Wettbewerb im Mai 2025
„If you love it, if you hate it – I don’t fucking care what you think“, singt Charlie XCX auf ihrem Album „Brat“ und hat damit letzten Sommer einen neuen Trend gehyped: den Brat Girl Summer. „Brat“ heißt auf Deutsch „Göre“ und genau darum geht es auch. Brat Girls rauchen, haben ein BIC-Feuerzeug, tragen ein weißes Unterhemd ohne BH und sch… auf alles. Weibliche Wut als Lifestyle-Phänomen. Es ist definitiv befreiend, Wut rauszulassen, aber nicht allen Menschen wird Wut gleichermaßen zugestanden. So ist sie besonders in westlichen Gesellschaften den Männern vorbehalten. Wütende Frauen werden nicht gern gesehen. Dabei ist Wut eine der Grundemotionen des menschlichen Körpers. Wie sieht es bei euch aus – ganz unabhängig von Gender und Geschlecht? Könnt ihr eure Wut zulassen und auch zeigen? Und was bringt euch überhaupt so richtig auf die Palme?
In dem Video „Er sagt“ der Band 1000 Robota zieht sich eine Schnecke über einen Schädel voller Gefühle. Wie ein Alien gleitet sie über einen Planeten. Wo ist die Wut zu finden? Wo sitzt das Gefühl und wie lasse ich es raus? Der Song selbst ist eine Anklage gegen das unterdrückte Gefühl und findet seinen Höhepunkt in dem Herausschreien der Tränen am Ende. Warum fällt es vielen von uns eigentlich so schwer Wut zuzulassen? Haben wir Angst vor Konflikten? Denken wir, wir werden nicht ernstgenommen, als hysterisch und schwach abgestempelt, wenn wir Wut zeigen? Oder haben wir schlichtweg gar nicht gelernt, wie man Wut auslebt?
Ungerechtigkeit, Ausnutzen, Kritik, Respektlosigkeit, Verletzung des Selbstwertgefühls, Überforderung. Das alles können Auslöser für Wut sein. Wenn wir sie immer unterdrücken, kann das zur Eskalation führen, sei es in Form von Aggression oder auch Depression. Wie aber lässt sich Wut sozialverträglich abbauen? Indem man legal beim Car-Bashing Autos zertrümmert? Oder im Wald Bäume anschreit? Vielleicht aber auch, indem man ein Gedicht schreibt? Probiert es diesen Monat aus und schickt uns euer Wut-Gedicht!
Dass zu viel Wut zerstörerisch sein kann, ist kein Geheimnis. Aber kann vielleicht auch Liebe kaputtmachen? Diesen Raum öffnet das Gedicht, das wir auch diesen Monat als Inspiration vorstellen: [augen, babies, utopien, schmetterlinge] zählt Lea Schneider als besonders zerbrechlich auf, die „wenn kaputt, sofort für immer sind“. Neben der Angst davor, etwas für immer zu zerstören, öffnet das Gedicht aber auch die Möglichkeit der Reparatur: Lässt sich mit Liebe ein „stabilisator einbau[en], ein upgrade“ oder wird mit ihr „alles zerstört (version: ewigkeit)“?
Geht diesen Monat eurer Wut auf die Spur: Was macht euch so rasend, dass ihr kaum weiterwisst? Was möchtet ihr zerstören, zerschmettern, zertreten? Wen möchtet ihr einmal so richtig anschreien? Lasst alles raus und verwandelt eure Wut in etwas Konstruktives, indem ihr einen Text darüber schreibt. Vielleicht möchtet ihr eure Wut auch sprachlich abbilden, indem ihr zum Beispiel Sätze oder Wörter abhackt oder malträtiert. Und vielleicht möchtet ihr auch davon schreiben, was durch Wut geheilt werden kann.
[augen, babies, utopien, schmetterlinge]
augen, babies, utopien, schmetterlinge: die meiste angst habe ich vor sachen, die man leicht zerstören kann. die, wenn kaputt, sofort für immer sind. ihre verletzlichkeit ist ein problem der form, deshalb kann ich nichts daran ändern. es ist ärgerlich, dass das nicht geht. dass insgesamt so wenig großes stattfindet. ich muss niesen, um mir die zeit zu vertreiben, und fühle mich unterschätzt. als sei ich nur das seltene tier und nicht die umfassende abhandlung, die ein zoologe darüber geschrieben hat; nur eine diode und nicht der schaltplan. aber ohne abstraktion keine handlungsmacht. dabei bräuchte ich bloß genug autorität, um „liebe“ zu sagen. ein sehr großes risiko, das – aus anderen gründen – belohnt wird. das entweder wirklich alles zerstört (version: ewigkeit) oder alles repariert und einen stabilisator einbaut, ein upgrade, mit dem man es auch im alltag benutzen kann.
Lea Schneider, Invasion Rückwärts, Verlagshaus Berlin, 2016
Vier Fragen an Lea Schneider
Worauf reagierst du mit deinem Gedicht?
Das Gedicht stammt aus meinem ersten Buch, „Invasion rückwärts“, in dem ich viel über Gruppen und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit nachgedacht habe. Mich hat damals schon etwas interessiert, das mich bis heute beschäftigt: Wie sehr wir alle auf die Anerkennung anderer Menschen angewiesen sind. Das macht uns fundamental verletzlich, aber es ermöglicht auch fast alle Dinge, die das Leben schön und sinnvoll machen: Freundschaft, Offenheit, Liebe, Verbundenheit, Lernen.
Weil es sich um so ein heikles Thema handelt – Verletzlichkeit – vor dem ich beim Schreiben, glaube ich, auch selbst ein wenig Angst hatte, ist es ein sehr tastendes Gedicht geworden, das sich nicht so direkt ausdrückt. Wie alle Gedichte in dem Buch ist es ein Prosagedicht, das versucht, eine Frage zu durchdenken. Dazu stellt es zu Beginn eine (erfundene) Behauptung auf und entwirft dann von dieser Behauptung aus eine Argumentation, die in sich schlüssig ist. Das Gedicht wird also eine kleine Welt mit einer eigenen, inneren Logik. Ein bisschen ist es vielleicht wie im magischen Realismus: alles ist in sich sehr logisch, aber die Logik ist eine andere als die, die wir im Alltag verwenden.
Welche Reaktion erhoffst du dir von den Rezipient*innen deines Gedichts?
Lyrik ist für mich vor allem eine Form des Nachdenkens und Nachfühlens. Ich schreibe Gedichte, um herauszufinden, was ich denke oder fühle (wobei ich glaube, dass Denken und Fühlen eigentlich gar nicht so verschieden voneinander sind). Es ist eine Form, Dinge zu verstehen oder überhaupt erst einmal zu erkennen, die ich in der Alltagssprache noch nicht sehen kann. Vielleicht auch ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn wir diese Metapher wörtlich nehmen? Wenn wir dieses Sprichwort einmal wirklich bis zum Ende denken? Darum freue ich mich immer, wenn meine Gedichte auch anderen Lust machen, zu denken – am besten auf eine verspielte, tastende, probierende Art, die nicht gleich am Ziel ankommen muss, sondern sich Zeit lassen kann.
Welchen Ratschlag möchtest du jungen Lyriker*innen geben?
Lesen! Lest, so viel wie ihr könnt, und zwar am besten nicht nur auf Deutsch, sondern in so vielen Sprachen wie möglich (oder in Übersetzung). Schreiben ist zu 80% Lesen und sich von den Texten anderer begeistern und überwältigen lassen.
Welche Lyrikaufgabe würdest du unseren Teilnehmer*innen stellen?
Schreibe ein Prosagedicht. Das heißt: Ein Gedicht, das keine Zeilenumbrüche, keine Strophen und keine Reime hat. Das ist eine sehr gute Übung, um herauszufinden, was ein Gedicht überhaupt zum Gedicht macht: Wenn es keine Zeilenumbrüche gibt, woran erkennt man dann, dass es ein Gedicht und keine Kurzgeschichte ist? Eine mögliche Antwort darauf ist zum Beispiel: Verdichtung. Das Gedicht kann assoziativ von einem Gedanken zum nächsten springen, es kann ganz unterschiedliche Bilder und Sätze zusammenstellen, es muss keine lineare Geschichte erzählen.
Probiere aus, wo die Grenzen des Gedichts verlaufen: Wie kann man im Gedicht etwas erzählen, ohne, dass aus dem Gedicht Prosa wird? Wie kann man im Gedicht über etwas nachdenken, ohne, dass aus dem Gedicht ein Essay wird?

Lea Schneider (*1989 in Köln) lebt als Lyrikerin, Essayistin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin in Berlin. Von ihr sind die Gedichtbände „Invasion rückwärts“ und „made in china“ sowie der Essay „Scham“ erschienen, außerdem hat sie zahlreiche Bücher aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzt. Sie forscht an der Freien Universität Berlin zu Verletzbarkeit, Social-Media-Literatur und Gegenwartslyrik. Aktuell arbeitet sie an einem Essayband, in dem es um das Verhältnis von Menschen zu anderen Tieren, indigene Perspektiven auf die Klimakatastrophe und das Ende der Welt geht.
Lea Schneider, Foto: privat