bilderschnee

[[deadline:2025-09-30 24:00:00]]

Es gibt Dinge, die man nie vergisst. Manche Momente bleiben einfach im Kopf. Oder im Herzen. Vielleicht erinnert ihr euch an ein Geräusch aus eurer Kindheit, an einen bestimmten Geruch, an einen Satz, den euch jemand gesagt hat. Es können schöne Dinge sein, aber auch traurige oder nachdenkliche. Sie sind wie kleine Spuren, die man in sich trägt, fast wie in einem Archiv der Gefühle.

Klarglasgefäße auf weißem Holzregal, Foto von Kevin Woblick auf Unsplash

Stellt euch vor, es gäbe so ein Archiv wirklich. Einen Ort, an dem alle eure Gefühle sicher aufbewahrt werden. Nichts geht verloren, nichts wird gelöscht. Dieses Archiv kann in eurem Kopf sein, in euren Gedanken, in einem Tagebuch – oder auch in einem Gedicht. Denn Gedichte können Erinnerungen festhalten. Mit Worten, die etwas spürbar machen. Auch Dinge, die man nicht ganz erklären kann.

Die norwegische Künstlerin Sissel Tolaas beschäftigt sich mit genau solchen Erinnerungen. Sie sammelt Gerüche und stellt sie in Museen aus, zum Beispiel den Duft von Geld, von Angstschweiß oder von einer bestimmten Stadt. Sie findet: Kunst kann man nicht nur sehen, sondern auch riechen. Und Riechen führt oft direkt ins Gedächtnis. Noch bevor man weiß, was man da riecht, fühlt man schon etwas. Vielleicht könnte ihr das in eure eigenen Gedichte einbauen: einen Geruch, der euch an etwas erinnert, an euer Zuhause, an eine Reise, an jemanden, den ihr vermisst.

Auch der Lyriker José F. A. Oliver arbeitet mit Erinnerungen und Gefühlen. In seinem Gedicht „2. Bildgravur“, das wir euch diesen Monat vorstellen, öffnet er ein sprachliches Foto-Album. Das Gedicht zeigt ein altes Foto: ein Kind mit Wintermantel, die Mutter in der Kälte, eine Brücke, Schnee. Doch das Bild bleibt nicht still. Es bewegt sich, im Kopf, in der Erinnerung. Worte wie „flußnebel“, „begehbares schwarz“ oder „bilderschnee“ lassen die Szene verschwimmen und gleichzeitig lebendig werden. Das Gedicht erzählt nicht einfach von der Vergangenheit, es berührt sie. Oliver beschreibt nicht nur, was auf dem Foto ist, sondern wie es sich anfühlt, es Jahre später anzuschauen. So wird aus einem Bild eine Erinnerung zum Nachfühlen.

Lasst uns diesen Monat gemeinsam Gefühle und Erinnerungen archivieren!

Eure Schreibaufgabe im September:
Was möchtet ihr für immer in eurem Gedächtnis speichern? Ein Bild, das ihr nie vergesst? Ein Moment, der euch froh, wütend oder still gemacht hat? Ein Geruch, der euch zurückwirft an einen Ort aus eurer Kindheit? Ein Ton, der in euch etwas bewegt, ohne dass ihr genau sagen könnt, warum? In eurem Kopf, eurem Herz, euren Händen – oder vielleicht auf euren Handys – gibt es Dinge, die ihr nicht einfach löschen könnt. Das sind eure Gefühlserinnerungen. Stellt euch vor, ihr könntet sie festhalten: in einem Archiv der Gefühle. Wie in einer geheimen Schatzkiste, in der nichts verloren geht. Was würdet ihr in euer Archiv der Gefühle legen? Schickt uns eure Gedichte zum Thema „bilderschnee“!

2. bildgravur

José F. A. Oliver

das foto ist flußnebel
matt. Mit tiefem beckenschnitt
der fluß. Das kind (kochtopffrisur &
wintermantel). Mutter 
(mit wollmutze schal mitte der sechziger 
jahre) im kaltland 
die balken der brücke. Süden 
mit der hand am schnee. Im album 
ein kurzer satz begehbar 
wie schwarz licht sich birgt. Heute 
die finger die nachstreicheln 
begehbares schwarz im bilderschnee 

A mi madre 

aus: José F. A. Oliver, nachtrandspuren, Suhrkamp – Berlin 2022 

Über José F. A. Oliver

José F.A. Oliver, andalusischer Herkunft, geb. 1961 in Hausach, wo der Lyriker, Essayist und Übersetzer lebt und arbeitet. Auszeichnungen, u.a. Adelbert-von-Chamisso-Preis (1997), Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg (2007), Basler Lyrikpreis (2015), Heinrich-Böll-Preis (2021), Stadtschreiber-Preis Bergen-Enkheim (2025/26) 

Jüngste Publikationen (Auswahl Deutschland): 21 Gedichte aus Istanbul, 4 Briefe und 10 Fotow:orte, Matthes & Seitz, Berlin 2016; wundgewähr, Gedichte. 2018 und In jeden Fluss mündet ein Meer, Essays, ebda. 2023. 

Oliver übersetzt aus dem Spanischen ins Deutsche und umgekehrt. Er ist Kurator des von ihm initiierten Literaturfestivals Hausacher LeseLenz (www.leselenz.eu

www.oliverjose.com 

José F. A. Oliver, Foto:  Alain Barbero

Video-Clips zum Monatsthema:
Gedichtlesung und Schreibimpulse

„2. bildgravur“

„gem:einsam“