Es beginnt der Tag

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Wettbewerb im Juni 2025

TikTok und Instagram sind voll davon: „My 5am Skincare-Routine“, „How Journaling Changed My Life“, „Meal Prep Sunday“. Alles wirkt perfekt geplant, durchoptimiert – und manchmal, ganz ehrlich, auch ein bisschen überambitioniert. Aber was steckt wirklich hinter diesem Bedürfnis nach Ordnung im Alltag? Braucht man wirklich für alles einen festen Ablauf?

Foto von Aishwarya Panneerselvam auf Unsplash

Routinen geben uns Struktur. Wenn der Wecker immer zur gleichen Zeit klingelt, das Frühstück wenigstens irgendwie existiert und der Schulweg nicht zur Schnitzeljagd wird, hilft das dem Kopf, sich auf den Tag einzustellen. Gerade in stressigen Zeiten unterstützen uns feste Abläufe. Sie nehmen uns Entscheidungen ab, schaffen Verlässlichkeit und manchmal sogar ein bisschen Ruhe. Aber nicht jede*r funktioniert gleich. Was für den einen ein „Lifehack“ ist, fühlt sich für die andere wie eine Zwangsjacke an.

Wenn man denkt, dass man unbedingt einen perfekt durchgetakteten Tag braucht, um kreativ zu sein, lohnt ein Blick in das Buch Daily Rituals von Mason Currey. Darin hat der US-Autor die Alltagsgewohnheiten von über 100 Kreativen gesammelt – und die sind oft ziemlich skurril. Viele berühmte Künstler*innen hatten gar keine klassische Routine, zumindest keine, die man in einem heutigen Selbstoptimierungs-Tutorial finden würde. So hatte zum Beispiel Agatha Christie, die Autorin der Miss-Marple-Krimis, keinen festen Arbeitsplatz. Stattdessen schrieb sie mal auf dem Waschtisch im Badezimmer, mal auf dem Küchentisch. Hauptsache, die Schreibmaschine hatte Platz. Und weil sie scheinbar immer so nebenbei schrieb, bemerkten ihre Freund*innen oft gar nicht, wann sie eigentlich arbeitete. Trotzdem (oder gerade deshalb?) entstanden über 60 Kriminalromane.

Ob mit oder ohne Waschtisch – Routinen können uns helfen, uns zu organisieren und uns sicher zu fühlen. Wie sieht es aber aus, wenn unsere alltäglichen Routinen erschüttert werden und Gewissheiten plötzlich verloren gehen? Eine poetische Auseinandersetzung mit diesen Themen möchten wir euch diesen Monat mit Anja Utlers Lyrikband Es beginnt. Trauerrefrain. vorstellen. Der Band besteht aus 209 kurzen Gedichten, von denen jedes mit der Zeile „Es beginnt der Tag“ anfängt. Diese wiederkehrende Eröffnung wirkt wie ein Refrain, der die Monotonie und Unausweichlichkeit des Alltags in Zeiten der Trauer betont.

Die Entstehung des Bands ist eng mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verbunden, der für Utler eine existenzielle Krise auslöste. Die Gedichte sind in ihrer Form an das Haiku angelehnt und zeichnen sich durch eine dichte, konzentrierte Sprache aus. Durch die ständige Wiederholung des Tagesbeginns wird die Routine des Alltags zum Symbol für die Schwierigkeit, in einer veränderten Welt Halt zu finden. Anja Utler zeigt, wie vertraute Abläufe in Zeiten der Krise ihre Selbstverständlichkeit verlieren und zu einer Quelle der Belastung werden können. 2024 erhielt sie dafür mit den renommierten Peter-Huchel-Preis. Einen Auszug aus ihrem Band könnt ihr im Folgenden lesen und weiter unten auch von ihr hören

Welche Abläufe gehören fest zu eurem Tag? Gibt es Rituale, die euch motivieren oder beruhigen? Oder seid ihr eher spontan und durchbrecht gern Routinen? Welche Routinen nerven euch, welche tun euch gut? Welche werden euch vielleicht von außen aufgedrückt? Und welche bemerkt ihr gar nicht, weil ihr über sie gar nicht nachdenkt? Gab es in eurem Tagesablauf schon einmal eine richtige Erschütterung und wodurch wurde sie ausgelöst? Welche gesellschaftlichen Ereignisse haben Einfluss auf eure Routinen? Wir sind gespannt, welche Ideen euch zu dem Thema einfallen und freuen uns auf eure Gedichte über Routinen – ganz egal, ob am Waschtisch, im Bett oder in der Bahn geschrieben.

[Es beginnt der Tag]

Anja Utler

Es beginnt der Tag
bevor der letzte endet.

aus: Anja Utler, Es beginnt. Trauerrefrain, Edition Korrespondenzen, Wien 2023

Über die Lyrikerin

Anja Utler, Foto: Aleksandra Pawloff

Anja Utler
Geboren 1973 in Schwandorf, lebt in Leipzig. Auszeichnungen (u. a.): Leonce-und-Lena-Preis für Lyrik 2003, Basler Lyrikpreis 2014, Heimrad-Bäcker-Preis 2016, Thomas-Kling-Poetikdozentur 2018, Lyrikpreis der Südpfalz 2020, Ernst-Meister-Preis für Lyrik 2021, Ernst-Jandl-Preis für Lyrik 2023, Peter-Huchel-Preis 2024.


Lesung und Schreibimpulse zum Monatsthema von und mit Anja Utler