bilderschnee

[[deadline:2025-09-30 24:00:00]]

Wie viele Fotos habt ihr auf euren Handys, die eigentlich „echt“ wirken sollten und dann doch ein bisschen gestellt sind? Kennt ihr das? Erst war da dieser magische Moment: Sommerabend am See, Sonnenstrahlen im Gesicht, alles leicht. Oder das gemeinsame Lachen beim Familiengrillen, warm und unbeschwert. Aber sobald jemand die Kamera zückt, verändert sich alles. Plötzlich guckt man anders, die Situation kippt ins Unnatürliche.

„Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ (Trailer), Roy Andersson

Also: Was ist eigentlich echt? Kann ein Bild jemals die Wahrheit eines Augenblicks einfangen? Oder braucht es Worte, um spürbar zu machen, was wirklich war? Wenn wir Fotos machen, tun wir oft so, als wären sie „authentische Schnappschüsse“. Aber stimmt das? Was ist der Unterschied zwischen einem spontanen Moment und einer Inszenierung? Wann beginnt eine Erinnerung sich zu verfälschen? Wie fühlt es sich an, wenn man etwas festhalten will, das schon längst vorbei ist?

Ein spannender Impuls dazu kommt aus dem Kino. Der schwedische Regisseur Roy Andersson dreht Filme, die so gar nichts mit Selfies oder Alltagsvideos zu tun haben und trotzdem genau in dieses Thema hineinstechen. Sein Trick: Alles wird gebaut. Kein Drehort ist echt. Jede Szene entsteht im Studio. Möbel, Licht, Farben, selbst die Gesten der Schauspieler*innen sind durchgeplant. Heraus kommen Bilder, die wie lebende Gemälde wirken: hyperreal, künstlich, absurd – und gerade dadurch unglaublich wahr. Schaut euch mal den Trailer zu „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ an: Fühlt sich das „echt“ an? Oder künstlich? Oder vielleicht beides gleichzeitig?

Auch in der Lyrik taucht dieses Spannungsfeld auf. Der deutsch-spanische Lyriker José F.A. Oliver schreibt in seinem Gedicht „2. bildgravur“, das wir euch diesen Monat vorstellen, über eingefrorene Bilder. Doch statt Stillstand entsteht beim Lesen Bewegung: Risse, Schatten, Geschichten tauchen auf.

Vielleicht kennt ihr das auch: Ihr schaut ein altes Foto an und plötzlich seht ihr mehr, als das Bild zeigt. Erinnerungen, Gefühle, vielleicht auch Dinge, die damals gar nicht sichtbar waren. Genau dieses Spiel zwischen Oberfläche und Tiefe bringt Oliver in Sprache.

Eure Schreibaufgabe im September:
Wir suchen diesen Monat eure lyrischen Momentaufnahmen! Welcher Moment in eurem Leben war so echt, dass kein Foto ihn festhalten könnte? Wann habt ihr euch auf einem Bild plötzlich fremd gefühlt? Wo verschwimmen für euch Realität und Inszenierung? Kann Sprache ehrlicher sein als ein Foto? Schickt uns eure Schnappschüsse in Worten!

2. bildgravur

José F. A. Oliver

das foto ist flußnebel
matt. Mit tiefem beckenschnitt
der fluß. Das kind (kochtopffrisur &
wintermantel). Mutter 
(mit wollmutze schal mitte der sechziger 
jahre) im kaltland 
die balken der brücke. Süden 
mit der hand am schnee. Im album 
ein kurzer satz begehbar 
wie schwarz licht sich birgt. Heute 
die finger die nachstreicheln 
begehbares schwarz im bilderschnee 

A mi madre 

aus: José F. A. Oliver, nachtrandspuren, Suhrkamp – Berlin 2022 

Über José F. A. Oliver

José F.A. Oliver, andalusischer Herkunft, geb. 1961 in Hausach, wo der Lyriker, Essayist und Übersetzer lebt und arbeitet. Auszeichnungen, u.a. Adelbert-von-Chamisso-Preis (1997), Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg (2007), Basler Lyrikpreis (2015), Heinrich-Böll-Preis (2021), Stadtschreiber-Preis Bergen-Enkheim (2025/26) 

Jüngste Publikationen (Auswahl Deutschland): 21 Gedichte aus Istanbul, 4 Briefe und 10 Fotow:orte, Matthes & Seitz, Berlin 2016; wundgewähr, Gedichte. 2018 und In jeden Fluss mündet ein Meer, Essays, ebda. 2023. 

Oliver übersetzt aus dem Spanischen ins Deutsche und umgekehrt. Er ist Kurator des von ihm initiierten Literaturfestivals Hausacher LeseLenz (www.leselenz.eu

www.oliverjose.com 

José F. A. Oliver, Foto:  Alain Barbero

Video-Clips zum Monatsthema:
Gedichtlesung und Schreibimpulse

„2. bildgravur“

„gem:einsam“