich nehme Neues wahr
auf den Straßen der Stadt
vermisse die Diskokugel
in der stechenden Skyline
Ich kehre nach Hause
öffne die Tür
und finde mich wieder
auf dem Asphalt des Boxi
Z u – H a u s e . T o u r
Philipp Metzler
2008
Ich
wache
auf
auf dem TEPPICHKONTINENT,
krümel / gebirge / brotstaub /
und irgendwer singt im staubsauger: halleluja elektrolux!
steckdosen glühen
flüstern im 230-volt-dialekt
„bleib wach, reisende*r der wohnung“
lampe = sonne.
bad = ozean aus fliesen.
ich = navigator im handtuchmantel.
(da! die fliesen ordnen sich zu landkarten
von zahnpastakolonien)
im spiegel wohnt jemand,
der mich gerade beobachtet,
aber anders atmet.
kühlschrankmönch murmelt:
„Ommmmmmm… milch ist wahrheit in weißem gewand“
ich öffne ihn –
LED-polarlicht!
käseplanet!
ein apfel rotiert in seiner umlaufbahn aus langeweile.
flur = zeittunnel aus schuhen
(wer hat hier schritte abgelegt?)
die decke klebt voller gestern,
die wände summen von montag.
fenster springt auf –
das haus zieht luft
wie eine riesige lunge aus beton.
„ich bin dein universum in quadratmetern“
haucht es –
und atmet mich ein.
und ich?
ich bin kein gast.
kein besucher.
ich bin das wohnende wesen.
das haus träumt mich.
✦ WER REIST, WEISS NICHTS VON ORTEN ✦
Finn Paul Ridinger
2007
(oder: ich war nie dort, wo ich war)
noch 19 tage
00 stunden
55 minuten
07 sekunden
bis ich begreife:
ich bin kein körper in bewegung,
ich bin ein ort im umlauf.
eine umlaufbahn aus heimweh,
eine postkarte an mich selbst.
die straßen –
vibrieren wie erinnerungen,
wie schlecht kopierte träume,
wie städte,
die nur in bildern existieren.
ich gehe
und bleibe
und gehe
und bleibe
und bleibe
und bleibe.
du bist schon hier gewesen.
du wirst wiederkommen.
du warst nie weg.
ein bus fährt
und plötzlich bin ich
in paris / prag / pforzheim / parallelen.
er riecht nach
heimat und koffein,
nach flucht,
nach irgendwohin, nur nicht hierher.
eine pfütze = tokio.
ein hund = portugiesisch.
eine bäckerin = lissabon.
ich =
sprachlos,
aber nickend,
weil nicken universell ist.
wasser aus dem hahn schmeckt nach meer.
salz.
chlor.
zeit.
heimweh,
in leitungsdruck serviert.
„wo wohnst du?“
ich sag:
im übergang.
zwischen gestern und gleich.
zwischen postleitzahl & puls.
zwischen bleiben wollen
und los müssen.
meine straßen heißen anders,
wenn ich sie mit urlaubsaugen sehe.
das altglas klirrt = applaus.
die wolken hängen = wäsche über rom.
der asphalt = haut.
meine füße = fremde.
reise ist illusion.
reise ist repetition.
reise ist
eine postkarte
ohne absender.
eine richtung
ohne ziel.
ich laufe los –
und bleibe.
wer reist,
weiß nichts von orten.
wer bleibt,
weiß nichts vom gehen.
und ich?
ich bin der wind
da zwischen,
der sich manchmal
an seine richtung erinnert.
[ende ohne punkt weil nichts wirklich endet]
ans meer
Linda Sensenberger
2004
an der wohnzimmerwand grinst mutter
noch im rahmen
sonst nur dort wo es blau ist
wo wasser sand unter nägel
spült
mutter das herz wieder aus
sich für mutters weinrote vase auf zehen-
spitzen
stellen nur einen bruchteil dar
im porzellan die gesammelten
muscheln vom strand
rauschen
krakelüren in die keramik
und auch in den ohren
postkarten vom nordpol sind der südpol des kühlschranks
anders als mutter und vater
nicht mehr magneten
an der wohnzimmerwand grinst nur
mutter
hat den vater abgeschnitten
der grinst jetzt im papierkorb
weiter
geht es irgendwie immer
endlich im regal die vase erfassen
& mit ihr die sehnsucht nach
damals
hat mutter vater ins foto gezogen
in der vase sind die muscheln von
damals
hat mutter vater
ausgezogen
ist er erst urlaube später
in der vase mutters perlmutt
finden
ist leicht
schwerer als treibende körper auf
salzwasserwellen
schwappen aus augen
als die vase den händen
entgleitet
den lippen kein
laut
ist nur die rauschende gischt
scherben bringen vater jetzt auch nicht
zurück
ans meer,
bitte