Vom 09. bis 13.06.2025 durften unsere diesjährigen Preisträger*innen zu einer lyrischen Reise nach Berlin aufbrechen. In ihrem Gastbeitrag nimmt uns Preisträgerin Lilli Biller mit auf die fünf ereignisreichen Junitage in der Hauptstadt. Der Text ist auch in unserer aktuellen Anthologie XIV 2025 erschienen, die bei Interesse kostenfrei per E-Mail bestellt werden kann. Viel Freude beim Lesen!

Ich suche in meinem Handy. Suche nach Fotos, die ich zwischen dem 9. und dem 13. Juni aufgenommen habe. Ein verschwommenes Gruppenselfie auf den blauen Sitzen einer Berliner S-Bahn. Ein Foto von einem senfgelben Doppeldecker-Traditionsbus. Ein verwackeltes Bild von einem Feuerzeug, dahinter die Spree. Der Speicherplatz auf meinem Handy ist immer voll, deswegen mache ich kaum Fotos. Ich suche in der Notizapp. Zwei Notizen aus diesem Zeitraum: „in der hitze verlieren die geschlechter / ihre unterschiede“ und „in der stadt erkenne ich eine unbekanntheit, die ich vorher nicht erahnte“. Mein Handy ist keine große Hilfe, wenn ich versuche, meine Erinnerungen an die lyrix-Preisträger*innenreise 2025 hervorzurufen. Ich muss sie anders suchen, so wie ich vielleicht nach einem neuen Gedicht suche, auf Fetzen hoffend, die auftauchen und hängenbleiben, ein halber Satz, ein Bild auf den inneren Augenlidern.
Die Bonbons. Rot, gelb und grün. In dem Glas an der Hotelrezeption. Nach der Hälfte der Preisträger*innenreise hatten wir das Bonbonglas des H2 Hotels am Alexanderplatz leergegessen und mussten stattdessen heimlich durch den Eingang des benachbarten H4 Hotels gehen, an dessen Rezeption das Bonbonglas noch gefüllt war.
Klebrige Bonbons, die von Hand zu Hand wanderten. Willst du auch ein Bonbon?, war die erste Frage, die mir auf der Preisträger*innenreise gestellt wurde. Darauf folgten viele weitere Fragen: Was schreibt ihr so? Wie heißt ihr eigentlich?
Und die wichtigste Frage: Was machen wir an unserem ersten Abend in Berlin?
Pashanims Hauseingang suchen natürlich. Mit der U2 und der U8 zum Kottbusser Tor. Tags mit dem Namen des Berliner Rappers weisen uns den Weg. Wir sagen: Rap ist ja eine Form von Lyrik. Die zugänglichste und meist konsumierte vielleicht. Unsere liebsten Pashanim lines können wir auswendig, können sie aufsagen wie Gedichte: „Meine Gegend, meine Stadt, hör’ den Regen ganze Nacht / Meine Augen werden schwer, weil ich war zu lange wach” oder „Ich bin gebor’n in Berlin 2000, ich hab so viel geseh’n / Doch ich wär nirgendwo lieber aufgewachsen und will nirgends hingeh’n”.

Igendwann laufen wir zurück zur U-Bahnstation, da fährt ein Wagen mit getönten Scheiben an uns vorbei. War er das? Wir suchen die Versteckten und das Verdeckte nicht nur in den Straßen Berlins, sondern auch in Texten. Mit Birgit Kreipe lesen einige von uns im Literarischen Colloquium Berlin Gedichte, in denen das Wesentliche nicht offensichtlich ist und probieren verschiedene Techniken aus, um im Schreiben etwas zu verstecken oder aufzudecken. Wie lässt sich die Stadt entziffern, durch Graffiti (die Lyrik sein können), U-Bahnstationsnamen (aus denen Lyrik gemacht werden kann) und getönte Scheiben? Und wie entziffern wir Text? Wollen wir das überhaupt? Auch mit Uljana Wolf sprechen wir über Techniken des Verdeckens und probieren diese aus. Wir sprechen über dokumentarische Poesie, zum Beispiel über den chilenischen Lyriker Carlos Soto Román, der das Eraser-Verfahren nutzt, um Dokumente, die von der CIA nur geschwärzt veröffentlicht wurden, selbst weiter zu schwärzen.
Mit TippEx weißen wir das Gedicht „Nachtgedanken” von Heinrich Heine aus, bei manchen von uns bleiben am Ende nur noch drei, vier Wörter übrig.
Die roten Bonbons. Waren die besten, fanden wir alle, oder? Die haben wir in unseren Hosentaschen als Proviant durch Berlin getragen und an den verschiedenen Orten gegessen, an die uns Ivy, Carolin, Jessica und Google Maps geleitet haben.

Das war zum Beispiel das silent green im Wedding, in dem wir die Veranstaltung „Writing Identities” im Rahmen des Poesiefestivals Berlin besuchten und drei Lyrikerinnen zuhören konnten, die in ihrem Schreiben mit Geschlechternormen brechen. Oder das Haus für Poesie im Prenzlauer Berg, in dem unsere Preisträgerinnenlesung stattfand und wir außerdem Schüler*innen aus Berlin zuhören durften, die ihre eigenen Gedichte, die sie kurz zuvor in einem Lyrikworkshop geschrieben hatten, vorlasen.
Oder in einem senfgelben Doppeldecker-Traditionsbus, mit dem wir eine Tour durch die Stadt machten. Wenn wir an einer roten Ampel standen, rannte der Busfahrer die Treppe zur oberen Doppeldeckerhälfte, in der wir alle saßen, so schnell hoch, dass er uns eine Berlin-Quizfrage stellen, wieder runter rennen konnte, und – sobald die Ampel auf orange umstellte – schon wieder auf seinem Platz saß.
Die letzte Frage, die wir uns auf der Preisträger*innenreise stellen: Was machen wir an unserem letzten Abend in Berlin?
An die Spree setzen, direkt zwischen zwei Straßenmusikerinnen (auch Lyrikerinnen?), sodass für uns ein ganz eigenes Mash-Up entsteht. Als die Straßenmusikerinnen aufhören zu spielen, versuchen wir uns selbst an einem kollektiven Raptext. Ein Feuerzeug fällt in die Spree, wir schauen hinterher, es treibt davon, bis es unter der Brücke verschwindet. Irgendwo wird es sicher wieder auftauchen.
Die Verabschiedung am nächsten Morgen ist kurz, ich bin müde, muss schnell los. Zum Glück sind wir alle geübt darin, die Dinge kurz zu fassen, zwischen zwei Schrägstriche zu drängen und Wörter wegzulassen. Ich nehme mir noch ein paar Bonbons für den Weg mit.
Berlin ist voller Lyrik, in ihren Festivals, ihren Rapsongs, ihren Graffiti, ihrer Straßenmusik, ihrem Verdeckten und Wiederauftauchenden. Wir hätten noch lange zusammen hier bleiben können, um gemeinsam zu ver- und entschlüsseln. Bestimmt sehen wir uns wieder, spätestens auf der lyrix-Website, wo ich eure Namen über den Gedichten stehen sehe, Namen, die ich dort vielleicht schon vor der Preisträger*innenreise gelesen habe, mir aber unbekannt waren. Jetzt erzählen sie mir was, eure Namen. Entschlüsselt.
Lilli Biller wurde 2005 in Berlin geboren und studiert Literarisches Schreiben, Medien und Theater in Hildesheim. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift BELLA triste und eine der 24 lyrix-Jahresgewinner*innen 2025.