Unsere Gewinner*innen im März 2025

Unsere Gewinner*innen im März 2025

Wettbewerb im März 2025

mutter und kind mit scherenhänden

Lilli Biller

2005

nicht das wachsen
das vorwälzen drängen drücken
des haares durch die haut
die braune, den leberfleck
nicht das herausstoßen
erst der schnitt meiner mutter
mit der silbernen schere direkt
unter meinem kinn näher an der
halzschlagader, als ein messer jemals war
erst der schnitt meiner mutter
macht es zum hexenhaar
weil meine mutter eine hexe war
oder es hätte sein können

seit ich das haar habe,
fahre ich mit meinen fingern
drum herum
wie um einen
mückenstich

seit ich das haar habe,
weiß ich, dass ich eine kehle habe, wenn
ich mit den fingern über sie streiche, spüre
ich etwas wie wirbelsäule unter
der haut in meinem hals schläft ein
wirbeltier (maus, feldhamster, ratte)
mit schnurrhaar, tasthaar durch mein kinn

seit ich das haar habe,
werde ich immer öfter so
am haar durch die gegend (berlin,
leipziger umgebung, wald) gezogen
es gibt eine metzgerei, die uns
an hexenhaaren, an haken, an decken
aufhängt, sodass unsere köpfe
für immer im nacken liegen
für immer sterne schauen

mein ganzes leben ist der versuch
die hilfsmittel zu entlarven, die meinem körper
fälschlicherweise verschrieben wurden
(tampon? rasierer? bh?)
jetzt fürchte ich, dass ich für immer
silberscherenhändig sein muss, um
das haar wie meine mutter zu stutzen
weißt du noch?
wie viel arbeit das war?
wie oft wir unsere scham trainierten?
bis wir die achselhaare lang wachsen
ließen, die brustwarzen unter dünnen tshirts
aufstellten, das blut an beinen verschmierten

vor meiner mutter verstecke ich scheren
vertraue unseren händen
nicht verräterisch zu sein
nachts flüstern wir
dem haar tröstungen zu
auch du wirst bald borstig
widerständig akzeptiert sein

Die Aus(sen)sicht

Katharina Könneke

2008

Schade, nasser
Schales Wasser
Klamm klebt, still lebt,
wie Kaugummi, an Pfahl  
Ein Goldfisch treibt  
Durch den „Fressnapf “ -Polyethylen-Wald
Reibt von Zeit zu Zeit, sein Haupt  
Gegen einen Stein, „ Nemo “, kalt 20€
Staub wird Schimmel, Schimmel schlimmer
Sphaerotilus natans, Nachbar Nathan hat gesagt
Nachbar Nathan ist nie da
Nur das Schild, „Bodelschwinghs Beste Bockwurst “  
Wächst dem Fisch an die Augen  
Während die Lunge in der Leere treibt
Leiser Schlager angestimmt
Aus dem Retro-Radio siecht
in der Aussicht verschwimmt

Wie Schade! nasser
Schales Wasser
Klamm lebt, kraus klebt Haare
Nur Nathan sitzt in der Dusche
Passiv auf der Suche
kalt-faltiges, kalk-haltiges, 20€
Mäandern auf seiner Epidermis
Er kaut genüsslich seinen Herpes  
Hält seine Hand hin und wieder an die Wand
Verbleibt mit seiner Wange gedanklich  
bei der Polystyrol Handtuchstange
Das Silikon souffliert aus der Flasche, fixiert
Nur das Etikett „ Raquel-la vie belle-
repariert und reduziert“ ihn anstiert
er wartet, bis die Tropfen
Und der Hopfen, das Hoffen
Ersoffen, während er

Ballermanballaden riecht
Nathan, auf allen Vieren
im Rückblick in Shampooschlieren
verfliegt

Für H.

Charlotte Obenaus

2005

Mit dem Tag in den Abend fallen

Im Schlaf nach meinen Schwestern
rufen, als würde ich sie warnen

Vier Namen leichter sein,
seitdem immerzu frieren

Bei lila Nagelbetten an Flieder denken
und bei Flieder an dich

So selten wie möglich Adresszeilen ausfüllen

Einen Räusperzwang entwickeln,
um das Schluchzen festzuhalten

Von der Restwärme leben,
von Bildern wie diesem:

Die Sonne von hinten,
sein Ohr orange
im Licht und zarte
Äderchen–
wie Ameisen,
die einem Geheimnis folgen

Ich will bitte MEINE SCHWIMMFLÜGEL ZURÜCK

Sarah Perlov

2008

erwachsenwerden ist wie ertrinken.
kurze beine in      g l i t z e r s t e r n c h e n l e g g i n s
bin eine mopplige wurst mit
                                p a i l l e t te n s h i r t
zum drüberstreichen.
papa und mama haben mir schwimmflügel angezogen
schwimmflügel wie ein tank (guter vergleich!!!)
für pommes essen
für bei menschärgeredichnicht ausrasten
für ihhhjungssindsoekliggg
für kurze rosa jeanshose über regenbogenleggins
ich strample im wasser
eben konnte ich noch stehen aber
erwachsenwerden ist wie ertrinken
wie gut, dass ich die sChWimMflÜgEl anhabe
gerade noch
wühlten meine zehen doch noch im sandboden
luft ist                                           draußen
meine beine
zappeln
   zappeln
       zappelnerwachsenwerden ist wie ertrinken
andere im wasser
haben keine kurzen beine und sind
so wunderschön dünndünndünn
zIEHEsCHNELLdENbAUCHeIN
alle luftmoleküle draussen
wie aus meinen schwimmflügeln
ich schnappe und huste und ächze
keuche
   keuche
      keuche
weil über mir
schliesst jetzt die oberfläche
erwachsenwerden ist wie ertrinken

in meinen ohren RAUSCHT wasser
hier unten ist es langsamer und so wunderschön
r   u   h   i   g
und ich muss nicht mehr strampeln
erwachsenwerden ist wie ertrinken
und ich will bitte
MEINE SCHWIMMFLÜGEL ZURÜCK!!!!!!!!!!!!!!!!!

Ein Buch ist wie ein Mensch

Finn Ridinger

2007

Ein Buch kann brennen,
so wie ein Mensch.
Seite für Seite, Haut für Haut,
der Wind trägt die Asche fort,
und irgendwann fragt niemand mehr,
was einmal geschrieben stand.

Ein Buch kann verboten werden,
so wie ein Mensch.
Aus Regalen gerissen,
aus Gesprächen gelöscht,
die Buchstaben verblassen,
die Stimme verstummt.

Ein Buch kann verdreht werden,
so wie ein Mensch.
Einmal falsch zitiert,
einmal neu umgeschrieben,
und plötzlich sagt es Dinge,
die es nie sagen wollte.

Und ein Buch kann überleben,
so wie ein Mensch.
Versteckt in Kellern,
geschrieben auf Wände,
weitererzählt, weitergedacht –
denn Gedanken brennen nicht.

stehen, stehen, stehen, stehen

Jana Tvorogova

2004

Ich wache jeden Morgen auf wie dieser Tisch, den wir damals bei dir zusammengebaut haben
Weißt du noch? Wir haben ihn hin- und hergerückt
Aber er wollte einfach nicht richtig stehen, wollte umfallen
Also sich hinlegen, seichte auf den Boden ausstrecken
und seine Tischbeine zur Ruhe bringen
die immerzu, immerzu stehen, stehen, stehen, stehen müssen
Er wollte sich hinlegen, friedlich fallen (man könnte sogar welken sagen)
Weißt du noch? Die weiche Tischfläche wollte in sich zusammensinken
Aber wir rückten den Tisch hin und her
Dabei konnte er nicht mehr stehen, stehen, stehen, stehen
konnte auch nicht mehr seine hölzernen Knie beugen
Aber wir rückten damals den Tisch zusammen hin und her, er ächzte so furchtbar
Und heute wache ich alleine sperrig auf
Warum hast du nur darauf bestanden? Der Tisch wollte doch nicht stehen